"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Finanzen usw. -

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Dass sich die Griechen jetzt sagen, schön, jetzt können wir unsere Staatsverschuldung wieder verdoppeln, halte ich für unwahrscheinlich, das heißt, ich nehme an, sie hätten es wohl gerne, aber die EU wird das nicht zulassen, und zwar zu Recht, wobei ich nach wie vor nicht besonders klar sehe, wie Europa Griechenland restrukturieren will, ohne die letzten verbliebenen intakten Elemente der griechischen Gesellschaft auch noch zu zertrümmern.
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11:18 min, 7944 kB, mp3
mp3, 96 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 01.11.2011 / 13:07

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 01.11.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Grundsätzlich könnte man sagen, dass man nach der Entlassung von 50% des Staatspersonals einfach ein modernes Staatswesen einrichten solle mit einfachen und transparenten Abläufen und möglichst dezentralem Aufbau sowie einem simplen Steuersystem, welches dem Land die notwendigen Einnahmen verschafft, in etwa ähnlich wie die internationalen Standards minus die ganze Finanzverschuldung. Die Aufgabe erscheint nicht a priori als unlösbar, wenn auch sofort klar ist, dass damit ein radikaler Mentalitätswechsel verbunden ist. Aber dieser Mentalitätswechsel findet ohnehin statt, es geht bloß um die Richtung, die dabei eingeschlagen wird. Neben diesem Neuaufbau des Staates, könnte man eben sagen, solle dann der freie Markt dafür sorgen, dass sich die schönen Pflänzchen eines neuen Unternehmertums dort am besten entwickeln, wo die Bedürfnisse dies am ehesten unterstützen. Allerdings dürften die Mentalitätsprobleme ziemlich weit in die vermeintlich freie Marktwirtschaft hinein reichen, und es ist hier einmal am Platz, deutlich festzuhalten, dass überhaupt diese ganze freie Marktwirtschaft niemals eine Frage des freien Marktes, sondern eine eben der Mentalität ist. Wenn in einem Wirtschaftssystem die Ideologie des Äquivalententausches angereichert wird mit einem halbwegs intakten Bewusstsein der sozialen Einbettung oder der sozialen Konditionierung der Wirtschaft, dann sind die Chancen, dass daraus eine funktionierende kapitalistische Wirtschaft des sozialdemokratischen Zuschnitts entsteht, ziemlich hoch. Und wenn die Mentalität dann halt eben eine andere ist, dann sind diese Chancen eben anders. Soviel in dunkler Orakelhaftigkeit zu diesem Thema. Ich will aber doch noch anmerken, dass es nicht nur für den Griecherer, aber aus aktuellem Anlass vor allem für den Griecherer wohl am einfachsten ist, sich einer funktionierenden Marktwirtschaft zuzuwenden im Rahmen internationaler mittlerer und großer Unternehmen, und insofern will ich auch die Versuche der deutschen Politik und Wirtschaft loben, hier nicht nur Versprechungen zu machen, sondern eben auch Fabriken hochzuziehen. Ob und wie das gelingt, wird sich bald weisen.

Und noch etwas möchte ich hier wollen, nämlich auf eine dritte Option verweisen, welche ich bisher für völlig unwahrscheinlich gehalten hatte, aber manchmal ereignet sich das Unerwartete eben doch, und ich brauche dazu gar nicht auf den vorzeitigen Kälteeinbruch in Nordamerika hinzuweisen, sondern bloß auf die Tatsache, dass die internationale Hochfinanz das kapitalistische System so richtig gründlich zur Sau gemacht hat, also haben auch die Griechinnen und Griechen durchaus ihr Recht auf diese dritte Option, und die würde nämlich ganz einfach lauten: Revolution. Wenn sich die Griechinnen und Griechen aus welchen Gründen auch immer zusammenraufen, den Staat übernehmen, die Schulden für ungültig erklären und sich selber in einer Räterepublik neu konstituieren, dann soll mir das auch Recht sein, immer unter der Voraussetzung, dass dabei mindestens 50% der Staatsangestellten entlassen werden, eine Räterepublik braucht sowieso keine Staatsangestellten oder aber nur die wirklich notwendigen. Also: Sollten sich die Griechen an ein solches Unternehmen machen, dann wäre ihnen mindestens meine volle Aufmerksamkeit gewiss.

Derweil unken, onken, enken, inken und anken die Urakel, Orakel, Erakel, Irakel und Arakel zum arabischen Frühling, dass es eine List, Lest, Lust, Lost und Last ist, est, ast, ust und ost. Ich räume ja ein, dass die Machtstrukturen in Ägypten nicht derart gründlich umgekrempelt wurden, wie es auf Anhieb ausgesehen hat oder wie man es sich erhofft hat und wie es sich wohl auch die Ägypterin und der Ägypter themselves erhofft haben. Hier gibts also noch einiges zu tun. Aber das Gewieher über den Wahlsieg der Islamisten in Tunesien ist dann doch ziemlich anstrengend. Was haben die Tunesierinnen und Tunesier denn gesungen und gepfiffen, als sie ihren Ali Baba ins Pfefferland geschickt haben? Mir sind keine Rufe nach einem archaischen Gottesstaat in Erinnerung; vielmehr wollen die Jungs und Mädels Verhältnisse haben wie in Europa, ohne deswegen gleich den christlichen Glauben zu übernehmen, und das nennt die christliche Intelligenz dann umgehend Islamismus. Den gleichen Fehler haben diese politischen Schlauköpfe schon vor zehn Jahren bei Kamerad Erdogan in der Türkei begangen. Hört doch endlich auf mit solchen Scharaden. Die Moderne inklusive ihrer Attribute wie zum Beispiel einem sozialdemokratischen Rechtsstaat kann sich unter sämtlichen Religionsformen ausbreiten, sogar unter einem kommunis­tischen Kapitalismus wie in China. Kürzlich hielt ich einen Bericht eines UNO-Beratungsaus­schusses in Händen, der weltweit die Einführung sozialer Mindestsicherungsstandards einfordert unter dem Titel «Social Protection Floor»; darunter fallen zum Teil bestehende und zum Teil noch zu schaffende Systeme, welche der Realisierung der Millenniums-Ziele dienen, nämlich der Abschaffung, sagen wir mal: mindestens des Elends weltweit. Das ist Sozialdemokratie pur, und ich hoffe, dass das möglichst bald umgesetzt wird, das heißt, dass diese Initiative zum verbindlichen Standard erklärt wird und dass die betroffenen rund 20 UNO-Suborganisationen plus die Weltbank Druck zur Realisierung ausüben, das können die nämlich. Präsidentin dieses Projekts ist übrigens eine Sozialdemokratin, nämlich die ehemalige chilenische Präsidentin Michelle Bachelet. Und genau so wird das in Zukunft auch in Arabien aussehen bzw. mindestens in den arabischen Mittelmeer-Anrainer-Staaten. Nix Islamismus, was für ein Blödsinn. Moslemische Staaten und Regierungen, jawoll, aber, bloß zur Erinnerung: Diese Länder sind seit zirka vierzehnhundert Jahren islamisiert, da besteht also keine akute religiöse Verseuchungsgefahr, ganz anders als zum Beispiel bei den US-amerikanischen Evangelikalen.

Aber zurück zu den Griechinnen und Griechen, vielmehr zur Verschuldungsfrage. Wohin sie in den USA geführt hat, das sehen alle, die sich noch hinzusehen getrauen, ich zähle nicht zu diesen Abenteurern. Für Europa kann man das ungefähr so skizzieren, dass das kleine Problem mit den isländischen Schulden bei europäischen Banken noch aufgefangen werden konnte; Irland geriet mit schlechtem Timing in den Schlamassel und musste bluten bzw. blutet weiterhin; England spielt mit einer eigenen Währung ein Szenario durch, von dem ich nicht zu sagen vermag, ob es sich um ein isländisches, irländisches oder griechisches handelt. Dagegen im Euroländle sehen wir die perfekte Verlagerung einer absolut unperfekten Schuldenlast, zuerst von den Banken an die einzelnen Staaten, und als dies zu hoch wurde, an eine völlig neue Entität, den berühmten Fallschirm, ganz egal, ob gehebelt oder nicht, abgesehen vom schönen Bild eines gehebelten Fallschirms. Die Jungs und Mädels in der Politik versuchen sozusagen, die Euro-Schuldenproblematik zu transzendieren, allerdings nicht mit neuen Methoden, sondern mit den alten, aber einer neuen Superinstitution. Nun gilt für diese Superinstitution wohl das, was früher für die Banken und Staaten gegolten hat: Solange mans nicht übertreibt und solange alle Vertrauen haben in das Teil, kann das Unterfangen durchaus gelingen. Und wenn es gelingt und sich im Anschluss auch die Finanzmärkte wieder erholen, sprich aufblasen, dann kann man hier sogar Schulden abbauen, wenn dies auch völlig gegen die Natur einer jeglichen Politikerin und eines jeglichen Politikers spricht, die natürlich verstanden haben, dass Schulden noch fast mehr politische Macht verschaffen als Reserven, bloß ein bisschen anders. Aber wie auch immer: Unabhängig davon, ob der Euro-Fallschirm funktioniert, muss man es einfach immer und immer wieder bedauern, dass es nicht den Bruchteil einer europäischen Regierung mit entsprechenden europäischen Konsequenzen gibt. Die Nationalstaaten lassen nicht los, und das ist dann wieder im Interesse der Europäischen Kommission, welche eben auch keiner gesamteuropäischen Regierung unterstellt und verantwortlich ist. Eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Regierung mit der Kompetenz zur Währungsaufsicht, das ist idiotisch und hätte von Anfang an als idiotisch erkannt werden müssen – wobei ich mich hier insofern ausnehme, als ich darüber in der neutralen Schweiz gar nicht nachgedacht habe.

Was macht ihr nun daraus? – Na, nichts, will ich hoffen, vor allem kommt es weder euch noch euren Parteien noch der Regierung in den Sinn, auch nur im Ansatz in Richtung einer europäischen Regierung zu arbeiten, noch nicht einmal mit leeren Deklamationen; vielmehr benutzt ihr die Griechenland-Krise, um erst recht eure eigenen nationalen Süppchen zu kochen. Nun ist aber eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Regierung von Staaten, die zunehmend gegeneinander arbeiten und sich möglicherweise demnächst bald einmal wieder als Erzfeinde betrachten, eine kuriose Angelegenheit. Ich gehe zwar nicht davon aus, dass ihr geradeaus auf den Franzmann losgehen werdet in den nächsten 6 Monaten, aber umgekehrt begreife ich nicht, wieso ihr nicht irgendwelche Aktivitäten zur Vorbereitung einer faktischen Europaregierung trefft, das heißt erstens einen Programmentwurf schreiben, in erster Linie für die Bereiche Steuern, Subventionen und soziale Sicherung, und den dann vielleicht mal mit ein paar befreundeten Organisationen aus den Nachbarstaaten diskutieren. Muss euch denn wirklich auch das eure Bundeskanzlerin hinter die Ohren schreiben?

Sie wird das wohlweislich bleiben lassen, aber ich sage es euch aus neutraler und objektiver Sicht: Solange ihr euch nicht an diese Aufgabe macht, habt ihr schlechte Karten. Europa heißt das Teil, das eure Zukunft bedeutet, übrigens auch die unsrige; und es geht darum, dieses Europa möglichst gut einzurichten, also die bestehenden gravierenden Mängel zu beheben und vor allem die Kompetenzen so an die Europäische Union zu delegieren, dass nicht mehr eine obskure Kommission, sondern eine echte Regierung dafür zuständig ist, eine Regierung, die meinetwegen nach einem regionalen Schlüssel zusammengestellt werden kann, aber immer eine gewählte Regierung sein muss, die einem gewählten Parlament Rechenschaft schuldig ist aufgrund von zwingendem Verfassungs- und Europarecht. Das ist doch einfach, oder? – Aber zur Realisierung müssen sich die Damen und Herren Völker der europäischen Union halt mal auf solche Grundzüge einigen, also genau das Gegenteil davon tun, was im Moment im Gange ist. Es wäre nicht besonders schwierig, wie gerade gesagt; die Frage lautet bloß, was fällt sinnvollerweise in die Zuständigkeit der EU und was in jene der Nationen und dann weiter der Bundesländer oder Regionen usw. usf. Macht das doch mal einfach! Einfach einen Vorschlag formulieren! Die Parteien damit piesacken! Eine Europäische Bürgerinitiative lancieren! – Aber ihr macht es wieder nicht. Ach, ihr macht es einem im neutralen Ausland wirklich nicht leicht.