"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kamerun -

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Vor drei Monaten habe ich an dieser Stelle in Aussicht gestellt, dass ich auf die Sache Wulff zurückkommen werde, sobald die Staatsanwaltschaft ihre Untersuchungen einstelle wegen irgendwelcher Nichtigkeiten, die insgesamt nur ein Vorwand dafür waren, den Politikern eures Landes die Omnipotenz der Bild-Zeitung und insonderheit von Kai Diekmann, dem Chefredakteur, in Erinnerung zu rufen. – Nun:
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10:52 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 12.06.2012 / 09:16

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 12.06.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Es ist noch nicht soweit, und es ist doch soweit, nämlich ermittelt die Staatsanwaltschaft Hannover weiter und pflügt sich durch sämtliche Unterlagen der gesamten Amtszeit von Christian Wulff, da sich bekanntlich in jedem Nebensatz und hinter jedem Ausrufezeichen eine Vorteilsnahme verstecken könnte. Die Staatsanwaltschaft Berlin dagegen hat ihr Verfahren eingestellt; hier ging es einerseits um Vorzugskonditionen beim Leasing eines Audi-Autos, was erfahrene Wirtschaftsjournalisten wirklich erschrecken muss, denn in der Regel verrechnen die Lieferanten beziehungsweise die freie Marktwirtschaft dem Staat und seinen Repräsentanten doch immer zu hohe Preise. Das schien also zuverlässig ein Beweis für vorauseilende, nachwirkende und allgegenwärtige Bestechung zu sein. Die Staatsanwaltschaft sahs nun doch nicht als erwiesen an. Aber der wichtigste Ort, wo Brot zu Fleisch wird bzw. zu Körper und dort zum Körper und Gegenstand des Verbrechens, das war in Berlin die ungeheure Vorteilsnahme in Form der Entgegennahme eines Bobbycars, vermutlich von ebendiesem Audi-Autohaus, das übrigens nach wie vor unfähig ist, Elektroautos zu produzieren, ebenso wie es unfähig ist, im Meistersinger-Chor der Visionäre des Automobilismus mitzusingen von automatisch gelenkten Fahrzeugen und dergleichen, obwohl oder gerade weil der Kalauer «Audi-Pilot» derart nahe läge – jedenfalls hat Frau Bettina Wulff von einem Autohaus nach dem Kauf nicht einer Waschmaschine, sondern eben eines Autos, was für eine Ministerpräsidenten-Familie aus Niedersachsen geradezu zu den Lebensinhalten gehört, wenn ich mich nicht irre, von diesem Autohaus dann auch noch einen bzw. den einen und eigentlichen – Bobbycar für Klein Wulff geschenkt erhalten. Diese Vorteilsnahme, meine Damen und Herren, mussten die Springer-Medien Bild, Welt und Berliner Zeitung in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit einfach publik machen.

Und jetzt hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt.

Nun gut, der Wulff ist erledigt, da brauchen wir darüber nicht mehr zu berichten. Aber dass sich hier eine Schmutz- und Schmutzfinkenkampagne unter der Regie des Springer-Verlags und von Kai Diekmann abgespielt hat, dass wollen wir dann eben doch nicht vergessen. Dass der Mechanismus hier ein hohes Tier erfasste und nicht eine arme Sau wie Katharina Blum im entsprechenden Buch von Heinrich Böll, verweist auf eine interessante Verschiebung in der Medienlandschaft, aber der Mechanismus als solcher bleibt exakt gleich widerwärtig. Konzertiertes Fertigmachen einer Person in der Öffentlichkeit, heißt er, und wäre ich ein Strafrechtsprofessor, ich würde diesen Straftatbestand ebenso ins Straf- wie ins Medienrecht aufnehmen.

Wie auch immer: Geduldig warten wir auf den Abschluss des Verfahrens in Hannover. In der Zwischenzeit nehmen wir zur Kenntnis, dass die Bobbycars nicht nur Vorteile verschaffen: Die Stadt Zürich zieht diese Plastikautos nach zwei Unfällen in städtischen Kinderkrippen aus dem Verkehr, das heißt aus dem Verkehr in den Kinderkrippen natürlich. Und gleichzeitig überlegt sich die Stadt, ob sie jetzt auch die Fußböden aus diesen Kinderkrippen entfernen soll, nachdem es immer wieder zu Stürzen von Kindern auf diesen Böden gekommen ist. Mit den Esslöffeln können sich die Kleinen in die Augen fahren, die Knete verschlingen sie wie Zuckerwatte usw. usf. Das Leben ist hart und unergründlich.

Wie steht es mit dem ehemaligen Deutsch-Westafrika? – Eigentlich staunt man ja immer wieder, dass Deutschland im Wettbewerb der Nationen um die Kolonien eine Zeitlang, korrekt bis Ende des Ersten Weltkrieges, auch einige kleinere Perlen besaß. In Westafrika sorgte ein gewisser Herr Nachtigal für die Erweiterung des Reichs um Togo und Kamerun. Heute leben in Kamerun auf einer Fläche von 475’440 Quadratkilometern – das sind rund 100'000 Quadratkilometer mehr als die Fläche Deutschlands – rund 20 Mio. Menschen, wovon ein Drittel als Highlander bezeichnet wird, und daneben Bantu, Kirdi und Fulani. Das Klima ist tropisch an der Küste und im Norden semiaride und heiß. Im Westen gibt es einige Berge; der Mount Cameroon gilt als einer der aktivsten Vulkane in Westafrika und ist über 4000 Meter hoch. Das ganze Gebiet ist durch starke tektonische und vulkanische Aktivitäten geprägt. Das Durchschnittsalter beträgt etwas unter 20 Jahre, was auf eine überdurchschnittlich hohe Sterblichkeit wegen AIDS zurückzuführen ist. Das Land verfügt über kleinere Erdölvorkommen und gewisse Bodenschätze und hat in jüngster Vergangenheit kaum Bürgerkriege erlebt, obwohl es wie das Nachbarland Nigeria ein religiöses Konfliktpotenzial zwischen Moslems und Christen gäbe, aber Präsident Biya hält das Land fest im Griff; er regiert seit 30 Jahren und wurde letztmals im letzten Oktober wiedergewählt mit rund 80% der Stimmen. Wirtschaftlich werden keine großen Stricke zerrissen; die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 30%, aber da kaum nennenswerte industrielle und Dienstleistungs-Aktivitäten vorhanden sind, ist das mit Vorsicht zu genießen. Illegaler Holzschlag sowie Großwild-Wilderei geben hin und wieder ein paar Nachrichten oder dass in diesem Land die Homosexualität verboten ist. Die Erdölproduktion beträgt 66'000 Barrel pro Tag, der Verbrauch 30'000 Barrel; die Exporte machen lustigerweise 101'300 Barrel aus, was wiederum einen Import erfordert, der die Höhe von 46'500 Barrel erreicht, womit das Saldo im besten Sinne aller Mathematikerwitze nicht etwa null ist, sondern um 20'000 Barrel negativ. All diese Angaben stammen wie immer aus dem zuverlässigen CIA World Fact Book.

In Deutschland ist Kamerun wohl am bekanntesten in der Person von Schorsch Kamerun, Sänger der berühmten Punkband Die Goldenen Zitronen und Mitbetreiber des Clubs zum Goldenen Pudel in Hamburg. Im Gegensatz zum Land Kamerun unterhält Schorsch Kamerun aber keine Botschaft in Berlin. Über allfällige Auftritte in Erfurt kann ich mich nicht äußern und auch nicht über die Rolle der Evangelisch-Lutheranischen Kirche in Schorsch Kamerun. Im Land Kamerun zählt diese jedenfalls etwas über 200'000 getaufte Mitglieder. Und meines Wissens war und ist Kamerun nach wie vor ein Schwerpunktland der evangelischen Entwicklungszusammenarbeit, aber heute konzentriert sich die wohl hauptsächlich auf die AIDS-Bekämpfung.

Togo gehörte ebenfalls zu Deutsch-Westafrika. In Togo wohnen 7 Mio. Menschen auf 56'700 Quadratkilometer; diese Angaben passen also eher zur Schweiz als zu Deutschland. In der Hauptstadt Lomé leben 1.6 Millionen, das Durchschnittsalter liegt auch hier bei knapp unter 20 Jahren. Tropisches Klima am Meer im Süden, semiarid im Norden; Togo ist eine Art von Korridor zwischen Ghana und Benin und stößt oben an Burkina Faso. Die Wirtschaft stützt sich nach wie vor hauptsächlich auf die Landwirtschaft ab mit Baumwolle als Hauptexportgut. Der Staatschef ist kaum bekannt, was für Afrika ein gutes Zeichen ist (es wäre übrigens auch für alle anderen Länder ein gutes Zeichen), er heißt Gnassingbé und befindet sich seit 7 Jahren im Amt. Regierungschef ist ein Herr Houngbo, den ich ebenfalls nicht kenne. Ebenso wenig ist mir ein Künstler bekannt, der sich den Namen Togo gibt, bloß eine Kaffeesorte, die bei uns immer häufiger verkauft wird.

Ja, so sieht sie in groben Zügen aus, die Gegenwart eurer kolonialen Vergangenheit, und ich würde mein kleines Vermögen darauf verwetten, dass die Zukunft dieser nie richtig auf die Beine gekommenen Ex-Kolonien bestimmt wird von der Auseinandersetzung zwischen den ehemaligen Kolonialherren, was im Fall von Togo wohl nicht Deutschland, sondern Frankreich ist, und den Chinesen, die ganz unspektakulär in diesen Ländern ihre Präsenz aufbauen, sei es mit Kapitalien oder durch diplomatische Beziehungen und Entwicklungshilfe oder auch ganz einfach mit der Flottille an kommunistisch-kapitalistischen Kleinunternehmern, die sich an fast allen Küstenlinien der ganzen Welt eingenistet haben und mit enormem Fleiß und unter schrecklichen Bedingungen ihren kleinen Reichtum zusammen arbeiten bzw. arbeiten lassen. Hier spielt die Musik, und zwar einen Tanz, dessen Umrisse ich wahrzunehmen vermag, aber die einzelnen Tanzschritte bleiben mir verborgen oder mindestens rätselhaft. Das kommt davon, wenn man nach dem Tanzkurs nie mehr aufs Parkett ging und auch keiner Volkstanzgruppe angehörte.

Eine weitere ehemalige Kolonie Deutschlands, wenn man so will, nämlich Griechenland, das von 1832 bis 1862 einen bayrischen König hatte, könnte demnächst ebenfalls nach Westafrika abdriften, wenn sich nämlich sämtliche staatlichen Strukturen auflösen, da offenbar keine einzige Kraft im Land ein Interesse an diesem Scheißstaat hat. Das schönste Zitat, das mir in letzter Zeit untergekommen ist, stammt von Andreas Drakopulos, der Kopräsident der Niarchos-Stiftung; er findet, dass die reichen Griechen zu wenig tun in Sachen Wohltätigkeit. Ja, genau, das ist es präzise, was dieses Land braucht: Wohltätigkeit der reichen Säcke. Von Steuern zahlen wollen wir mal nicht sprechen, das ist unfein und widerspricht übrigens auch ganz und gar dem neoliberalen Kanon. Da hilft es auch nichts, wenn man anfügt, dass die Schifffahrt- und Frachtindustrie in Griechenland rund 300'000 Menschen beschäftigt und rund 13 Mrd. an Devisen produzierte, welche selbstverständlich die Handelsbilanz aufpäppeln. Aber Almosen statt Steuern – das ist wirklich eine derart vormoderne Haltung, dass man die Jungs allesamt in ihr eigenes Altertum zurück senden möchte, an dem sie sich offenbar ganz verzweifelt klammern in ihrer Suche nach einer Identität.

Und zum Abschluss dieses Afrika-Blockes noch die Mitteilung, dass die Schauspielerin Gwyneth Paltrow vor ein paar Tagen heftig des Rassismus beschuldigt wurde, weil sie über Twitter «Niggas in Paris» und ein paar Kommentare dazu veröffentlicht hatte, natürlich in der Twitter-Sprache, als sie am Konzert von Jay Z und Kanye West in Paris war. Die volle Wahrheit reichte in der Folge nicht aus als Entschuldigung. Die volle Wahrheit war jene, dass es sich um den Titel jenes Songs handelte, den sie gerade gehört hatte. Niggas in Paris, eben.