"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Joachim Gauck -

ID 47183
 
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Ich weiß nicht, wie das Wetter bei euch war, aber bei uns hat es am Sonntag zu regnen begonnen. Ich nehme aber so oder so an, dass Joachim Gauck nicht das Wetter meinte mit dem erleichtert zufriedenen Initialgruß vor dem Bundestag: «Was für ein schöner Sonntag!», sondern, yo, Mann: was oder wen? – Da gibt es exakt zwei Möglichkeiten: ein schöner Sonntag für Joachim Gauck oder aber ein schöner Sonntag für die Bundesrepublik Deutschland, weil Joachim Gauck zum Bundespräsidenten gewählt wurde.
Audio
10:44 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 20.03.2012 / 09:53

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 20.03.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Jorge Semprún hat einen Roman geschrieben mit dem Titel «Was für ein schöner Sonntag»; es geht dabei um den Alltag im KZ Buchenwald und auch um den Beitrag der kommunistischen Häftlinge zur Lagerorganisation und schließlich um die KZs in allen Ländern und insbesondere um den stalinistischen Gulag, was aus dem Mund des Entstasifizierers Gauck selbstverständlich als Anspielung auf den DDR-Staat zu hören ist. Auf dieser Ebene schafft es euer neuer Bundespräsident gleich mit dem ersten Satz seines neuen Amtes, die DDR mit den Nazis gleichzustellen, was angesichts seines beruflichen Hintergrundes und einer zum Teil etwas krausen Gedankenproduktion nicht besonders überraschen muss. Man soll das Zitat auch nicht auf die Goldwaage legen, Gauck ging wohl davon aus, dass nicht alle Deutschen Jorge Semprún kennen. «Was für ein schöner Sonntag» war somit ein Wink mit dem Taschentuch oder dem Zaunpfahl für die Eingeweihten, und für die übrigen, unter die ich mich nun sofort wieder einreihen will, war es einfach die Aussage: Was für ein Glück hat doch dieses deutsche Deutschland, einen Bundespräsidenten wie mich zu haben!

Vielleicht stimmt das ja sogar. Die Auf- oder Abarbeitung der Stasi-Vergangenheit in den neuen Bundesländern mag manchmal übertrieben und manchmal im Gegenteil zu wenig gründlich gewesen sein, aber erledigt werden musste sie nun einmal, und dafür steht nun einmal der Gauck wie kein anderer, und wenn er dafür nun an der Spitze eures Staatswesens prangt, so hat dies durchaus seine Logik – Höhepunkt, Finale, Tusch, und damit ist die Sache dann doch hoffentlich endgültig erledigt. Bloß eines habt ihr damit nicht gewonnen, nämlich einen Staatsmann. Gauck ist ein eitler Prediger, der seiner eigenen Rhetorik nicht Herr ist. In einem der zehntausend Interviews, die er rund um seine Wahl gegeben hat, sah ich ihn herum mümmeln und krümeln und zum Beispiel einerseits mit aller Deutlichkeit die Singularität des 6-millionenfachen Judenmordes durch die Nazis
betonen, nur um alsogleich fortzufahren, dass für einen Kambodschaner mit den eigenen jüngeren Horror-Erfahrungen mit ihrem kommunistischen Regime der Holocaust wohl keine herausragende Bedeutung habe. Woher der deutsche Bundespräsident seine Maßstäbe bezieht, nämlich aus Kambodscha, das kann durchaus Fragen aufwerfen, die zu stellen ich mir aber hier entrate.

Also schon wieder keinen Staatsmann, schon wieder keine hehre geistig-moralische Instanz, zu der alle Einwohnerinnen und Einwohner aufblicken können, dafür aber die Aussicht auf einen warmen Dauerregen an antikommunistischen Ressentiments, an die man aber schon lange gewöhnt ist, weil diese Stimmung nicht nur schon im geteilten Deutschland die westdeutsche Öffentlichkeit prägte, sondern geradezu die Mentalität der Wiedervereinigung bildet, ganz abgesehen von der ausländischen Unterstützung, diesmal nicht durch die Kambodschaner, sondern durch die in der Achse etwas näher liegenden Italiener bzw. wegen des Hauptitalieners Silvio Berlusconi, der alle, was gegen seine persönlichen Bereicherungs- und Betrügerabsichten ging, als kommunistisch verschrie und der übrigens kürzlich wieder zu Besuch war bei einem ehemaligen KGB-Agenten, wie hieß er noch, ach ja, Wladimir Putin. Kurz: nichts Neues; und dass Deutschland gar keine Lichtgestalt braucht, so wenig wie jedes zivilisierte Land, das habe ich an dieser Stelle schon mehrmals ausgeführt, und insofern also doch meine Gratulation zu dieser neuesten Errungenschaft, mit der nun die Führungsämter in eurem Land definitiv mit ostdeutschen Pfaffen bzw. deren Töchtern besetzt sind. Und zur Sache Wulff komme ich dann wieder, sobald die Staatsanwaltschaft in Niedersachsen ihre Untersuchungen einstellt. Oder auch nicht.

Übrigens hat Wulffs Kumpel, der ehemalige AWD-Drückerkönig Maschi Maschmeyer, eine Autobiografie herstellen lassen, die ich weder lesen noch besprechen werde, ich will nur darauf hinweisen, dass da erneut einer den Beweis antritt, dass es nicht ausreicht, blöde zu sein, man muss es auch noch in Worte fassen können. Dass auch hier Eitelkeit einen laut dröhnenden Brummbass spielt, versteht sich von selber.

Erinnert Ihr Euch noch an mein Zahnpasta-Erlebnis von letzter Woche? Es lässt mich nicht mehr los. Ich habe das Gefühl, dass ich hier ein praktisches Beispiel gefunden habe für die Vollautomation und was unser System daraus macht. Die Marke spielt dabei eine zentrale Rolle. Wem es gelingt, eine Zahnpasta mit einem Idioten-Renommée erfolgreich im Markt zu positionieren, der kann seine Pampe für 100 Euro pro Kilogramm verkaufen; der andere löst 2 Euro pro Kilo und hat damit vermutlich knapp die Produktionskosten hereingespielt. Man muss vermuten, dass die Differenz von 98 Euro nun nicht dazu dienen, den Markeninhaber zu den reichsten Menschen dieses Planeten werden zu lassen; diese heißen Carlos Slim, Bill Gates und Warren Buffett, und der reichste Deutsche stammt aus dem Bereich mit dem Hunger-Sortiment, nämlich Karl Albrecht von Aldi Süd. Er wird gefolgt von den Erben von Aldi Nord, und dann kommt der Versandhandel, also bei Euch wird man offensichtlich am sichersten reich mit Billigprodukten bzw. dem Handel damit, während die Hochpreisprodukte ihre Margen wegschmelzen sehen mit einerseits einem offenbar doch immensen Werbeaufwand, welcher einen eigenen Markt von Werbeagenturen, Filmunternehmen, PR-Büros, Event-Veranstaltern und Sponsoring bis an den Bach hinunter umfasst, und anderseits einem ebenfalls gut ausgebauten Fachhandel, in dem noch echte und ausgebildete Einzelhandels-Verkaufsfachleute dem beeindruckten Kunden, na ja, vielleicht nicht immer gerade eine Luxuszahnpasta, aber irgend etwas in der Art um den Bart streichen. Kann das sein? Ist das der Ansatzpunkt zu einer ökonomischen Gesamtrechnung der Gegenwart? – Ich meine, wenn alles Aldi wäre, dann würde dies mit anderen Worten den sofortigen Zusammenbruch der Werbe- und Eventindustrie bedeuten ebenso wie eben des gepflegten Fachhandels. Falls der Zusammenhang zwischen der Agenda 2010 bzw. der demnächst bevorstehenden Agenda 2020 nach der Machtübernahme durch die Sozialdemokraten bei den nächsten Wahlen doch besteht, dann besteht hier ein, wenn nicht überhaupt der konstituierende ökonomische Grundwiderspruch: Der zeitgenössische Kapitalismus lebt in der Substanz davon, überflüssige Arbeitskräfte in nicht direkt produktiven Sektoren zu beschäftigen wie eben in der Werbung, aber auch im Consulting, denn für die Wahl der richtigen Zahnpasta will der durchschnittliche Bürger aufgeklärt werden, nicht zuletzt im Hinblick darauf, ob sie sozialverträglich und mit möglichst niedrigen Anteilen an Pestiziden und Atomstrom produziert wurde, ganz abgesehen von verschiedenen anderen Beratungsaktivitäten für alle möglichen Sektoren bis hin zur Prä- oder Paramedizin, also zu jenen Pillen, mit denen der Kopfschmerz gedämpft wird, der bei der Auswahl zwischen den verschiedenen Zahnpastasorten entsteht, und manchmal führt die Konsumwelt sowieso direkt zum Psychiater beziehungsweise in eine Burnout-Klinik. Allerdings sind in den Burnout-Kliniken weniger die Zahnpasta-Konsumenten als vielmehr das ausgebrannte Lehrpersonal zu finden, aber hier besteht mit Sicherheit auch irgendein verborgener Zusammenhang.

Kurz und ökonomisch: Ökonomie ist ein Witz, der genau so lange funktioniert, als er funktioniert. Und da er in Deutschland funktioniert, wird er selber zum Exportartikel, mindestens für den französischen Wahlkampf, wie ich bereits mitgeteilt habe; Nicolas Sarkozy hofft seine Wahl zu gewinnen durch die Androhung längerer Arbeitszeiten, eines höheren Rentenalters und einer tieferen Arbeitsplatzsicherheit.

Zu letzterer muss ich nun doch endlich noch was loswerden. Ich weiß wohl, dass die Gewissheit eines regelmäßigen Einkommens bei uns mit dem Arbeitsplatz zusammenhängt, und deshalb begreife ich auch den ganzen Arbeitsplatz-Kult, wir kennen ja nichts anderes, das ist genau ein Teil dieses ökonomischen Witzes. Anderseits seid Ihr hoffentlich mit mir einig darin, dass es für den modernen Menschen ein absoluter Horror sein muss, sich ein Leben lang an ein und demselben Arbeitsplatz abzuplacken, mindestens soweit es sich nicht um eine spannende und wirklich mehrere Facetten des betroffenen Menschen ansprechende Arbeit handelt. Und das ist bei den meisten Industriearbeitsplätzen nicht der Fall. Also sollte man die entsprechenden Vorbehalte halt auch anbringen, wenn man von Arbeitsplatzsicherheit spricht. In der Regel meint man nämlich die Existenzsicherheit; dagegen halte ich die Perspektive von 40 Jahren Fließbandarbeit für vollkommen unzeitgemäß. Auch hier wird mit dem Begriff der Arbeitsplatzsicherheit ein Problem vom Tisch gewischt, anstelle dass es selber zum Thema würde, und die andere Seite dieser Frage ist dann die, dass die Flexibilisierung halt auch nicht jene positive Flexibilität beinhaltet, welche man sich heute für ein durchschnittliches Berufsleben wünschen würde, sondern bloß die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten und am Schluss auch noch der Löhne. Das ist dann wieder vollkommen idiotisch. Es ist aber eben auch auf der begrifflichen Ebene idiotisch. Flexibilität und Flexibilisierung müssten eigentlich ganz weit oben auf der Forderungsliste von Arbeitnehmerinnen-Organisationen und ihren politischen Vertretungen stehen. Das geht hin bis zu obligatorischen Auslandaufenthalten, die man allen Menschen auf der ganzen Welt verordnen müsste, und zwar mindestens ein halbes Jahr alle zehn Lebensjahre. Das wäre nicht nur eine Erweiterung des persönlichen Horizontes, sondern es wäre auch einer der besten Beiträge zum Weltfrieden. Um aber auch hier nicht missverständlich zu werden: Mit dem Weltfrieden habe ich selber gar nicht besonders viel am Hut, mindestens solange nicht, als es ein fauler Weltfriede wäre, und ich gehe davon aus, dass er heute und noch in den nächsten Jahren faul wäre, wenn er plötzlich einträte.