"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - "Peak Oil" -

ID 49710
 
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Zur Darstellung des Neonazi in der abendländischen Karikatur gehört der Brunzfleck zwischen den Beinen dazu wie die Glocke zum Geläut. Brunzdumm, besoffen und inkontinent. Man könnte auch noch die Zusammenrottung aus Feigheit anfügen, die praktische Selbstkarikatur des Übermenschen, aber all das bringt nicht viel.
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10:47 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.07.2012 / 14:25

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.07.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich komme bloß darauf, weil sich die katholische Kirche nicht entblödet hat, bei einem Kreis- oder Landesgericht in Deutschland Anzeige zu erstatten wegen des jüngsten Deckblattes des Satireheftes Titanic, das vorne den Papst von vorn besudelt und hinten von hinten besudelt zeigt. Und das besagte Kreis- oder Landesgericht hat diese Klage auch noch geschützt, wobei die bereits ausgelieferten Exemplare ausgeliefert bleiben dürfen, und ich gehe mal davon aus, dass dies über 95% der Auflage betrifft. Und so ist der Beweis wieder einmal erbracht, dass Satire alles darf und überdies nach wie vor gemeingefährlich ist und natürlich und vor allem letzte und geheime Wahrheiten aufdeckt. Denn so ist sie doch, die katholische Kirche: denen ihr Papst rinnt vorne wie hinten. All das ist natürlich schon grausam lustig.

Sprechen wir von was anderem. Die weltweit größte Unternehmung, welche persönliche Daten sammelt und auswertet, ist offenbar eine gewisse Acxiom Corporation in den USA; der Hauptzweck der Tätigkeit besteht darin, KonsumentInnenprofile zu erstellen und technische Lösungen anzubieten, welche den einzelnen Konsumenten in seinem Konsumverhalten möglichst weit begleiten, d.h. jeweils die Produkte jener Firma auf den Bildschirm oder auf das Handy rücken, welche für diese Dienste gerade bezahlt. Dies fällt umso einfacher, je breiter die Datenspur ist, welche der Konsument hinterlässt, z.B. auf Facebook, aber auch mit seiner Kreditkarte oder mit seinem Mail- und Mobiltelefonieverkehr usw. usf. Dass dies nun möglichst effizient gebündelt wird und den Verkaufshäusern als Entscheidungs- und auch als Handlungsgrundlage dient, ist zum einen frustrierend; zum anderen aber trifft einen die Erkenntnis schlagartig, dass sich die Konsumenten weitgehend gleich verhalten, und zwar mit oder ohne Handy und Kreditkarte. Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es zirka 70 Typenprofile, nach welchen sich Acxiom richtet, und dies reicht offenbar aus, um die moderne Bevölkerung zu klassifizieren. Immerhin: Es sind längst nicht mehr nur zwei Klassen, Proletarier und Kapitalisten, das haben wir eigentlich schon länger vermutet; aber 70 ist auch nicht so besonders viel und erlaubt keine richtige Freude mehr über die persönliche Eigenart. Bei einer Bevölkerung von 7 Milliarden Menschen entfallen auf jedes Profil rund 100 Millionen Menschen, und insofern haben also nicht nur Neonazis einen Hang zur Zusammenrottung, sondern auch alle anderen Menschen, wenn auch nicht unter einem angeblichen politischen Programm, sondern bloß im Rahmen des identischen Kaufverhaltens. Der Verdacht liegt aber nahe, dass hinter dem Kaufverhalten eine ganze Vorstellungs- und Gedankenwelt stehen könnte, dass sich also der moderne Mensch in 70 Subkategorien aufteilen lässt, deren Unterschiede sich bei genauem Hinsehen immer stärker verwischen. Das ist etwas bitter und insonderheit eine Attacke auf die Individualitätsvermutung, welche doch wohl den zentralen Punkt unserer Identität ausmacht, oder nicht? Und umgekehrt betrachtet ist man geneigt, die alte Feststellung zu bestätigen, wonach die Produkte nicht mehr die Bedürfnisse des Menschen oder der Menschen befriedigen, sondern dass die Menschen unterdessen zu einer Eigenschaft der Waren geworden sind. Aber bei allem Respekt vor schönen und nebulösen Kalauern: Ganz genau so verhält es sich dann letztlich doch wieder nicht. Immerhin spielt dieses Thema hinein in die große Frage unserer Zeit, nämlich was sich mit diesem Kunstprodukt gegenwärtig überhaupt abspielt, mit dem Kunstprodukt der menschlichen Gesellschaft nämlich. Lange haben wir sie als ökonomisch determiniert angesehen, und eben, soweit der Mensch eine Funktion der Produkte ist, die er einkauft und konsumiert, erscheint diese Determinierung als vollendet, wenn auch in einer etwas anderen Art und Weise als ursprünglich angenommen. Aber der Mensch ist trotz allem nicht pure Ökonomie, vielmehr ist er umso weniger Ökonomie, je stärker die wirtschaftlichen Grundlagen zur Selbstverständlichkeit werden. Stattdessen stelle ich mir hin und wieder vor, wie es auf unseren Straßen aussehen täte, wenn alle Beziehungen der Personen sichtbar wären, all die Kraftfelder, in denen sie sich bewegen, von der Familie über Freund- und Feindschaften bis hin zur Vorstellungswelt, wobei ich davon ausgehe, dass gerade in der Vorstellungswelt sehr viel Kollektives vorhanden ist; aber insgesamt muss ich, nur schon wenn ich die Anzeigenseiten irgendwelcher Gratisblätter betrachte, darauf schließen, dass es auf der Welt doch verdammt viele Geheimgesellschaften gibt, von denen ich so wenig weiß wie ehemals der König von Frankreich von meiner Ur-Ur-Urururgroßmutter.

A propos König von Frankreich: Am 14. Juli, also am französischen Nationalfeiertag, war ich in einem Konzert, bei dem das Publikum gezwungen wurde, die Marseillaise zu singen. Deren ihr Text lautet ungefähr wie folgt: Auf, ihr Kinder des Vaterlands, die Tage des Ruhms sind angebrochen. Die Tyrannei sammelt ihre Truppen um ihre blutigen Standarten; hört ihr das Geheul ihrer wilden Soldaten? Sie kommen und erwürgen eure Kinder und Frauen. Greift zu den Waffen, Bürger! Bildet eure Bataillone, und marschiert! Tränkt die Felder mit ihrem unreinen Blut! – Na, das ist doch mal eine Nationalhymne, die sich gewaschen hat, genauer eigentlich eine Bürgerwehr-Hymne.

Jedenfalls ist es ein prägendes Merkmal der modernen Gesellschaft, dass immer mehr verschiedenartige Menschen miteinander zusammen leben, ohne dass sie sich gegenseitig allzu stark auf die Füße treten. Das heißt gleichzeitig, dass es eben keinen restriktiven Verhaltenskodex mehr gibt wie früher und vor allem, dass die Trägerinstitutionen dieses Verhaltenskodex immer mehr in den Hintergrund treten. Deshalb ist auch die Titanic bloß noch etwas lasch, wenn sie der katholischen Kirche auf die Soutane pinkelt – das hat soviel satirische Sprengkraft und auch genau so viel Humor wie eine Dose Niveacrème. Genau das ist es eben nicht mehr, dies sind nicht mehr die Spielregeln, und wenn ich und einige andere Menschen wohl ebenfalls verzweifelt auf der Suche nach den neuen Spielregeln sind, die es unzweifelhaft gibt beziehungsweise die ich im Verdacht habe, sich genau jetzt, in diesem kleinen Moment gerade zu organisieren, dann finde ich das aufklärerische Gehabe gegenüber längst untergegangenen Konstrukten bloß mager lächerlich. Aber anderseits gebe ich zu, dass man nicht jeden Monat einen Satire-Weltrekord aufstellen kann, sowenig wie ich im Freien Radio Erfurt International jede Woche eine analytische Großmeister-Leistung erbringe. Immerhin bin ich schon soweit, dass ich die Frage einigermaßen richtig formuliere: Welches sind, bittschön, die Spielregeln der herauf kommenden Gesellschaft? – Das interessiert mich übrigens rein wissenschaftlich; ich möchte eine Ahnung davon haben, in welcher Form meine Enkel und Enkelinnen über mich lachen werden, so viel Vergnügen muss sein.

In den Umrissen kann ich noch nachtragen, dass dieser neue Gesellschaftsvertrag justament aus der Kollision zwischen den unglaublichen Verbindungen der Menschenmoleküle oder –atome untereinander zum einen, der wirtschaftlichen Organisationsform zum anderen hervor gehen wird. Ob wir dazu erst ein Higgs-Teilchen identifizieren müssen, bevor wir zu einer postmarxistischen Gesellschaftswissenschaft vorstoßen, kann ich nicht sagen, aber dass die entsprechenden Untersuchungen andere Inhalte und Töne haben müssen als die französischen Schwadronierer-Soziologen und –Philosophen, soviel steht fest. Immerhin scheint deren Hoch-Zeit unterdessen schon ganz dramatisch abgelaufen zu sein, sodass eigentlich nur noch unser guter alter Peter Sloterdijk als letzter lebender französischer Philosophen-Dragoner gelten muss.

Und eines ist sicher: Im ganzen Konzert spielt weiterhin die Energie eine zentrale Rolle, und die Beherrschung neuer Energieformen, vor allem auf subatomarer Ebene, wird der Schlüssel sein für die Technologie der Zukunft. Die konventionellen Energieformen dagegen verschieben ihr Aussterben auf ein späteres Datum, wenn ich das richtig verstanden habe, und zwar geht das so, dass nämlich nicht nur in der Arktis und im chinesischen Meer noch ansehnliche Reserven vorhanden sind, sondern offenbar liegen noch gewaltige Vorkommen zwischen Brasilien und Afrika, von denen ein Teil vor Brasilien langsam erschlossen wird und maßgeblich zum dortigen Wirtschaftswunder beiträgt, während wir über die definitiven Auswirkungen auf die afrikanischen Ländern vorderhand nur spekulieren können. Jedenfalls lautet die geologische Hypothese so, dass die Vorräte seit dem Aufbrechen des Urkontinents Pangaea im Paläozoikum, vor rund 225 Millionen Jahren zunächst in die Kontinente Laurasien und Gondwanaland und dann weiter an ihrem jeweiligen Ort vorhanden sind. Laut Wikipedia war übrigens Pangaea nicht einfach der Urkontinent, sondern der letzte der verschiedenen Urkontinente, die sich im Lauf der Erdgeschichte immer wieder gebildet haben, zuvor namentlich Columbia oder Nuna vor 2 Milliarden Jahren, dann Rodinia vor 1 Milliarde Jahre, gefolgt von Pannotia und dann eben Pangaea.

Wie auch immer: Der Peak Oil muss schon wieder vertagt werden, unter der Voraussetzung, dass es gelingt, eine Bohrtechnologie zu entwickeln, die man ein paar tausend Meter unter der Ozeanoberfläche anwenden kann; und vor allem kann man davon ausgehen, dass die US-Amerikaner demnächst ein Afrika-Expeditionscorps zusammenstellen werden, denn dort liegt offenbar viel mehr Erdöl verborgen, als man das bisher angenommen hat. Damit steht auch der nächste Clash of Civilizations bevor. Ein Nebeneffekt der ganzen Angelegenheit wird es dann vielleicht, dass auch die ZentralafrikanerInnen umgewandelt werden in KonsumentInnen, deren Datenspur man dann endlich auch einmal auswerten kann. Ich bin sicher, dass sie sich auf diese leuchtende Zukunft eigentlich schon jetzt ganz toll freuen, auch wenn sie noch gar nicht wissen, dass sie auf ihren Erdölvorräten sitzen, welche ihnen demnächst die internationalen Erdölmultis unter dem Arsch wegzaubern werden. Nebeneffekte sind zu erwarten, sowohl im Bereich Umweltverschmutzung als eben auch eines gewissen Wohlstandes, der sich auf die ihm eigene Art auch in dieser Weltregion verbreiten wird. Angesichts all der Spannungen, die schon jetzt rund um das Erdöl ausgebrochen sind, namentlich im Sudan, aber auch in Nigeria, kann man jetzt schon davon ausgehen, dass der internationalen Presse auf absehbare Zeit die Schlagzeilen nicht ausgehen werden.

Das wirft wiederum die andere Frage auf: Erscheint es irgendjemandem wünschenswert, auf den Titelblättern nur noch Meldungen zu lesen wie: Die Ampel hat schon wieder von rot auf grün geschaltet, bravo Verkehrsleitsystem? – Lieber nicht. Eigentlich brauche ich eine gewisse Dosis an Katastrophen zum Morgenkaffee.