"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ferguson Zivilisation -

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Ich weiß nicht, ob ich in der Zukunft leben möchte. Sofern die Reinkarnationslehre falsch ist, was ich wirklich hoffe, habe ich auch keine Option darauf. Was ich aber mit Sicherheit weiß, das ist, dass ich nicht in der Vergangenheit leben möchte, zum Beispiel bei den Maya. Offenbar stammt folgende Beschreibung vom franziskanischen Missionar De Landa, irgendwann aus der Zeit der Eroberer: «Nachdem sich die Männer in einer Linie ausgerichtet hatten, bohrte sich jeder ein schräges seitliches Loch in das Glied; sobald sie dies getan hatten, zogen sie die größtmögliche Menge Schnur durch die Löcher, sodass sie nun alle miteinander verbunden und aneinandergereiht waren. Sie bestrichen das Götterbild mit dem Blut von all diesen Schamgliedern.»
Audio
10:54 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.04.2012 / 09:55

Dateizugriffe: 397

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 03.04.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich will mir gar nicht ausmalen, mit wem ich hier zusammengenäht würde, ich will das nicht, hört ihr, ihr Maya? Ich lehne dies auch noch ein paar hundert Jahre nach Eurem Verschwinden ab. – Auf der anderen Seite sind Piercings unterdessen Allgemeingut; trägt nicht auch die Frau des ehemaligen Bundespräsidenten einen Nasenring? Ein Tattoo befindet sich jedenfalls in ihrem Besitz. Aber bis zu einer Schnur durch die Penisse einer ganzen Ehrenkompanie ist der Weg noch weit, auch wenn sich hier das volle Potenzial für ein besonders neues Männerritual abzeichnet. Aber eben, mit mir nicht, hört ihr, ihr Maya? – Davon abgesehen hat eine Schnur durchs Glied offensichtlich jenen Vorteil gegenüber Piercings, dass man damit leichter durch die Personenkontrollen am Flughafen kommt.

Ein weiteres Problem habe ich bei meinen letzten Deutschlandbesuchen erkannt, nämlich das Hühnchen- oder Hähnchen-Problem. Bei euch gibt es eigentlich fast nur tiefgefrorene Ware, also ein tiefgefrorener Broiler, das tönt für mich fast wie kochender Eistee und nur in ziemlich exklusiven Läden frisch geschlachtetes und ausgenommenes Huhn. Das ist bei uns anders. Der Großteil des Hühnchen- und Hähnchengutes ist frisch, und die Tiere werden irgendwie sanft zu Tode gebracht, sodass ihnen das Blut nicht vor Schreck in den Adern erstarrt, nein, in unseren Hühnchen- und Hähnchenfabriken wird immer die Titelmusik aus Chicken Run gespielt. Und deshalb unterscheidet sich auch die Zubereitung bzw. der Verzehr von Hühnchenfleisch in unseren beiden Ländern derart grundlegend.

Ebenfalls unterschiedlich sind die Positionen bezüglich der Banken und der Steuerflucht. Offiziell haben die Schweizer Banken schon seit einiger Zeit begonnen, verdächtige Kundengeldbestände abzubauen, natürlich in erster Linie unter dem Druck der Vereinigten Staaten; das gesamte Business bemüht sich um ein Umschwenken auf eine so genannte Weißgeld-Strategie. Ich gehe vorsichtshalber mal davon aus, dass es ihnen ernst ist damit, und zwar aus einem einfachen Grund: Bankiers sind keine Fetischisten, die nehmen nicht nur schmutziges Geld in Dark Rooms entgegen, dem Bankier ist auch sauberes Geld sehr willkommen, man möchte sagen: je mehr, desto lieber. Und wenn die UBS nach wie vor um die 3 Billionen Dollar Kundengelder verwaltet, so ist kaum anzunehmen, dass all die Knete stinkt. Das Strukturproblem der kapitalistischen Gesellschaft ist genau das, dass einige wenige Menschen so obszön viel Geld und Kapital besitzen, ohne dass dieses auch nur ansatzweise schwarz wäre – es ist alles weiß wie die Gesichtsfarbe der Diskretion, und es liegt und wandert alles völlig legal auf den verschiedenen Finanzplätzen der Welt herum. Und ich garantiere euch, dass es nicht nur illegale Methoden gibt, um sein Geld am Fiskus vorbei zu schmuggeln. Dafür hat das Großkapital ja seine Lobbyisten und Juristinnen an den zentralen Stellen der staatlichen Administration bzw. im Parlament und seinen Ausschüssen.

Die kleineren Fische dagegen, welche unverhofft zu ihrem Glück gekommen sind wie der ehemalige Postchef Zumwinkel, die können ihre Kapitalien nicht strukturell vor der Steuerbehörde verschwinden lassen, die haben nach wie vor Interesse an Steuerhinterziehung, und dass die Regierungen nicht nur in Deutschland, sondern eben auch in den Vereinigten Staaten und ein bisschen sogar in Frankreich Jagd machen auf solche Steuerflüchtlinge bzw. auf ihre Dealer oder Zuhälter in der Schweiz, das ist nur verständlich, vor allem nach den verschiedenen Rettungsaktionen der letzten Zeit. Anderseits steht zu vermuten, dass die Staatshaushalte sich kaum mit den Nachsteuern von erwischten Steuersünden sanieren lassen.

Für definitive oder vernünftige Aussagen zum Thema Steuern müsste man aber über zuverlässige Einsichten in die Entwicklung unserer Gesellschaften, der Volkswirtschaften und der Reichtumsverteilung haben. Für mich steht dabei jener Prozess im Vordergrund, bei dem die Produkte immer mehr an innerem Wert verlieren. Damit verändert sich logischerweise der Charakter des gesamten Geldkreislaufes. Eine Zeitlang gab es die Anbindung des Geldwertes an den Goldwert, und später schöpften die Nationalbanken dann ungefähr jene Menge an Geld, die für die jeweilige Einflusssphäre grad ungefähr notwendig schien. Zwischenzeitlich verfügten die Privatbanken ihrerseits über eine Lizenz zur Geldproduktion, während die Verhältnisse seit ein paar Jahren nur noch dynamisch erscheinen, also mehr oder weniger im Tages- oder Stundenrhythmus festgelegt werden. Ich vermag im Moment keine objektive Größe zu erkennen, an der sich die Geldmenge und die Geldzirkulation orientieren könnte; und wenn sich dieser Zustand fortsetzt, dann hat das Ganze vor allem dann Bestand, wenn sich der Zirkulationsprozess als eigenständige Größe etabliert ohne eine übermäßig enge Beziehung zu Dingen wie dem Volkseinkommen oder dem Bruttoinlandprodukt usw. Respektive und genauer: Da gerade volkswirtschaftliche Größen wie das Bruttoinlandprodukt zu schönen Teilen definiert werden durch oder mindestens ausgedrückt werden in der Menge des zirkulierenden Geldes, kann dieses Bruttoinlandprodukt zunehmend abhängig werden vom Geldumlauf anstatt umgekehrt. Und dabei vermute ich, dass dies nicht mal schädlich wäre, denn irgendwie muss sich ja die Gesellschaft vorbereiten oder bereits anpassen an jene Wirtschaft, in der die zirkulierenden Werte im ursprünglichen ökonomischen Wortsinn eine zunehmend geringere Bedeutung haben.

Sprechen wir von etwas einfacherem. Ich habe wieder mal ein Buch erhalten zur Zivilisationsgeschichte, diesmal einen Schunken von Niall Ferguson mit dem Titel «Der Westen und die Resten». Kamerad Ferguson stellt die Frage, weshalb der Westen ungefähr vom 15. Jahrhundert an einen solchen Aufschwung erlebte, während in Asien und im türkisch-arabischen Reich der Ottomanen ein ebenso spektakulärer Niedergang erfolgte. Ferguson spricht von 6 Killer-Applikationen, welche den Unterschied ausmachten, nämlich Wettbewerb, Wissenschaft, Eigentumsrechte, Medizin, Konsum und Arbeit, inklusive Arbeitsethik. Dabei könnte man gerade zur Wissenschaft noch anfügen, dass sie justament die Größe der früheren nichtwestlichen Reiche ausgemacht hatte, namentlich in China, aber über lange Jahre hinweg auch im islamischen Bereich, während in Europa den einfachen Menschen über Jahrzehnte hinweg sogar die Lektüre der Bibel verboten war. An der Wissenschaft, sowohl an der theoretischen wie an der praktischen, sind zahlreiche Entwicklungen festzumachen, sei es im Bereich der Schifffahrt mit den entsprechenden Navigationsinstrumenten zum einen, hochseetüchtigen wendigen Schiffen zum anderen, oder bei der Industrie mit den zahlreichen Innovationen. Man könnte, mit anderen Worten, die westliche Zivilisation auch eine Multiplikation von wissenschaftlichen mit sozialen Entwicklungen bezeichnen, aber das führt hier zu weit. Was mir dabei wieder mal in Erinnerung gerufen wurde, ist die dunkle Seite dieser Zivilisation, zum einen mit dem Sklavenhandel und mit der Tatsache, dass im Süden der Vereinigten Staaten bis vor 50 Jahren die Rassentrennung noch eine gängige Praxis war, was seine Nachwirkungen bis heute hat, und zwar auf beiden Seiten, will sagen bei jenen Weißen, die sich nach wie vor als überlegene Rasse fühlen, ebenso wie bei den Schwarzen, welche ihre intellektuelle Energie nach wie vor hauptsächlich darauf verwenden, den Weißen ihre Schuld vorzurechnen und sich selber als ewige Opfer darzustellen, was zwar begreiflich ist, aber nicht weiter hilft. Diese Phase des Wegs zur Emanzipation erscheint besonders vertrackt; einerseits muss man nach wie vor gegen die Überreste des alten Rassendenkens ankämpfen, und anderseits soll man sich nicht davon abhalten lassen, die Zukunftsfragen jenseits des Rassenproblems anzupacken.

Besonders drastisch wird Neil Fergusan aber im Bereich Medizin, wenn er über die Eugenik referiert, also über jene Abteilung der Medizin, welche sich der Verbesserung des Erbgutes widmet. Sie ist direkt verwandt mit der Rassenlehre, also der Auffassung, dass einige Rassen einen besseren Genpool besäßen als die anderen, und dass die weiße Rasse dabei am besten abschneidet, erstaunt dabei nicht. Gleichzeitig dient diese Wissenschaft aber auch als Rechtfertigung von kolonialen Ansprüchen und von Ausrottungskampagnen wie jene gegen die Herero in Namibia anfangs des 20. Jahrhunderts durch die deutschen Kolonialherren. Aber auch im Mutterland fand die Eugenik ihren Weg in die Politik als tragendes Element der nationalsozialistischen Rassenpolitik. In diesem Punkt ist die Medizinwissenschaft zweifellos zu einer Killer-Applikation im doppelten Sinn geworden.

Daneben bietet Ferguson eine bunte Mischung zwischen halbwegs plausiblen Erklärungen einzelner Strömungen und durchaus auch größerer Zusammenhänge sowie platten Ressentiments, zum Beispiel gegen die französische Revolution, garniert mit gewissen lustigen Einzelheiten, wie zum Beispiel jene Meldung, dass die ottomanischen Sultane in Istanbul noch im 16. Jahrhundert eines der besten Raumobservatorien bauen ließen, dieses aber 5 Jahre nach Fertigstellung im Jahr 1580 wieder abrissen, weil die religiöse Obrigkeit in der Astronomie eine Kompetenzüberschreitung sah, einen Eingriff in ihren Zuständigkeitsbereich. Lustig, aber nicht besonders neu sind die Hinweise auf die Unterschiede bei der kolonialen Besiedelung Nord- und Südamerikas, vor allem im einen Punkt, dass die Spanier die Länder ausbeuteten und die Indianer für sich arbeiten ließen, während in Nordamerika die Siedler die Äcker meistens selber bestellten und nach einer ersten Dienstzeit von etwa 5 Jahren meistens Anrecht auf ein Stück eigenes Land und damit auch auf Stimmrecht in den lokalen Gremien erhielten. Die Unterschiede, die sich daraus für die Institutionen ergaben, sind einer ernsthaften Beschäftigung wert, im Gegensatz zu den primär reaktionären Reflexen von Ferguson, dem zum Beispiel zu Marx nichts weiter einfällt, als dass er hässlich ausgesehen habe und eine Tochter mit seinem Dienstmädchen gezeugt habe, und zu Lenin steht ihm sowieso der Schaum vor dem Mund, was ihm jegliche vernünftige Beschäftigung mit der russischen Revolution völlig verunmöglicht. Aber damit muss man auch heutzutage noch leben. Abgesehen davon bin ich mit dem Buch noch nicht ganz durch und werde mich melden, sofern ich noch etwas Interessantes entdecke.