"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Stadtentwicklung

ID 48828
 
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Habe ich hier schon erzählt, dass ich diesen Frühling einmal ein Omelett gegessen habe mit einem Inhalt u.a. aus Lindenblättern, Bärlauch, vielleicht auch Bucheckern und vielen weiteren Pflanzen vom Waldrand und von der Magerwiese?
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10:35 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 05.06.2012 / 09:06

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 05.06.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Jedenfalls war das ganz fürchterlich und absolut delikat, meine Rachenraum- und Zungen-Geschmacksknospen wurden in einem Feuerwerk der unterschiedlichsten Aromennuancen stimuliert, ich wusste gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht beziehungsweise dass ich eine derart feinstoffliche Sinnesebene überhaupt besitze, mein Weltbild beschränkt sich üblicherweise auf durchgebraten, medium oder saignant, das heißt, wenn ich Gräser esse, dann in der Regel nicht unmittelbar, sondern über Kühe und Rinder. Insofern hat dieses Omelett mein persönliches Universum durchaus erschüttert, vor allem, weil es begleitet war von einem Salat, der nicht aus Salat bestand, sondern wiederum aus vielen schönen bunten Pflanzen und Blumen, die man in der Regel eher zu einem Strauß bindet als zu einem Salat drapiert. Auch der war schlicht und einfach ausgezeichnet, und ich muss meine Meinung zum Berufsstand der FloristInnen wohl gründlich revidieren und sie auf die gleiche Ebene stellen wie die Fleischer. Alles sehr wohlschmeckend.

Natürlich fragt man sich, ob damit ein Beitrag gegen den Welthunger geleistet ist, denn, wie man weiß, gibt es in den gröbsten Hungerzonen der Erde, im Sahel und so, schon gar keine Pflanzen, sondern bloß Sträucher und Sand. Die Errungenschaft liegt also wohl nicht auf diesem Gebiet, sondern bloß in der einfachen Wiederbelebung des Wissens, dass praktisch alles essbar ist, wenn man nur weiß, was. Unsere Köchin jedenfalls verfügte nicht nur über dieses Wissen, sondern auch noch über die Fähigkeit der idealen Zubereitung, und mehr will ich dazu hier gar nicht sagen.

Stattdessen möchte ich einige Gedanken anstellen zur Stadtentwicklung in Zürich, und zwar deshalb, weil die Kommune in den letzten Jahren einen gewaltigen Entwicklungsschub durchgemacht hat. Ihr könnt euch vorstellen, dass man nach wie vor am Waldrand verschiedenste lizenzierte und essbare Pflanzen pflücken kann, denn das erwähnte Mahl fand tatsächlich in Zürich-Höngg statt, einem Quartier am Rand des Siedlungsgebietes. Daneben aber sind tausende von neuen Wohnungen entstanden, zum Teil durch die Überbauung ehemaliger Landwirtschaftsflächen, von denen bald nicht mehr viel übrig bleibt, und zum Teil in einem Prozess, in dem die Wohnbaugenossenschaften, die in der Stadt Zürich fast einen Viertel des Angebotes stellen, ihre alten und kleinen Häuser abrissen und durch neue ersetzten. Dabei sind nicht vor allem mehr, sondern größere Wohnungen entstanden, weil der moderne Mensch eindeutig mehr Wohnraum konsumiert als derjenige vor fünfzig Jahren. Allerdings gab es kaum einmal größere Würfe, das heißt, Überbauungen, die richtig in die Höhe gehen. Nahe beim Hauptbahnhof entsteht die einzige Ausnahme rund um einen Büroturm, der ein paar Monate lang das höchste Gebäude in der Schweiz ist, aber ansonsten stieg die Geschoßhöhe bloß von durchschnittlich vier auf durchschnittlich sechs. Man hat immer noch große Mühe, sich mit dem Konzept einer richtigen Stadt wie z.B. New York anzufreunden. Dabei würde ich New York durchaus nicht tel quel als Vorbild nehmen, bloß die Skyline bzw. die Entwicklungsrichtung, die halt auf dem beschränkten Platz logischerweise in die Höhe geht. Davon ist man in Zürich noch weit entfernt.

Trotzdem hat sich nicht nur der Bedarf an Wohnraum erhöht, es sind auch neue Menschen in die Stadt gezogen, in jüngster Zeit hauptsächlich aus Deutschland, übrigens, Akademiker aus dem ehemaligen Westdeutschland und Fachkräfte aus dem ehemaligen Ostdeutschland. Mehr Menschen bedeutet auch mehr Verkehr. Vor zwanzig Jahren gab es in der Stadt Zürich die Doktrin, den Privatverkehr nach Möglichkeit aus der Stadt draußen zu behalten, in der Stadt selber zu schikanieren durch rigide Verkehrsflussregelungen und durch Parkplatzeinschränkungen. In der Bevölkerung rummelte und grummelte es, aber da gleichzeitig die öffentlichen Verkehrsmittel immer besser wurden mit Schnellverbindungen zwischen einigen Stadtteilen, hielt sich der Aufruhr in Grenzen. Vielmehr war es dann nicht zuletzt die Verkehrspolitik, welche zur Einsetzung einer mehrheitlich sozialdemokratischen Stadtregierung führte, der sich bald noch ein paar grüne Elemente hinzu gesellten. – Übrigens wird hier auch die Stadtregierung nicht in einem System von Regierung und Opposition bestellt, sondern die Mitglieder werden mehr oder weniger gemäß Wählerstimmenanteilen gewählt, und so hat es neben den Roten und den Grünen durchaus auch drei bürgerliche Stadträte, bloß die gesamtschweizerisch stärkste Partei, die rechtsnationale SVP, hatte in den letzten Jahrzehnten überhaupt kein Brot mehr bei den Stadtratswahlen. –

Jedenfalls wird Zürich zwar von einer Konkordanzregierung regiert, also von VertreterInnen unterschiedlicher Parteien, aber in der Mehrheit rot-grün. Dennoch entwickelt das Wachstum der Stadt eine eigene Dynamik, welche die Prinzipien einer umweltfreundlichen Verkehrspolitik immer mehr untergräbt. Soeben wurde ein neues Parkhaus mitten in der Stadt Zürich fertig gestellt, und langsam beginnt man wieder von einem Stadttunnel zu sprechen, was steht für eine Autobahn mitten in die Stadt hinein und wieder hinaus, nachdem die Umfahrungsstraßen seit ein paar Jahren fertig gestellt sind. Rot-grün im Wachstumsmodus ist, mit andern Worten, ziemlich exakt gleich wie jede andere Politik im Wachstumsmodus. Ich weiß nicht, ob das lustig ist oder nicht, aber was ich dringend vermisse, das sind eine Sorte von Originalität sowie ein Hauch an Zukunftsorientierung. Ich habe hier schon verschiedentlich von den möglichen Inhalten gesprochen: Erstens, und das versteht sich von selber, hat der Individualverkehr in einer Stadt nichts zu suchen, bis auf Zulieferer, Taxis und Krankentransporte. Daneben muss man, wenn man eine Stadt entwickelt, immer mehr in die Höhe denken. Das heißt, man sollte nicht einfach die Anzahl der Stockwerke der Gebäude vervielfachen – das würde heißen, man bleibt letztlich doch am Boden. Vielmehr sollte man in regelmäßigen oder gerne auch unregelmäßigen Abständen zusätzliche Ebenen einziehen in das Streben nach dem Himmel. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, Gehsteige über die Dächer zu legen, sei es in der Form von Hängebrücken oder was auch immer. Es gibt aber auch die Möglichkeit, die Häuser, soweit sie nicht sowieso zusammen gebaut sind, was man von einer gewissen Höhe an nicht empfiehlt wegen der Erdbebensicherheit, die Häuser also auf der Ebene, sagen wir mal des 10. und des 20. Stockwerks miteinander zu verbinden, erneut in der Form von Gehsteigen. Die wären dann zwischen den Häusern separat zu verankern, sodass sie die relativen Schwankungen bis zu einem Erdbeben der Stärke 5 auf der Richter-Skala locker verkraften. Oder aber bzw. gleichzeitig entwickelt man Plätze, Einkaufsmalls, Versammlungsräume, Vergnügungsmeilen halt auf der 20. Etage statt im Parterre. Wieso denn nicht. – All dies habe ich schon gesagt – aber die Realität sieht anders aus. Eine Priorität bei der Entwicklungsplanung liegt in der Reduktion des Energieverbrauchs pro Person, und zwar auf 2000 Watt bis im Jahr 2050, im Gegensatz zu den durchschnittlich 6000 Watt, die man vor ein paar Jahren noch in der Schweiz konsumierte. Das heißt, neue Häuser werden nach Minergie-Standards gebraucht, da ein Großteil der Energie für Heizung aufgewendet wird, neben dem anderen Teil für Verkehr; und übrigens soll auch das Internet ganz toll Strom verbrauchen, habe ich jüngst gelesen in einem Beitrag unseres Bundesamtes für Gesundheit, Energie und Blödheit: Der Versand eines Word-Dokuments im Umfang einer A4-Seite soll gleich viel Energie verbrauchen, wie wenn man das gleiche Dokument mit einem Velokurier in eine 25 km entfernte Lokalität transportieren lassen würde. Wirklich, in dieser Beziehung sind wir unterdessen ganz große Spezialisten und absolute Spitzenreiter geworden. Die Eidg. Technische Hochschule Zürich produziert am Laufmeter echte Energie-Spezialisten, die dann eben z.B. ins Bundesamt für Energie wechseln und intelligente Berechnungen anstellen; aber gleichzeitig sind einige Gebäude derart lausig wärmeisoliert, dass man im Winter keinen Unterricht drin organisieren kann. Hat uns jedenfalls vor ein paar Jahren ein Hauswart erzählt. Und die Stadt Zürich fälscht ihre Zahlen für die Energiestatistik, damit sie nachweisen kann, welche Fortschritte sie angeblich macht auf ihrem Weg in Richtung 2000-Watt-Gesellschaft. Das wirklich Wichtige ist aber, dass ob all dieser Erbsen- bzw. Kalorienzählerei die Luft verloren geht für eine größere Schau. Stattdessen baut man eben wieder Parkhäuser mitten in die City und reaktiviert Stadtautobahn-Pläne, welche von der Bevölkerung schon vor vierzig Jahren abgelehnt wurden. Und vor allem: Unter dem Titel des Energiesparens bzw. des Energiebewusstseins kann a fortiori jeglicher Ansatz zu einer Stadtentwicklung unter den Tisch gekehrt werden, der nicht in das Konzept des rot-grünen Stadtrats passt. Beziehungsweise: Welcher sich nicht einfach der Eigendynamik dieser Stadtentwicklung beugt. Und das ist ganz und gar nicht lustig. Es wäre schön, wenn die Sozialdemokratie und die Grünen in dieser Stadt wieder mal ein paar Jahre in die Opposition müssten, dann würden sie vielleicht wieder das eine oder andere dazu lernen. Im Moment sind sie einfach überhaupt nichts mehr wert, mit Ausnahme vielleicht einiger kultureller Anlässe, die aber in jedem Fall unter einer anderen Regierungsmehrheit finanziell wohl noch besser bedacht würden.

Da schaue ich manchmal etwas sehnsüchtig nach Erfurt, das ganz simpel mehr Landreserven hat, und ich erinnere mich an meine Vision, die ich letzten Herbst mal, ebenfalls in einem Außenquartier hatte, nämlich dass man in etwa einem Kilometer Abstand vom Siedlungsrand eine Mauer bauen sollte. Nicht irgendeine Mauer; es könnte so ein breites Ding werden, in welchem man durchaus Wohnungen oder Ladengeschäfte ansiedeln würde, das auf jeden Fall alle paar hundert Meter die notwendigen Durchlässe hätte. Entstehen täte so ein geschützter Ort, an dem man meinetwegen eine Rennstrecke für Solarmobile aufbauen könnte oder Fußballfelder oder ganz einfach einen ordentlichen Park. Oder vielleicht eine Wasser-Anlage, wie man sie zu Zeiten der feudalen Könige noch baute. Das ist überhaupt ein wichtiger Hinweis für die Demokratie: Die Feudalzeit mag ihre Fehler gehabt haben, aber sie erlaubte doch immerhin manchmal echte große und schöne Würfe. Eine moderne Demokratie, welche über sämtliche Projekte nur noch den Bleimantel des Energiesparens oder aber der öffentlichen Meinung stülpt, die hat ganz entscheidende Momente der menschlichen Organisation vergeben. Die moderne Demokratie muss sich auch eine Portion Unpopularität leisten, solange das Volk nicht insgesamt aus aufgeklärten kleinen Despoten besteht.