Anarchismus und Gentrifizierung in Quebec

ID 44004
 
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Gespräch mit Mathieu Houle-Courcelles (Autor) und Fred Kautz (Übersetzer) über das Buch "Auf den Spuren des Anarchismus in Quebec (1860-1960)" (Edition AV).

Das auf Englisch geführte Gespräch wird zwischendrin auf Deutsch zusammengefaßt.

Abschließend Ausschnitt aus einer Informationsveranstaltung über Gentrifizierung in Quebec-City am 14.10.2011 in Darmstadt.
Audio
01:00:00 h, 55 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 02.11.2011 / 02:13

Dateizugriffe: 1290

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: english
Redaktionsbereich: Internationales, Arbeitswelt, in anderen Sprachen, Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Walter Kuhl
Kontakt: info4(at)waltpolitik.de
Radio: dissent, Darmstadt im www
Produktionsdatum: 02.11.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Anfang Oktober hatte ich Gelegenheit, einen Buchautor kennzulernen, der sich auf die Spuren des Anarchismus in Québec gemacht hat. Ehrlich gesagt, habe ich mir schon die Frage gestellt, was denn so besonderes an einer marginalen linken Strömung im französischsprachigen Teil Kanadas sein soll. Vielleicht ist es jedoch weniger der Anarchismus selbst, also eine Theorieströmung, mit der ich nun gar nichts anfangen kann. Wesentlicher erscheint mir der Einblick, den der Autor, Mathieu Houle-Courcelles, in eine uns eher unbekannte Welt bietet, weil ich selten einen Anarchisten kennengelernt habe, der derart reflektiert und analytisch genau seine Vorstellungen zum Ausdruck bringt. Hinzu kommt, daß er Aktivist einer sozialen Bewegung in Québec-City ist, die gegen die dortige Variante von Armutspolitik und Gentrifizierung kämpft und durchaus den einen oder anderen Erfolg hat erringen können.

Mathieu Houle-Courcelles sprach zudem am 14. Oktober im Linkstreff Georg Fröba über dieses "Comité populaire Saint-Jean-Baptiste" in Québec City und seinen Kampf gegen Immobilienspekulanten und für selbstbestimmten und bezahlbaren Wohnraum. Mein Gespräch mit dem Autoren und Aktivisten über sein Buch und die damit verbundene Geschichte des Klassenkampfes in Québec bildet jedoch den Schwerpunkt des nun folgenden Podcasts. Am Mikrofon ist Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

Mathieu Houle-Courcelles war einige Tage zu Gast bei Fred Kautz, der Mathieus Buch “Auf den Spuren des Anarchismus in Québec (1860–1960)” aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt hatte. Dieses Buch ist zur Buchmesse im Verlag Edition AV erschienen, und so lag die Frage nahe, welche Gründe den Autoren bewogen haben, nach Darmstadt zu kommen. Wir haben das Gespräch auf Englisch geführt, wobei Fred Kautz dort helfend eingegriffen hat, wo mein Schulenglisch an seine Vokabelgrenzen gestoßen ist.

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Mathieu sprach darüber, daß er nicht nur sein Buch einem deutschen Publikum vorstellen, sondern auch Kontakte knüpfen wolle, um das gegenseitige Lernen voneinander zu befördern. In seinem Buch habe er sich auf Québec konzentriert, weil ansonsten die Beschäftigung mit der Geschichte des kanadischen Anarchismus zu ausufernd geworden wäre. Allerdings hatte gerade der québécische Anarchismus eine ganz eigene Ausstrahlung auf die Klassenkämpfe in Kanada und zudem im Nordosten der USA. – Wenn wir über die Geschichte des Anarchismus in Québec reden, stellt sich die Frage nach ihrer heutigen Relevanz, aber auch der Einordnung in eine lange Geschichte sozialer Bewegungen in Québec.

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Mathieu stellt fest, daß die Anarchistinnen und Anarchisten in Québec geradezu das Rad immer wieder neu erfinden mußten, zu stark waren die Brüche im Lauf der Geschichte. Gerade die beiden Weltkriege unterbrachen die Klassenkämpfe, in denen der Anarchismus Fuß gefaßt hatte, hinzu kam eine Regierungspolitik der Provinz Québec vor allem in den 30er Jahren, die mitunter als klerikal-faschistisch bezeichnet wird. Für Mathieu besonders spannend war die Selbstorganisierung der Immigrantinnen und Immigranten aus Europa, vor allem der jüdischen, die aus Osteuropa und Rußland stammten. Diese gründeten nicht nur die erste Gewerkschaft in der Textilindustrie, sondern demonstrierten als erste in Kanada am 1. Mai.

Die Ironie der Geschichte liegt darin, daß die vor allem jüdischen Textilfabrikanten dachten, mit den jiddisch sprechenden und in Kanada marginalisierten Jüdinnen und Juden leichtes Spiel zu haben. Doch diese Ausbeutungsstrategie führte dazu, daß es gerade die jüdischen Immigrantinnen und Immigranten waren, die sich wehrten, sich dabei jedoch der Unterstützung der schon einheimischeren Arbeiterinnen und Arbeiter versichern mußten, um nicht niedergeknüppelt zu werden. – Wenn Mathieu von einer geradezu klerikal-faschistischen Regierung in Québec spricht, unterschied sich diese Politik von der im übrigen Kanada?

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Mathieu sieht den Unterschied zwischen Québec und dem übrigen Kanada darin, daß die Katholische Kirche in Québec eine besondere Rolle spielte. Sie war mit den konservativsten Kreisen verbunden und konnte sich durch reaktionäre Priester auffrischen, die vor den säkularen Bestrebungen im Europa des 19. Jahrhunderts geflohen waren. Seit den 60er Jahren spielt die Katholische Kirche in Québec jedoch eine eher progressive Rolle in sozialen Fragen. Insofern erstaunt es nicht, daß für Anarchistinnen und Anarchisten diese Kirche zum Hauptfeind wurde.

Das war anders für die jüdischen Immigrantinnen und Immigranten. Diese verbündeten sich mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten anderer Communities und übernahmen hierbei als verbindendes Moment auch deren Eßgewohnheiten. Jüdinnen und Juden aßen Schweinefleisch und grenzten sich somit von ihrem jüdischen Klassenfeind ab. Das beginnende 20. Jahrhundert bedeutete jedoch auch den Aufstieg einer nationalistischen jüdischen Bewegung, des Zionismus. Dies hatte erhebliche Auswirkungen auf das Klassenbewußtsein jüdischer Arbeiterinnen und Arbeiter. – Kommen wir zu den sozialen Bewegungen der 60er Jahre. Inwieweit waren diese nationalistisch geprügt?

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In den 50er und 60er Jahren modernisierte sich Québec. Doch die Menschen waren auch von der liberalen Regierung enttäuscht und identifizierten sich mit den antikolonialen Kämpfen in Algerien und Vietnam. Während die damaligen Anarchistinnen und Anarchisten durch die nationalistischen Untertöne aufgemischt wurden, konnten die ML-Gruppen davon profitieren. Zum Mainstream geriet jedoch die sozialdemokratisch-nationalistische Parti Québécois. Doch seit den 90er Jahren lassen sich in Kanada auch wieder anarchistische Gruppen finden. – Fred Kautz hat das Buch über die Spuren des Anarchismus in Québec übersetzt. Was hat ihn hierzu bewogen, was fand er daran spannend?

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Mathieu mußte gleich widersprechen. Als Anarchist kann er sich nicht als Kanadier bezeichnen, obwohl er dort geboren wurde und dort auch lebt. Mathieu weist zurecht auf die Kultur der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung hin. Jedenfalls, Fred Kautz fand dieses Buch gut geeignet, einem deutschen Publikum Kanada näherzubringen. Fasziniert hat ihn, daß die Underdogs immer wieder rebellierten, obwohl das Ende der Revolte abzusehen war. Immer wieder waren es neue Einwanderer und Immigrantinnen, die den sozialen Bewegungen einen Schub gaben.

Mathieu war es hier wichtig, auch über den Tellerrand anarchistischen Einflusses hinauszugehen, um den heutigen Menschen in Québec Momente des Widerstandes in Erinnerung zu rufen, die lange verschüttet waren und die er erst durch seine eigenen Forschungen wiederentdecken konnte, wie etwa den Aufstand der Fischer gegen die Handelsmonopole in der Gaspésie im Herbst 1909. Hier wird bei allem objektiv-wissenschaftlichem Anspruch eine subjektive Grundhaltung des Autors deutlich, nämlich die Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten, die sich selbstverständlich in der Art der Darstellung niederschlägt. – Beim Lesen seines Buches stellt sich dennoch den Eindruck ein, als sei viel Papier beschrieben worden, viel geredet worden, etwa wenn Emma Goldmann mehrfach nach Montréal kam …

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Emma Goldamm kam häufig nach Montréal und Toronto. Aber gab es auch anarchistische Aktivitäten, die über das Schreiben und Reden hinausgingen? Mathieu weist darauf hin, daß die Klassenkämpfe in Québec ohne die Anarchistinnen und Anarchisten schwer denkbar waren, erst recht, weil sie zu denen gehörten, welche die reformistische Gewerkschaftsbewegung immer wieder anstubsten. Die Katholische Kirche als Wahrerin kapitalistischer Friedhofsruhe war daher besonders aufgebracht. – Bleibt die Frage, was haben uns die Anarchistinnen und Anarchsiten, über die Mathieu geschrieben hat, an Erfahrungen, Einsichten, Spuren hinterlassen?

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Für Mathieu ist die wichtigste Lehre aus dieser Geschichte, daß es Immigrantinnen und Immigranten gewesen sind, welche soziale Bewegungen in Québec vorangebracht haben. Sie waren radikal, sie strebten nach direkter Demokratie, sie waren aber keine Sektiererinnen oder standen abseits. Daß die erste Übersetzung seines Buches auf Deutsch und nicht auf Englisch erschienen ist, hat ihn sehr gefreut, weil er auf den Brückenschlag hofft, auf ein Interesse des alten Europa an sozialen Bewegungen jenseits des Atlantiks. Umgekehrt, war es ja auch das Interesse der Anarchistinnen und Anarchisten an linker, sozialistischer Politik in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das recht ausgeprägt war.

Als er das Buch geschrieben hat, hat ihn die Neugier vorangetrieben und nicht wissenschaftlicher Ehrgeiz. Andererseits wollte er auch keine heroische Geschichte erzählen, diese nicht durch eine rosarote Brille betrachten. Rezensenten in Kanada wiesen daher auf eine fehlende akademische Unterfütterung hin, was an der Intention des Buches jedoch vollkommen vorbeiging. Mathieu wollte eine verloren gegangene Geschichte wiederfinden, sie aufschrieben und sie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang bringen; und nicht irgendwelche wissenschaftlichen Lorbeeren ernten. Aber er hat daraus gelernt. Er studiert Geschichte, um bei seinem nächsten Buch diesem akademischen Dünkel zu entgehen. Denn sein nächstes Projekt handelt von einer der wichtigen Gewerkschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der One Big Union.

Das hier vorliegende Buch trägt den Titel “Auf den Spuren des Anarchismus in Quebec (1860-1960)”. Es ist mit seinen 179 Seiten in deutscher Übersetzung im Verlag Edition AV zum Preis von 16 Euro herausgekommen.

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Einige Tage nach dem Interview mit Mathieu Houle-Courcelles und Fred Kautz gab es im Linkstreff Georg Fröba eine Informationsveranstaltung zu Gentrifizierung in Québec-City. Diese Gentrifizierung ist ein Begriff aus der Stadtsoziologie und beschreibt Verdrängungsprozesse im urbanen Umfeld zugunsten einer Schicht von alten und neuen Reichen, die sich bestimmte Quartiere für ihre eigenen Wellness-Zwecke herrichten. Im lokalen Darmstädter Raum können wir derartige Prozesse bei der Umwandlung der Postsiedlung am Südbahnhof zugunsten einer Verdichtungszone mit grünem Image beobachten, bei der die Mieten in die Höhe schnellen. Ähnliches wird uns wohl auf den Konversionsflächen wiederbegegnen.

Mathieu stellte das "Comité populaire Saint-Jean-Baptiste" vor, was ich hier angesichts der vorgeschrittenen Zeit unterlasse. Wer mehr darüber wissen will, was er über den mitunter erfolgreichen Kampf um bezahlbaren Wohnraum berichtet hat, kann auf der Webseite des Komitees – www.compop.net – mehr dazu erfahren. Womit Mathieu und das Komitee in Québec-City zu tun haben, mag ein Ausschnitt aus der Diskussion verdeutlichen.

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Ich danke Mathieu Houle-Courcelles für das Interview und Fred Kautz für den Kontakt und die Übersetzung. Am Mikrofon war Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.