"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Geisteswachstum -

ID 50208
 
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Wir habens geschafft: In den nächsten Tagen, maximal Wochen überschreiten wir hier in der Schweiz die Schwelle von 8 Mio. EinwohnerInnen. Nun ist das nächste Ziel natürlich Österreich, das noch um ungefähr eine halbe Million Menschen vor uns liegt, und wenn wir die geknackt haben, dann seid als nächstes Ihr dran, Deutsche! Ich hoffe, Ihr habt angemessen Angst. –
Audio
10:47 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.08.2012 / 09:51

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 14.08.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Tatsache ist auf jeden Fall, dass wir unseren Bevölkerungszuwachs in erster Linie euch verdanken, nämlich der Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus allen Branchen, was auf mirakulöse Art und Weise wiederum einen Zuwanderungssog erzeugt, wir wachsen hier in fast Angst erregender Geschwindigkeit. Und das mitten in einer gewaltigen Systemkrise. Uns ist das ja selber etwas peinlich, wir wissen nicht so recht, wie uns geschieht; zum Teil führen wir das Phänomen darauf zurück, dass die Schweiz nicht in die EU eingetreten ist, zum Teil auf vernünftige Institutionen, zum Teil auf den starken Franken, und zwar insofern, als dieser die Wirtschaft schon längst dazu gezwungen hat, die Massenfertigung aufzugeben und sich auf Nischenprodukte zu spezialisieren; insgesamt weiß man aber schlicht und einfach nicht, woran es liegt, dass unsere Alpenfestung die letzten paar Jahre derart glorios überstanden hat. Und selbstverständlich breitet sich die klamme Angst in der Volksseele auf, dass es so nicht lange weiter gehen kann. In der Zwischenzeit essen wir aber noch eine Wurst oder einen ganzen Wurstsalat.

Wachstum in Zeiten der Klimaerwärmung, der Ressourcenknappheit und der Energiekrise, das kann nicht gut gehen. In der Tat: Die Eiskappe der Arktis schmilzt, in den USA vernichtet die Hitze die halbe Mais-Ernte, auf den Philippinen überschwemmen die Taifune das ganze Land, vor einem Jahr hatten wir das in Bangkok, Ernteausfälle in Russland sind die Regel, und trotzdem wächst auch die Erdbevölkerung von Jahr zu Jahr, vor einem Jahr warens ungefähr 7 Milliarden, irgendwo müssen die einen neuen Menschentyp entworfen haben, der sich von Katastrophen ernährt. Nicht als Menschentyp, sondern als Beruf gibt es das bereits, nämlich die Journalisten und namentlich die kritischen Journalisten, welche dafür sorgen, dass den Grünen das Wählermaterial nicht ausgeht, auch wenn die Parteispitze schon längst im Establishment angekommen ist, aber für die Verwaltung der Klimakatastrophe denkt man nach wie vor zunächst an sie und nicht an eure Allzweck-Bundeskanzlerin Merkel oder gar an die Piratinnen und Piraten, welche sich mit solchenen Themen noch gar nicht beschäftigt haben. Der moderne Pirat beschäftigt sich mit Vorliebe mit geistigem Eigentum, und damit ist er aber anderseits mitten drin in der Wachstumsdebatte, denn, meiner Treu, wer heute unter Wachstum noch ein so genannt materielles Wachstum meint, und zwar bei uns, in den entwickelten Gesellschaften, der ist wohl nicht ganz bei Trost – bei uns wird nicht mehr in greifbaren Konsumgütern gewachsen, sondern eben auf der immateriellen Ebene, angefangen bei der Kommunikation bis hin zu all den anderen Bereichen wie zwischenmenschliche Beziehungen oder auch nur der, letztlich wohl onanistischen Beschäftigung mit dem eigenen Wohlergehen, welches sich heute schon zu über 50 Prozent in der Vorstellungswelt organisiert. Selbstverständlich braucht es dazu auch noch einige interessante Produkteangebote, aber die Durchschnittseuropäerin konsumiert heute nicht mehr einfach ein Produkt, sondern viel stärker die Idee davon, angefangen bei der Marke bis hin zur ganzen Aura, welche das Angebot umweht, und hier haben die Propagandistinnen der Geisteswelt unterdessen in einem Ausmaß Recht erhalten, dass es ihnen völlig schwindlig werden müssten, wenn sie genügend Tassen im Schrank hätten, um das überhaupt wahrzunehmen. Aber das haben sie natürlich nicht, sie meinen immer noch, die Geisteswelt umfasse irgendeinen wabernden Duselnebel, ohne dabei an das Higgs-Feld oder an Materie-Strings zu denken. Dertweil stellt das reale Wirtschafts- und Gesellschaftssystem immer gründlicher um und ab auf jene Begleiterscheinungen der Dinge, welche eben die Menschen in ihrem Inneren zusammenhalten. Da wird in nächster Zeit wohl eine ganz neue Theologie oder Humanphysik verfasst werden, und wie gesagt: Hier ist Wachstum mehr oder weniger unbeschränkt nicht nur möglich, sondern eine Tatsache.

Ich habe den Eindruck, dass die Finanzwelt bereits einige lustige Abstecher in diese immaterielle Sphäre hinter sich hat, und zwar in mehrerer Beziehung. Erstens ist Geld an und für sich sowieso eine eigenartige Ware und die Geldhändler fast metaphysische Gestalten, die seltsamerweise immer im Kleid der schrankenlosen Gier herum wandern und sich auf Gedankenpolstern aus dem 18. Jahrhundert niederlassen, so im Stil von «die unsichtbare Hand des Marktes«. Die Explosion an Phantasie jedoch, welche die letzten 30 Jahre auf den Finanzmärkten geprägt hat, das ist ja nicht nur als Kunstwerk bewundernswert, sondern der Beweis dafür, wie Heißluft ganze Volkswirtschaften – nein, jetzt kommt nicht, wie Ihr von mir erwarten würdet: in den Ruin treibt, ganz im Gegenteil: wie Heißluft ganze Volkswirtschaften antreibt. Dies ist nicht Biogas, sondern Geistesgas. Unsere ganze Gesellschaft, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer, funktionieren seit längerer Zeit praktisch ausschließlich mit Geistesenergie. Allerdings fehlen dazu sämtliche Vorsätze, es fehlen auch alle Gebrauchsanleitungen, es fehlt überhaupt an Bewusstsein davon; die Erfahrungen werden bloß in der Praxis angehäuft, nie aber gemäß einem System. Wie gesagt: Es wird Zeit, dass man solche nackten und harten Tatsachen bei Gelegenheit einmal in ein halbwegs korrektes theoretisches System fasst.

Außerordentlich lustig dabei ist der Umstand, dass die Menschen bisher kein analytisches oder überhaupt Interesse für diese Sphäre gezeigt haben, sie erkennen sie nicht einmal als solche, mindestens soweit sie darin nicht ihre Phantasiegehälter erzeugt haben. Vielmehr beharren sowohl die Menschen als auch die Politiker auf jenem anderen Killerbegriff, der Realität, unter anderem auch in der Wirtschaft, wo eine der spöttischsten Bezeichnungen denn auch Realökonomie heißt. Damit wird nun jenes Alltagsspiel bezeichnet, im Rahmen dessen auch heute noch Millionen von Menschen um 6.30 Uhr früh aus den Federn kriechen, um sich um 7.30 am Ort der realen Wirtschaft einzufinden, diesen am Mittag für eine Stunde zu verlassen und um 17 Uhr wieder nach Hause zu kommen. Was soll ich euch sagen: real ist dieses Spiel wohl, aber ökonomisch ist es nicht. – Man soll es aber auch nicht schlechter machen als nötig: Dank dieser Realökonomie haben sich die Menschen mindestens einigermassen daran gewöhnt, miteinander anständig und im Rahmen bestimmter Proportionen umzugehen, wobei besagte Proportionen vielleicht exakt das ausmachen, was wir Zivilisation nennen. – Aber dies ist eher eine Anmerkung, auf der ich nicht wirklich beharre. – Und dann muss man auch noch anfügen, dass sich bisher niemand in der Lage gesehen hat, ein Alternativangebot vorzulegen, wie man also aus diesem Wirtschaftszirkus hinaus in das richtige Leben treten soll. In der Praxis hätte dies vermutlich zunächst verheerende Folgen, wenn plötzlich 80 Prozent der Menschen keine Beschäftigung mehr hätte, sondern nur noch Luft, das wäre wirklich eine Katastrophe. Denn eben, die Befriedigung der Bedürfnisse findet längstens nicht mehr durch die Produkte selber statt, sondern durch die damit verbundenen Beziehungen und Bedeutungen, und der Arbeitsplatz bietet nun mal den allermeisten Beteiligten genau jenes Universum, in welchem sie diese Beziehungen finden und ausleben. Nicht zuletzt übrigens die negativen! Was wäre der Mensch, wenn er nichts mehr hätte, über das er sich aufregt! Im Lauf einer durchschnittlichen Arbeitsbiografie entwickelt der Durchschnittsangestellte zwangsläufig seine ureigene Charaktersymmetrie mit Schurken, neutralen Wesen und echten Freundinnen und Freunden. Wenn all dies ersatzlos gestrichen würde, die Welt ginge unter. Deshalb ist eine der zentralen Fragen bei der Erschaffung einer angemessenen Zukunft jene, wie denn in besagter Zukunft die Beziehungsgeometrie einzurichten wäre. Welche Plätze dafür vonnöten wären. Und gegebenenfalls auch, ob sich eine solche Geisteswelt möglicherweise um eine Etage nach oben verschieben ließe, sodass alle Menschen zum Beispiel in der Lage wären, die musikalische Struktur eines Eminem-Hits oder die kultursemantische Struktur eines Hühner- und Volksmusik-Stadels zu vergleichen mit jener von Brahms-Oratorien usw. Wenn dies der Fall sein sollte und wenn sich die Gesellschaft dann anschickte, ihre Energien nicht mehr auf Lachnummern wie Credit Default Swaps oder anderweitige angeblich strukturierte Produkte zu lenken, sondern auf Dinge, die auch außerhalb des Geldfetischs Spaß machen, dann zeichnet sich am Horizont wohl auch eine Lösung für die Umweltkatastrophe ab.

Bis es aber soweit ist, plagen wir uns weiter herum mit Lohnforderungen, Zahlen aus der Exportindustrie, der Staatsverschuldung und der Eurokrise und eben all den Klimakatastrophen, zu denen der Planet selber mit verschiedenen Erdbeben und ähnlichem geradezu eine Art von Takt zu klopfen scheint. Und hier in der Schweiz wachsen wir vor uns hin und kratzen uns im Zwölftagebart und fragen uns, wo das wohl alles hin führen wird, denn wenn man nämlich einmal so weit oben ist, dann kann der Weg logischerweise nur nach unten gehen. Und dieser schwarze Präsident der Vereinigten Staaten, der scheint auch nach wie vor keine Anstalten zu machen, seine Wiederwahl auch nur einigermaßen in die Wege leiten zu wollen, die Katze hat sich einen Zahn ausgebissen, und so weiter und so fort.

Alles ist Geschichte bzw. Geschichten sind alles. Narrative, nennt man das hin und wieder, früher sprach man auch von Mythen. Insgesamt aber gilt, dass, je höher entwickelt die Gesellschaftsordnung ist, desto stärker sie abhängig ist von Strings, von Fäden, von Pfaden, welche sowohl die einzelnen als auch die Gesamthandlungen plausibel erscheinen lassen, unabhängig davon, ob sie es wirklich sind. Eine Ablage in einem Büro zum Beispiel ist ganz und gar sinnlos, sie ist sogar eine gähnende Leere, wenn nicht irgend jemand darauf beharrt, dass man sie unbedingt braucht, weil irgendwann einmal die Versicherung oder wer auch immer. Fünf Jahre später landet der ganze Mist im Altpapier. Aber das sind nur die einfachen Ebenen. Die ganze Gesellschaft wird von solchen Narrativen zusammengehalten, nein, sie wird dadurch gebildet. Der Nationalstaat zählt anerkanntermaßen zu diesen Gebilden, und eigenartigerweise hält er sich bis heute, weil da ein anderes Element ins Spiel tritt, das zu solchen Geschichten eigentümlich quer liegt, nämlich die Interessen. Interessen materialisieren sich gerne rund um bestehende Geschichten, weil das als der effizienteste Weg erscheint, sie auch durchzusetzen, und insofern wirken sie gerne auch schon mal ziemlich konservativ. Aber eigentlich geht es ganz unabhängig von dieser Frage darum, welche Erzählungen wir in Zukunft haben wollen. Wir stehen eigentlich dauernd vor der Wahl jenes Märchens, das wir uns selber erzählen wollen bzw. das wir uns selber neu erschaffen. Von Tag zu Tag.