"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Antonio Tabucchi ist tot -

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Letzte Woche hat der italienische Schriftsteller und Meinungsjournalist Antonio Tabucchi das Zeitliche gesegnet, und man lobt ihn dementsprechend überall für seine Verdienste in diesem Zeitlichen, während bei mir nur das Erinnerungsglöckchen klingelt an einen Mann, der gemeinsam mit Rosana Rossanda, Elmar Altvater und einigen weiteren Veteranen einer guten, aber nicht mehr besonders aktuellen Sache jede Woche in mehreren linken Zeitschriften darlegte, wie schlimm der Kapitalismus sei und dass er oder aber die Welt kurz vor dem Untergang stünde.
Audio
10:56 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 27.03.2012 / 11:25

Dateizugriffe: 959

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 27.03.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Vor zehn Jahren schrieb der Vielschreiber in einem italienischen Magazin über Berlusconi, dass in Italien gegenwärtig eine Diktatur des Wortes herrsche. Eine gewaltigere Veräppelung sowohl der Realität – Berlusconis Herrschaft beruhte auf Schmiergeldern, nicht auf Worten – als auch der eigenen Rolle – eben jener des unablässig sprechenden und schreibenden Produzenten von Menetekeln aller Gattungen – habe ich weder zuvor noch danach jemals gesehen. Aber dies bloß als Randornament auf den Grabstein, auf dem im Haupttext viele schöne Sachen stehen.

«Während die Eurozone insgesamt auf dem Weg in die Rezession ist, sind die Perspektiven für die deutsche Konjunktur vergleichsweise positiv», schreibt das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut und veröffentlicht gleichzeitig die Eckdaten seiner Konjunkturprognose: Das Bruttoinlandprodukt soll in diesem Jahr um 0.5% zulegen nach den fabulosen 3.0% im letzten Jahr; für 2013 rechnet das HWWI mit 1.5%. Dabei wachsen die privaten Konsumausgaben stetig mit 1.0% bzw. 1.2% in diesem bzw. im nächsten Jahr, während die Anlageinvestitionen heuer nur noch um 0.9% zulegen sollen nach den umwerfenden 6.4% im Jahr 2011. Die Ausfuhr nimmt 2012 um 2.3% zu und 2013 um 5.5%, während die Ausfuhren um 3.2% bzw. 5.9% wachsen. Die Zahl der Arbeitslosen soll weiter zurückgehen auf 2.85 Mio. im Jahr 2012 und auf 2.7 Mio. im Jahr 2013. Dies ergibt Arbeitslosenquoten von 6.4% für 2012 und 6.1% für 2013. Die Verbraucherpreise schließlich steigen um 1.9% in diesem und um 1.7% im nächsten Jahr. Positive Aussichten, also, und man wundert sich nicht besonders, dass die Nachbarn gegenwärtig in einer Mischung aus Bewunderung und Neid auf Deutschland blicken. Anderseits kann sich so was auch bald wieder ändern; wir erinnern uns daran, dass noch vor drei Jahren zahlreiche Deutsche nach Dänemark auswanderten, ganz abgesehen davon, dass auch heute viele Fachkräfte im neutralen Ausland jobben. Aber immerhin: Man ist geneigt, erstens einen Wettbewerbsvorteil Eures Landes zu sehen mit der Politik vergleichsweise niedriger Löhne und den seit einiger Zeit tiefsten Preisen in Europa, anderseits diesen Wettbewerbsvorteil als die Folge der sozialdemokratischen Reform der Sozialgesetzgebung zu werten mit der Agenda 2010. Ob dies auch wirklich zutrifft, kann ich nicht sagen, denn zu den Zeiten von Grün/Rot in der ersten Hälfte der nuller Jahre war die Finanz- und Schuldenkrise durchaus nicht abzusehen, welche die Vereinigten Staaten von Europa und Amerika strukturell gründlich durcheinander geschüttelt hat.

Daneben findet in der kritischen Öffentlichkeit bekanntlich die große Debatte statt darüber, ob Deutschland eben seine Exportkraft stärkt durch einen zu tiefen Konsum im Vergleich mit den Nachbarn, deren Produkte damit vergleichsweise teurer werden, oder ob die Ursachen für die vergleichsweisen Vorteile an anderen Orten stecken. Eines steht fest: Würde Antonio Tabucchi weiter schreiben, er würde ganz sicher schreiben, dass Deutschland seit Rot/Grün leidet unter der Verarmung und Prekarisierung der Bevölkerung durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebung. Ich selber bin mir da nicht so sicher, indem meines Wissens nach wie vor ein Großteil der Exportgüter in Branchen gefertigt wird mit einem ordentlichen Anteil an tarifvertraglich beschäftigten Arbeitnehmenden, und die deutschen Tarifverträge sind mindestens mir nicht bekannt als die Hochburgen arbeitsvertraglicher Flexibilität.

Einmal abgesehen von arbeitsmarktlichen oder ökonomischen Belangen ist Flexibilität daneben zu Unrecht zum Schimpfwort geworden. Der Reichtum, welchen die globalisierte und voll automatisierte Produktion sämtlichen Menschen zugänglich macht, besteht unter anderem auch in der Vielzahl an Optionen, welche sich anbieten müssen, und Flexibilität heißt nichts anderes als die Fähigkeit, unterschiedliche Optionen nutzen zu können. Vor ein paar Jahrzehnten war es noch die Regel, dass mehr oder weniger die ganze Bevölkerung ihren Dienst an der Wirtschaft im Rahmen einer einheitlichen Arbeitsbiographie leistete mit 40 Dienstjahren im gleichen Unternehmen und im gleichen Beruf mit einer sehr beschränkten Palette an Aufstiegsmöglichkeiten. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein, und solche Perspektiven sollte auch niemand mehr vertreten, ganz abgesehen davon, dass sich dies gar niemand mehr leisten kann in einer Welt, die alle paar Jahre von einer neuen Welle an technologischen Neuerungen überspült wird. Ich weiß nicht, ob es überhaupt noch Berufe oder ganze Industriezweige gibt, deren mittlere Lebenserwartung bei 40 Jahren liegt. Wer aber vollends 40 Jahre lang die gleiche, womöglich noch ziemlich eindimensionale Arbeit verrichtet, der ist ein Gewohnheitstier, das seine anderen menschlichen Fähigkeiten schon fast vorsätzlich verkümmern lässt. Der stete Aufbruch oder das stete Aufbrechen von kaum erkalteten Strukturen ist das Markenzeichen unserer Epoche, und wenn sich auch eine sonst eher unbewegliche breite Bevölkerungsmasse daran zu gewöhnen beginnt, so ist darin nichts Schlechtes zu sehen. Insofern steht die Flexibilität durchaus nicht zur Disposition; die Frage ist bloß, unter welchen Vorzeichen sie vonstatten geht. Und gerade hier kann man dem deutschen Gemeinwesen wohl keine allzu großen Kränze winden, indem viel zu viele Menschen nicht die positiven, sondern nur die negativen Auswirkungen der Flexibilisierung zu spüren bekommen. Die Frage stellt sich, wieso es so schwer fällt, in diesem Bereich Alternativen zu erarbeiten; schließlich haben auch in Deutschland die Menschen einen Kopf nördlich des Halses und in selbigem ein normal ausgebildetes Hirn, und mehr braucht es grundsätzlich nicht für die Produktion einiger intelligenter Gedanken. Aber manchmal ist das Hirn eben ganz anders ausgelastet und beschäftigt mit der Montage von vorgefertigten Phrasen und Schlagwörtern bis zum Abwinken. Und dann gibt es noch ein paar andere Varianten, wie man dieses am höchsten entwickelte Instrument, welches die Erde je gesehen hat und welches zudem noch restlos allen Bewohnerinnen und Bewohnern zum freien Gebrauch zur Verfügung steht, für möglichst idiotische Zwecke verwenden kann.

Im besten Fall ist der relative ökonomische Erfolg Deutschlands aber auch auf seine Institutionen zurückzuführen, und hier meine ich nicht zuvörderst den Bundspräsidenten, sondern zum Beispiel eine trotz allem relativ verlässliche Justiz, die auch relativ speditiv zu brauchbaren Entscheiden kommt. Vielleicht ist trotz allen unterschwelligen Animositäten noch nicht einmal eure Verwaltung derart überdehnt, dass der Fortschritt immer ein paar Jahrzehnte lang Schlange stehen muss, bis er endlich an die Reihe kommt. Unter uns gesagt, solche Finessen spielen eine durchaus ansehnliche Rolle im gesamten Prozess, und da ich mich darin bei Euch nicht so gut auskenne, will ich mich auch nicht übermäßig dazu äußern. Meinen Generalverdacht jedoch, nämlich dass es sich bei der Bundesrepublik Deutschland gerade unter einer CDU/CSU-Regierung um einen durch und durch sozialdemokratischen Staat handelt, was beiläufig die ideale Staatsform der Gegenwart ist, diesen Generalverdacht habe ich hier schon so viele Male geäußert, dass es mir schon fast selber zum Hals heraus hängt. Immerhin kann ich nicht müde werden zu betonen, dass es eben die Staatsform der Gegenwart ist, während wir uns bekanntlich alle zusammen auch mit den idealen Staatsformen der Zukunft beschäftigen, was wiederum voraussetzt, dass man in der Lage ist, über die gegenwärtigen Zankereien ebenso hinweg zu sehen wie über die reaktionären Tendenzen, welche gewisse Teile Europas ebenso befallen wie ganze Landstriche in den Vereinigten Staaten und gegen die unsere Pharmaindustrie bisher noch kein griffiges Gegenmedikament entworfen hat. – Anderseits ist es natürlich denkbar, dass solche Strömungen ihrerseits bereits die Folge davon sind, wenn man den Lebensmitteln in einem Land bewusstseinsverengende Mittel beigibt anstelle von bewusstseinserweiternden, und auch dazu habe ich keine weiteren Einsichten zu bieten bis darauf, dass der Konsum von verunreinigtem Heroin mit ziemlicher Sicherheit und ziemlich schnell in eine primäre Infantilität führt, während sauberes Heroin in korrekten Dosen neben einer schweren Abhängigkeit weiter keine körperlichen und geistigen Folgen hat außer Verstopfung. Meines Wissens.

Wie auch immer: Natürlich beschäftigt auch mich der unhaltbare Absturz der F.D.P. im Saarland und ebenso der, mindestens für mich ziemlich unerwartete Aufstieg der Piratenpartei. Eigentlich könnte mir ersteres völlig egal sein, denn das Herumgehampel von Guido Westerwelle ist mir über die Jahre hinweg immer und zuverlässig auf den Sack gegangen, und ganz besonders trostlos war der ganz besondere Mangel an Einsicht in irgendwelche Tatbestände während und nach der Finanzkrise, die im Übrigen wohl die ursächliche Ursache für den knalligen Niedergang jener Liberalen ist, die sich am Schluss nicht mehr daran erinnern konnten, dass sie früher auch einmal einen sozialen Flügel hatten. Trotzdem werde ich sie vermissen, da ich mich an die Kräftegeometrie in Eurem Land nun mal über die Jahre hinweg gewöhnt habe. Die Piraten anderseits freuen mich ganz besonders, weil sie landauf, landab für ein bedingungsloses Grundeinkommen eintreten, und das ist für mich nun mal wirklich ganz elementare Staatsmathematik, wie Ihr ja wisst. Ansonsten habe ich nicht besonders viel von Programm wahrgenommen bei ihnen, und vielleicht ist dies nicht nur eine Stärke im politischen Prozess, sondern sogar der aktuellen Zeit völlig angemessen: Was sollen bei uns noch große politische Programme, die ohnehin alle auf den gleichen Werten beruhen – und zwar nicht zufällig, sondern zwingend –, während es doch eigentlich in erster Linie darum geht, sie umzusetzen. Macht aus diesem Land, macht aus unseren Ländern endlich mal moderne Staaten, die ein für allemal Schluss machen mit Armut und Dummheit, in denen die Menschen nicht nur genügend zu mampfen und ein anständiges Dach über dem Kopf haben, sondern auch Perspektiven, einer jeglichen und einem jeden nach seinem Gusto, wenn möglich.