"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die direkte Demokratie hat zweifellos auch Schattenseiten -

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Die direkte Demokratie hat zweifellos auch Schattenseiten. Demnächst wird hier über eine Initiative abgestimmt, gemäß welcher wichtige Staatsverträge obligatorisch dem Volk vorgelegt werden müssen. Diese Sorte von Basisdemokratie macht das gesamte System auf Dauer unregierbar. Basisdemokratie ist überhaupt etwas für kleine Organisationen, nicht aber für ganze Länder. Wenn ich mir vorstelle, dass 90 Millionen Deutschinnen und Deutsche irgendeinen Hudipfupf so lange diskutieren sollten, bis sich eine Konsensmeinung gebildet hat, dann wird mir ganz überirdisch.
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10:04 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.05.2012 / 11:27

Dateizugriffe: 539

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.05.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nein, das geht nicht. Direkte Demokratie dagegen, die ist praktisch. Garantien gibt es selbstverständlich keine, das Volk ist zwar der Souverän, aber auch der Souverän kann sich mal irren, und dieses Recht nimmt sich gerade die Schweizer Stimmbevölkerung recht oft heraus. Man pflegt dann von der politischen Reife der Abstimmenden zu schwafeln und von politischer Kultur und wirtschaftlicher Einsicht, wenn die Arbeitnehmenden wieder mal eine Initiative für 6 Wochen Urlaub im Jahr wuchtig ablehnen. Aber sei dem, wie ihm wolle, als System ist die direkte Demokratie durchaus nicht schlechter als andere. Und manchmal hat sie sogar ihre schönen Seiten, gerade heraus. Wie Ihr wisst, bin ich seit Jahren ein überzeugter Anhänger eines bedingungslosen Grundeinkommens, und der Zufall will es, dass vor ungefähr einem Monat eine Volksinitiative lanciert wurde, die die Einführung genau eines solchen bedingungslosen Grundeinkommens zum Ziel hat. Der Initiativtext ist einfach: «Art. 110a (neu): Abs. 1: Der Bund sorgt für die Einführung eines bedingungsloses Grundeinkommens. Abs. 2: Das Grundeinkommen soll der ganzen Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglichen. Abs. 3: Das Gesetz regelt insbesondere die Finanzierung und die Höhe des Grundeinkommens.» Fertig. Und somit sind wir jetzt eifrig am Sammeln von Unterschriften. Es braucht 100'000 Stück davon, damit die Initiative zustande kommt; wenn dies der Fall ist, dann müssen Bundesrat und Parlament darüber beraten und innert nützlicher Frist eine Volksabstimmung dazu organisieren. Und wenn dann die gewonnen wird, dann geht der Spass erst richtig los, denn eben, die Einzelheiten werden nicht in der Verfassung, sondern in den entsprechenden Gesetzen geregelt, und dafür ist dann wieder nicht die Bevölkerung zuständig, sondern das Parlament und der Bundesrat. Allerdings können sich weder das Parlament noch der Bundesrat beliebig Kapriolen erlauben, denn wenn sie den Volkswillen, wie er während der Abstimmungskampagne und dann im Schlussresultat zum Ausdruck kommt, einfach missachten, dann drohen sowohl ein Referendum gegen das oder die Gesetze als auch eine neue Volksinitiative, und dann drohen vor allem massive Verluste bei den nächsten Parlamentswahlen. Aber eben: Die Sache ist jetzt zunächst mal losgetreten, und eines kann man jetzt schon sagen, nämlich dass sie ganz ordentlich Staub aufgewirbelt hat. Vermutlich erfuhr dabei eine breite Mehrheit der Bevölkerung überhaupt zum ersten Mal, was so ein Grundeinkommen überhaupt sein könnte, weil nämlich sämtliche Medien recht ausführlich über das Projekt informierten, und insofern war die erste Etappe bereits mit großem Erfolg absolviert, bevor auch nur die erste Unterschrift auf dem Papier stand. – Um die geht es jetzt aber trotzdem, und ich würde mich sehr freuen, Euch in ein paar Monaten über das Zustandekommen der Initiative berichten zu können. Da würde der eine oder die andere Nasenlöcher machen, mein lieber Schwan.

Über Europa wabert aber auch das Gespenst der indirekten Demokratie mit den Wahlen in Nordrhein-Westfalen, in Griechenland sowie mit den Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Die große Frage bei allen ist die, ob Angela Merkel nach wie vor genügend stark ist, um gegenüber dem neuen französischen Präsidenten weiterhin eine Art von Sparkurs für die Europäische Union durchzusetzen, von dem letztlich niemand sehr genau weiß, worin er besteht, mit Ausnahme vielleicht der Griechen, welche als Folge der Sparmaßnahmen offenbar überhaupt keinen produktiven Sektor mehr besitzen, nachdem sämtliche Betriebe dicht gemacht haben, weil kein Markt mehr vorhanden ist. Vielleicht ist dies ja auch nur Propaganda, aber man hat effektiv den Eindruck, dass die einzigen verbliebenen Einnahmen dieses Landes jetzt aus den Krediten bestehen, die eigentlich zur Bedienung der Schulden und für Strukturreformen vorgesehen wären, welche nun aber erst recht nicht stattfinden. Im Gegensatz zu einem anständigen bedingungslosen Grundeinkommen, welches auf einer halbwegs funktionierenden Volkswirtschaft aufbaut und dort für geordnete Verhältnisse im Bereich des Basiskonsums sorgt bzw. der Bevölkerung eine echte Garantie gegen die Verelendung verleiht, handelt es sich hier um reine Rentenzahlungen, welche vom nach wie vor absurden griechischen Staat nach vermutlich immer neu absurden Regeln unter die Menschen verteilt werden, welche möglichst nahe am Drücker hocken. Da freut man sich geradewegs, wenn wenigstens ein einziger politischer Anführer, nämlich der Syriza-Chef Tsipras, sich weigert, bei der Verteilung des Armengeldes eine aktive Rolle zu spielen.

Für einen Außenstehenden ist das griechische Affentheater wirklich über alle Maßen ärgerlich. Man wäre ja gerne solidarisch mit all den vielen sicher im Kern grundanständigen Menschen, die von der Naturkatastrophe der Finanzkrise an den Rand der Existenz gespült wurden; aber man wäre es mit etwas mehr Enthusiasmus oder überhaupt mit Enthusiasmus eigentlich nur dann, wenn sich auch eine politische Richtung abzeichnete, welche eine Modernisierung des Landes fordert, und zwar sowohl auf ökonomischer als auch auf staatlich-institutioneller Ebene und dann wohl auch in der ganzen Gesellschaft. Und von einem solchen Programm ist nach wie vor nirgends etwas zu erkennen. Immerhin haut es das Land hoffentlich möglichst bald zum Euro-Raum raus, da können sie vielleicht versuchen, die vergurkte Situation mit den eigenen bzw. den ihnen eigenen Mitteln zu pflegen. So etwas fällt wohl auch unter das Generalthema «Selbstbestimmungsrecht der Völker». Go, Griechenland, Go, raus aus dem Euro. Die entsprechenden Skizzen habe ich an dieser Stelle bereits vorgelesen.

Dem gegenüber dürfte sich der Wechsel von Sarkozy zu Hollande kaum auf die französische Europapolitik auswirken. Selbstverständlich hat der antieuropäische Unmut eine Rolle gespielt bei den Wahlen, aber das tut er in allen anderen Ländern der EU ebenfalls, und es gibt dann immer wieder die Rückwärtsbewegung, bei der nicht nur die meisten Parteien, sondern im Kern auch die Bevölkerung sich eingestehen, dass die Zukunft eindeutig Europa heißen muss. Bloß ist auch hier nach wie vor keine Partei in Sicht, welche dies auch innenpolitisch möglichst laut und ohne Rücksicht auf vorübergehende Verluste verkündet. Die Grünen haben immerhin mit Daniel Cohn-Bendit einen einzelnen Politiker, der in den beiden Haupt-Sprachräumen aktiv ist; und vielleicht wächst uns aus den Reihen der Piraten plötzlich auch diesbezüglich eine ganz neue Pflanze, denn wer wie die Piraten völlig auf Computer und Internet bzw. das damit verbundene Freiheitspotenzial fixiert ist, der wird wohl kaum eine besonders nationalistische Linie fahren. Wobei von Linie bei den Piraten mindestens aus meiner Sicht noch nicht viel zu erkennen ist, bis auf das bedingungslose Grundeinkommen, das auch diese bedingungslos vertreten; und da ich einräumen muss, dass ich gegenwärtig nicht besonders viele andere politische Positionen vertrete, könnte ich mich sogar als Protopirat bezeichnen, wenn ich bloß mehr vom Programmieren verstünde, aber ich bin ja bloß ein Anwender.

Was aber soll ich mit dem Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen anfangen? Ich mache es mir einfach: Ich kneife die Augen etwas zusammen und behaupte, dass Hannelore Kraft eigentlich genau gleich aussieht wie Angela Merkel, ja, wenn man die Augen so fest zusammen kneift, dass man eigentlich schon von die Augen schließen sprechen kann, dann sind die beiden vollkommen identisch. Jungs, was wollt ihr mehr? Zwei sozialdemokratische Politikerinnen als die am hellsten leuchtenden Sterne am politischen Firmament Deutschlands, das ist für meine Begriffe eine reife Leistung der deutschen Demokratie. Und wenn sich die Französinnen und Franzosen im Wahlkampf immer stärker für Euer Land zu interessieren begonnen haben, dann könnte es ja sein, dass sich auch dort die postmonarchistischen Strukturen langsam aufzulösen beginnen. Und so hat alles in allem recht ein freundliches Gesicht, wie der erste Teil eines Kehrreims von Johann Nepomuk Nestroy in einem seiner Theaterstücke lautet, und der zweite lautet: Aber d’Weltgeschicht sagt: Justament nicht. – Dort heißt es übrigens auch: Es wollen d’Republiken in Europa nicht glücken, selbst für die von die Schweizer geb ich keine 5 Kreuzer, von d Pariser nicht wenig Wollen schon wieder an König. Und eben, das hält bis in die moderne französische Republik an, während aber die schweizerische wider Erwarten recht lange gehalten hat. Und zur französischen ist immer wieder anzumerken, dass in der Praxis der starke Zentralismus aufgeweicht wird von verschiedenen Tendenzen – und nicht zuletzt durch das Internet, welches eben letztlich doch ein Segen ist, auch wenn es die Möglichkeiten zur umfassenden Kontrolle ebenso schafft wie die Möglichkeiten des praktisch unbeschränkten Zugangs zu Informationen, aber auch zu Kunstwerken aller Art, was dann wieder die Urheber sowohl von Kunstwerken als auch von anderen Dingen vor gewisse existenzielle, mindestens aber pekuniäre Fragen stellt. Das kann so weit gehen, dass die pekuniäre Frage vollends prekuniär wird.

Aber hätten wir doch bloß erst ein richtiges Grundeinkommen – da müssten uns all die Künstlerinnen und Künstler, die in der Regel sowieso nicht viel Geld verdienen, sich nicht mehr so doll um ihre mageren Urheberrechtseinkünfte kümmern bzw. um die kümmerlich prekuniären Einkünfte.

Wie auch immer: Nachdem sich die Eisheiligen jetzt ausgetobt haben, mindestens bei uns in den Voralpen, kann jetzt der Sommer von mir aus losgehen, und ich gehe davon aus, dass es in diesem Jahr ein memorabler Sommer wird, eben in erster Linie wegen unserer famosen Volksinitiative – ich halte euch auf dem Laufenden.