"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Occupy Wall Street -

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[42. Kalenderwoche]
Was das nun wird mit diesen Protesten, die am letzten Wochenende erstmals in der ganzen entwickelten Welt über die Bühne gingen, kann ich nicht sagen, aber ich sehe doch den ersten vernünftigen Ausdruck des allgemeinen Zorns gegen die Börsen- und Bankenheini, welche die Stabilität des kapitalistischen Systems derart leichtfertig aufs Spiel gesetzt haben.
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10:04 min, 7079 kB, mp3
mp3, 96 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 18.10.2011 / 15:58

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.10.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wenn ich das so sage, könnte ich die Proteste auch prokapitalistisch nennen; es ist sicher kein Zufall, dass das Wohlwollen der sozialdemokratischen Medien deutlich größer war als die Bewegung selber. Seis drum. Für einmal wissen wir tatsächlich alle, was gemeint ist. Die moralische Grundierung tut keinen Abbruch. Bloß dass da und dort schwarz vermummte Schlägertrupps genau diese moralische Legitimation zu untergraben versuchen, dünkt mich etwas seltsam. Es erinnert mich an die angeblich linksextreme Truppe, welche sich seit einigen Wochen bemüht, die Steuerungs¬ver¬bin¬dungen der Berliner S-Bahn zu sabotieren, angeblich weil über diese Netze Waffentechnik für die internationalen Kriege verschoben würden. Wenn sowas auch nur ansatzweise der politischen Linken zuzurechnen ist, dann packe ich meine Koffer und wandere aus dem Begriff Links aus. Vielleicht ende ich dann tatsächlich als Pirat auf den politischen Weltmeeren, allerdings als ein Pirat, der nicht immer Lust auf Überfall und Beute hat.

Ich habe hin und wieder ein gewisses Verständnis für die Jungs und Mädels vom Schwarzen Block, denen die üblichen Demonstrationen generell zu lahm und zu ritualisiert abgehen und ganz offensichtlich nichts zu tun haben mit einem realen Willen, irgend etwas zu verändern. Da gibt man halt ein wenig Zunder und treibt wenigstens den Adrenalinspiegel in die Höhe. Nicht, dass das mein Ding wäre, aber wie gesagt: ein gewisses Verständnis dafür habe ich durchaus. Wenn die aber nicht in der Lage sind zu erkennen, wenn es dann mal tatsächlich um die Wurst geht, dann geht eben jegliche politische Dimension verloren, dann stehen sie nicht mehr auf der linken Seite, dann sind sie nur noch Randalierer, welche letztlich das Spiel der politischen Gegner spielen. Man fühlt sich unwillkürlich erinnert an die Provokationen der Rechtsextremisten in Italien in den 1970-er Jahren bis hin zum Bombenanschlag in Bologna, bei dem über 80 Menschen starben. Daran dachte wohl nicht nur ich bei den Berichten über die Hooligans in Rom. Aber wie gesagt: Die Schwammhirne in Berlin sind vielleicht gar nicht so weit davon entfernt. Wieso sollte man denn nicht mal einen ganzen S-Bahn-Zug in die Luft jagen, wo der doch voll ist mit Leuten, die zur Arbeit fahren und somit das Schweinesystem am Leben halten? - Vor lauter Antikapitalismus und Systembekämpfung verblassen die Menschen immer mehr, um die es eigentlich gehen täte. In diesem Punkt stellen sich die Damen und Herren mit den schwarzen Masken auf die gleiche Stufe wie die Jungs mit den Nadelstreifen-Anzügen, denen geht es nämlich auch nie um die Menschen, sondern nur ums System, bloß sind denen ihre Sabotagepläne tausend Mal effizienter als die der schwarzen. Voll¬ends aber Anschläge auf die öffentlichen Infrastrukturen in Zeiten, in denen nicht der Hauch einer Notlage vorliegt wie z.B. bei der Résistance in Frankreich während dem Zweiten Weltkrieg, sind einfache Terrorakte ohne jegliche politische Konnotation. Das ist nicht lustig, und wenn ich das noch in den Kontext der brennenden Autos in Berlin stelle, dann verliere ich subito auch noch die letzte Bereitschaft, dafür irgendwelche Erklärungen oder wenigstens mildernde Umstände zu suchen.

Bei der Occupy-Wall-Street-Bewegung fehlt zunächst eine positive Forderung, wie bei vielen anderen Protestbewegungen, aber angesichts der zur Diskussion stehenden Materie erscheint es nicht besonders einfach, klare und weltweit gültige Programme zur Rettung der Bankenwelt oder der Wirtschaft oder ganzer Staaten zu stellen. Für einmal erteile ich somit Dispens, im Gegensatz zu den Demonstrationen zum Beispiel in Griechenland, wo ich nach wie vor keinen manifesten Willen zur Einrichtung eines funktionierenden, modernen, sozialdemokratischen Staatswesen sehe, und das wäre nun einfach das Minimum. Eine Volksbewegung für die Perpetuierung des bestehenden korrupten Sauhaufens macht mir rational überhaupt keinen Eindruck. Dagegen ein Massenauflauf, der schließlich dafür sorgen wird, dass der Beruf des Investment- oder überhaupt des Bankerns in Zukunft nur noch von den untersten Klassen der Gesellschaft ausgeübt wird, und zwar bei prekären Beschäftigungen zu miserablen Löhnen und unter ständiger Aufsicht durch möglichst inkompetente ehemalige Steuerberaterinnen und Steuerberater, so etwas lasse ich mir jenseits jeglicher vertiefter Analyse gefallen. Für einmal kann man seinen Revanchegelüsten freien Lauf lassen: Schleift auch alle wirtschaftswissenschaftlichen Institute jener Hochschulen, welche als eigentliche Produktionsstätten dieses Gesocks gelten müssen! Schickt das ganze Pack in die Fabriken und an die Maschinen!

Wenn das bloß gehen täte. Es gibt ja gar keine Fabriken und Maschinen mehr, welche früher den Menschen nicht nur Arbeit, sondern vor allem Lohn und Brot verschafften und sie dabei im normalen Arbeitstrott lebenslang disziplinierten, bis sie am Schluss absolut gedankenlos morgens um sieben zur Schicht kamen, um sie abends um fünf Uhr wieder zu verlassen. Das ist ja heute nur noch in Ausnahmefällen vorzufinden, und solche Privilegien wollen wir dem Bankergesocks jetzt nicht auch noch anbieten.

Leider sieht es gegenwärtig noch nicht so aus, als würden die Nadelstreifenhörnchen tatsächlich mindestens einen gesellschaftlichen Renommée-Verlust befürchten müssen. Zum Teil haben sie sich anderen Dingen zugewendet, zum Beispiel ein ehemaliger J.P.-Morgan-Manager mit Namen Carl E. Walter, der jetzt ein Buch geschrieben hat mit dem Titel «Der rote Kapitalismus: Die dünnen finanziellen Grundlagen des ausserordentlichen Aufstiegs von China». Darin wirft er den chinesischen Banken vor, dass sie für die Vergabe von Krediten auf die Befehle der kommunistischen Partei hören würden, anstatt den Haushalten Geld zur Verfügung zu stellen. Dieses Modell hat ja bekanntlich in den USA so gut funktioniert mit den Krediten für die Haushalte. Es ist wirklich umwerfend, wie diese Managertierchen immer neue Möglichkeiten erhalten, sich kreativ zu betätigen, eben zum Beispiel als Buchautoren; eher trübe dabei ist dann, dass doch immer nur der gleiche Stuss herauskommt. Immerhin braucht man nicht zu befürchten, dass der Chineserer diese Sumpffedern auch nur zur Kenntnis nehmen wird.

Wall Street besetzt oder nicht – die Probleme bleiben die gleichen. Der Mechanismus mit den Arbeitsplätzen und dem damit ausgeschütteten Lohn ist schon so oft totgesagt worden, auch von mir notabene, dass ich langsam beginne, an seine Unsterblichkeit zu glauben, aber nur unter der Bedingung, dass die Spielregeln immer wieder neu angepasst werden. Wo dies nicht der Fall ist, wie offenbar seit ein paar Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika, da sehe ich schwarz. Die berühmte schöpferische Zerstörung kann nur dann fruchtbare Effekte haben, wenn sie begleitet ist von Neuschöpfungen. Welche Form diese Neuschöpfungen annehmen, ist letztlich egal, aber am einfachsten geht es eben mit der altbekannten Form von bezahlten Arbeitsplätzen. Solange man die reichen Säcke nicht enteignen kann, muss man sie halt dazu zwingen, dass sie ihre Knete irgendwo produktiv investieren und nicht mehr verspekulieren. Produktiv ist dabei in große An- und Abführungszeichen zu setzen, denn einen produktiven Nutzen braucht man aus solchen Investitionen nicht zu ziehen, solche Anstalten würden ausschließlich der Beschäftigung all jener Menschen dienen, welche sonst kein Geld haben und auch anderweitig nicht wissen, wie sie ihre Zeit totschlagen sollen. Das ist auch ein Paradox der neuen Zeit: Eigentlich schreien die Leute ja nicht nach Arbeitsplätzen, weil sie sich ausleben wollen, sondern weil sie keine Ideen haben. Aber wie will auch ein ganzes Volk plötzlich auf Ideen kommen, wenn ihm jahrelang eingeimpft wurde, dass die adäquate Lebensform jene in einem produktiven Betrieb sei, und zwar ein Leben lang, und erst nach der Pensionierung setze die richtige Freiheit ein. Nach der Pensionierung sind allerdings die meisten Leute erst recht nicht mehr in der Lage, etwas anderes zu unternehmen, als was ihnen die zahlreichen Pensionistenvereinigungen oder andere Seniorenclubs vorschlagen. Allerdings weiß ich selber auch nicht so recht, wie in Zukunft die Ausbildung zum gänzlich autonomen Individuum aussehen wird, zu einem Individuum also, das es gar nicht mehr nötig hat, 40 Stunden in der Woche in der Fabrik und weitere 10 im Stau zu verbringen. Wenn plötzlich die Hälfte der 90 Millionen Deutschen Freiwilligenprojekte unternähme, da sähe die Natur wohl bald einmal aus wie ein Bild von Pablo Picasso in der Spätphase. Nein, wirklich: Wenn ich schon gerne anderen Leuten vor¬werfe, dass sie keine konkreten Pläne und Projekte hätten, in dieser Beziehung habe auch ich keine.
Habt ihr übrigens eine Ahnung, was aus dem Klonen geworden ist? Offenbar ist es bisher noch nicht gelungen, ein funktionstüchtiges stabiles Verfahren zu entwerfen. Beim ersten geklonten Lebewesen, dem Schafe Dolly, hat man ja noch gesagt, dass es nicht sein volles Schafsalter erreicht hätte, weil die Klonierzellen aus einem adulten Tier entnommen worden seien, also ihrerseits bereits ein gewisses Zellalter gehabt hätten, was dann offenbar die Lebenserwartung des geklonten Tieres reduziert hat. Das sind traurige Aussichten für Lebewesen wie z.B. den Wiener Opernballkönig und Bauunternehmer Richard Mörtel Lugner, der sich sicher gerne verewigen würde, was mit einem Klon vom Konzept her fast narrensicher erscheint, man muss dann bloß noch die Erbschaftssachen regeln. Aber wenn der Klon mehr oder weniger schon im Alter des Erblassers auf die Welt gestellt wird, dann ist die dynastische Wirkung ganz furchtbar gering.

Eine Frage hätte ich noch an euch: Was ist eigentlich mit dem Solarzellenproduzenten Q-Cells los? Ende 2008 stand die Aktie noch bei 100 Euro, und gegenwärtig sind es noch 50 Cent. Im Oktober wurde die Entlassung von 250 Arbeiterinnen und Arbeitern angekündigt. Dabei ist das doch eine Zukunftstechnologie? Wo hat man das denn schon gesehen, eine Zukunftstechnologie, die keine Gegenwart hat. – Na, genau betrachtet kommt das vielleicht doch häufiger vor, als man denkt.