Working Poor - von Amerika lernen heißt siegen lernen

ID 4675
 
Billiglohn im Dienstleistungssektor unter den Aspekten der Agenda 2010
((Anmoderation:
Wo finden wir die Vorbilder für die Agenda 2010? In den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort hat das Umverteilen von unten nach oben Verhältnisse geschaffen, die wir hier gewiss nicht haben wollen. Götz Rubisch von Radio Corax in Halle fand auch ein Lied zum Thema.))
Audio
09:25 min, 4415 kB, mp3
mp3, 64 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 28.07.2003 / 19:26

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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Götz Rubisch, Radio Corax
Radio: corax, Halle im www
Produktionsdatum: 28.07.2003
keine Linzenz
Skript
Welche Zeitung wir in diesen Tagen auch aufschlagen oder welchen Fernsehkanal wir einschalten: Überall fehlt Geld. Zu jeder Gelegenheit ereilen uns Nachrichten vom Streichkonzert, vom Rotstift, vom Finanzloch. Der Staat mag nicht mehr.
Welchen Bedingungen mit diesem Geschrei der Boden bereitet werden soll, zu welchen Folgen die Umsetzung der Agenda 2010 führen muss, wird uns in einem Buch über die Arbeitenden Armen in der US-amerikanischen Gesellschaft, die "Working Poor", gezeigt. Die Essayistin Barbara Ehrenreich schildert in ihrem Report "Nickel And Dimed", unter welchen Umständen Menschen ihr Dasein fristen müssen, denen jede staatliche Unterstützung entzogen worden ist. Die Autorin hat im Selbstversuch recherchiert, auf welche Weise Menschen durch's Leben kommen, die gezwungen sind, für Stundenlöhne zu arbeiten, mit denen nicht einmal die elementarsten Lebenshaltungskosten abgedeckt werden können.
Vor fast zehn Jahren beschloss die Clinton-Administration gravierende Kürzungen in der staatlichen Daseinsvorsorge. Der schlagartige Wegfall von Unterstützungsleistungen für die Armen des Landes trieb Millionen ungelernter Kräfte auf den Arbeitsmarkt des privaten Dienstleistungssektors. Dort werden auf Grund des Überangebotes an Arbeitskräften Stundenlöhne gezahlt, die unter den amtlich ermittelten Lebenshaltungskosten liegen. Wer hier arbeiten muss, kommt nur über die Runden, wenn er zwei oder gar drei Jobs gleichzeitig annimmt. Um auch nur satt zu essen zu haben, gleich welcher Qualität, hat ein Arbeitstag vierzehn Stunden. Dafür gibt es keine Krankenversicherung und gewohnt wird bestenfalls zu dritt oder eben im Wohnwagen.
Wie es sich lebt, wenn alleinstehende Mütter oder chronisch Kranke, Schulabbrecher oder Einwanderer und all jene, denen das tägliche bisschen Glück im Leben vorenthalten bleibt, als Reinigungskraft, Servierhilfe oder Regaleinräumer arbeiten müssen, ohne auch nur die Miete für eine kleine Wohnung bezahlen zu können, darüber werden Lieder geschrieben.
Die Sängerin Lucinda Williams hat für ihr letztes Album einen Song aufgenommen, dessen Worte die Situation der Working Poor eindrucksvoll thematisieren.

((Weibliche Stimme 1))
Als ich dich das letzte Mal sah, hattest du dreckige Fingernägel.
Deine Augen waren blutunterlaufen, dein Gesicht so bleich.
Und dann hast du gesagt:

((Weibliche Stimme 2))
Nur noch Scheiße, dieses Leben.
Nichts haut mehr hin, absolut nichts.
Kein Geld kommt mehr rein, um die Rechnungen zu bezahlen.
Mein Mann hat nur noch die Nadel im Arm.
Das hat er sich in Vietnam aufgelesen, manchmal hilft's ihm gegen die bösen Gedanken.
Aber ich finde gar keinen Schlaf mehr, seit ich immer zu Hause bin.
Eine Weile habe ich in der Chemiebude gearbeitet,
jetzt werde ich meinen Husten auch nicht mehr los.
Warmes Wasser gibt's nicht mehr, auch die Heizung haben sie abgestellt.
Kannst du mir nicht 'n bisschen leihen, dass ich mir was zu essen kaufen kann?

((Weibliche Stimme 1))
Seit fast einer Woche stehst du schon hier an der Ecke.
Wie hältst du das nur aus?

((Weibliche Stimme 2))
Sie wollen sehen, was sie machen können, haben sie gesagt.
Mir 'ne Wohnung besorgen und so.
Als sie uns rausgeworfen haben, sollten wir 'n Reihenhaus kriegen
mit fließend Wasser, haben sie gesagt.

((Weibliche Stimme 1))
Aber wie sollst du das deiner Mutter beibringen, dieser alten Navajo-Frau?

((Weibliche Stimme 2))
Mein amerikanischer Traum wäre fast in Erfüllung gegangen.
Aber nichts von dem, was sie versprochen haben, ist bei mir angekommen.
Ich glaub' schon, dass man's schaffen kann,
dass das hinhaut mit dem amerikanischen Traum.
Nur für mich läuft hier nichts mehr, nichts haut mehr hin.
Nur noch Scheiße, dieses Leben.

Noch sind die geschilderten Verhältnisse nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar. Heute ist der Großteil deutscher Arbeitssuchender noch hervorragend ausgebildet und besitzt ein ausgeprägtes Gespür für den Wert der eigenen Arbeitskraft. Noch kann man hier dem staatlichen Arbeitsvermittler, der einem motivierten Facharbeiter nur Dienstleistungjobs anbieten will, die Umrisse des eigenen Lebensentwurfs einleuchtend beschreiben. Auch dann, wenn er schon von "Zumutbarkeit" faselt, kann man ihm auseinander setzen, warum man sich dies oder jenes nicht zumuten lassen will. Der Verweis auf die eigene Würde hilft - solange man sich der eigenen Würde bewusst ist. Sie zu bewahren, kann lebenswichtig werden - und eine Agenda 2010 scheitern lassen.