Buchrezension: Jan Brandt - "Gegen die Welt"

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Eine Jugend in der Provinz – kein neues Thema für einen Roman, und dennoch umgibt das Debütwerk des deutschen Schriftstellers Jan Brandt etwas besonderes. „Gegen die Welt“ heißt der Roman, ist über 900 Seiten dick und landete kurz nach Erscheinen im letzten Jahr gleich auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis. Gelobt wurde der Autor für seine Fähigkeit, eine komplette Parallelwelt in diesem Buch entstehen zu lassen und den Alltag im Deutschland vor 1989 gekonnt abzubilden. Doch reicht das für einen Wälzer diesen Ausmaßes? Tobias Lindemann hat „Gegen die Welt“ gelesen.
Audio
06:20 min, 5936 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 07.02.2012 / 18:26

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Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Kultur
Entstehung

AutorInnen: Tobias Lindemann
Radio: RadioZ, Nürnberg im www
Produktionsdatum: 07.02.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Skript:

Die 80er Jahre – nun haben sie auch die Gegenwartsliteratur hierzulande erreicht. Im Musikbereich sind die sie ja schon seit dem Jahrtausendwechsel tonangebend und führen dazu, dass der aktuelle Pop nicht mehr aus der Nostalgia-Schleife herausfindet. Ist „Gegen die Welt“, das 920 Seiten dicke Debüt von Jan Brandt, ein Anzeichen dafür, dass es der Literatur bald genauso ergehen könnte?

Immerhin ist „Gegen die Welt“ kein DDR-Roman, von denen ja momentan gefühlt drei pro Woche erscheinen. Doch auch Jan Brandt erzählt uns aus einer abgelegenen, uns fremd erscheinenden Welt, nämlich aus dem ostfriesischen Kleinstädtchen Jericho. Hier, in unmittelbarer Nähe zur Nordsee, kommen die Trends der Popkultur in den 80er Jahren etwas verspätet an. Punkrock und Hip Hop, ja, davon hat man schon mal gehört, Heavy Metal ist aber viel wichtiger und überhaupt ist Fußball immer noch das Größte. Die Dorfjugend ist entweder im Schützenverein oder liefert sich mit auffrisierten Motorrollern Duelle auf der Landstraße zum Deich. Mutti guckt gerne Dallas, ansonsten Einöde rundum und wer es nicht mehr erträgt, geht zum Studieren nach Münster, Bremen oder Hamburg. In dieser recht engen Welt ist es eine Bürde, der Sohn des im ganzen Städtchen bekannten Drogeriebesitzers zu sein. Entsprechend ist die Situation für Daniel Kuper, dem Helden von Jan Brandts Roman, alles andere als einfach. Wohin er als Kind oder Jugendlicher auch kommt, er wird auf Schritt und Tritt beobachtet. Und zu Hause hängt ständig das Damoklesschwert über ihm, da sein Verhalten in der Öffentlichkeit ja geschäftsschädigend sein könnte. Doch dummerweise gerät gerade der introvertierte Daniel ohne eigenes Verschulden in abwegige Situationen und zieht ungewollt Aufmerksamkeit auf sich. Als in einem Maisfeld neben Daniels Schule plötzlich ein angeblich von Außerirdischen hinterlassener Kornkreis auftaucht, ist er es, der von der Polizei bewusstlos an Ort und Stelle aufgefunden wird. Und als einige Jahre später plötzlich Nazi-Parolen die Hauswände entlang der Hauptstraße zieren, ist Daniel der einzige, der etwas dagegen unternehmen will – und plötzlich von allen verdächtigt wird, es selbst gewesen zu sein. Der ständige Knatsch mit dem rüpeligen Sohn des Großbauunternehmers und rechtslastigen Bürgermeisterkandidaten der Freien Wähler sorgt für zusätzlichen Ärger. Doch Daniel ist kein echter Rebell, er reagiert auf diese Anfeindungen apathisch bis passiv. Er lebt in einer Fantasiewelt zwischen Science Fiction-Romanen und Modellbaukästen und reagiert sowohl auf Interesse von Seiten des weiblichen Geschlechts als auch auf die Kontaktaufnahme seines Schulbanknachbarn Volker mit Desinteresse.

Soweit der Grundplot. Natürlich bieten 920 Seiten genügend Raum, um viele Nebenstränge und Figuren in die Handlung einzuweben. Das reicht in „Gegen die Welt“ von den abstrusen Weltverschwörungstheorien, die Daniels hochbegabter Schulfreund Stefan hegt, über die Versuche von Vater Kuper, die Konkurrenz in Gestalt des Drogerie-Discounters Schlecker durch Brandstiftung in die Flucht zu schlagen, bis zum Schicksal des von seinen Schulkameraden terrorisierten Peter Peters, der viel zu früh ums Leben kommen wird. Überhaupt, für einen Roman, der zu weiten Teilen unter Kindern und Jugendlichen spielt, wird auffällig viel gestorben in diesem Buch. Geschichten von Verrat, Betrug und Selbstüberschätzung sind es, die sich hier zu existentiellen Tragödien wandeln. Jan Brandt schildert diese Welt in einem leichten, ja fast teilnahmslosen Stil – leider einen Tick zu distanziert, um einen als Leser zu packen. Überhaupt konnte sich der Autor in der zehn Jahre währenden Schreibarbeit an diesem Buch wohl nicht ganz entscheiden, was er nun möchte. Die 80er-Jahre-Popkultur-Folklore, die reichlich eingestreut wird, verrät die Nähe zur Popliteratur. Doch Popliteratur ist weder nostalgisch noch historisierend, dieses Buch ist aber beides. Mit Zitaten von Goethe bis Uwe Johnson versucht Brandt gleichzeitig, Ernsthaftigkeit und Tiefe zu erzeugen. Seine Figuren sind aber so blass gezeichnet, dass sie tatsächlich mehrere hundert Seiten brauchen, um ein bisschen Charakter und Farbe zu bekommen. Glücklicherweise verzichtet der Autor fast komplett auf norddeutsche Volkstümlichkeit, tut sich aber schwer, Wahrheiten zu finden, die über das provinzielle Geschehen hinaus deuten. Das gelingt ihm nur bedingt am Romanende mit einem kurzen, überraschenden Schwenk in die Gegenwart, der dem Text nochmals eine neue Perspektive hinzuzufügen versucht.

Es ist müßig, sich nach der Lektüre zu wünschen, was dieses Buch alles hätte sein können. Eine ernsthafte Konkurrenz zu den gigantomanischen Romanprojekten von Roberto Bolano und David Foster Wallace? Zu bieder und platt. Ein deutscher Sidekick für die Gesellschaftsportraits eines Jonathan Franzen? Zu nostalgisch und speziell. Ein Versuch, den Fans von anspruchsvollen TV-Serien das Medium Buch mal wieder schmackhaft zu machen? Zu farblos und unterkomplex. „Gegen die Welt“ ist also ein leicht zu lesendes, unterhaltsames, insgesamt etwas lang geratenes Buch, das vielleicht auch gar nicht mehr sein will als das. Vielleicht hätte dem Roman etwas mehr Zündstoff gut getan. Zum Beispiel, in dem sein Hauptprotagonist Daniel, der Rebell wider Willen, etwas mehr Widerstand zeigen würde gegen diese Welt, die ihm so zusetzt.