"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Goldman Sachs -

ID 50722
 
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Vor ein paar Tagen war im nicht hoch genug zu schätzenden Fernsehkanal Arte ein Dokumentarfilm über die US-Bank Goldman-Sachs zu sehen, der gar kein Dokumentarfilm war, weil Goldman-Sachs darin zum Vornherein die Rolle der oder des Bösen einnahm, des Weltverschwörers oder der Weltverschwörerin, welche dabei ist, sich nun auch Europa untertan zu machen.
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11:10 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 11.09.2012 / 10:30

Dateizugriffe: 487

Klassifizierung

Beitragsart:
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 11.09.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Als Beleg dienten in erster Linie die zahlreichen oder zahllosen SpitzenbeamtInnen und -politikerInnen aus allen Ländern, welche über kurz oder lang bei Goldman Sachs gearbeitet haben, vom griechischen Ex-Ministerpräsidenten Lukas Papademos über den italienischen Techniker-Ministerpräsidenten Mario Monti bis zu Mario Draghi, dem Chef der Europäischen Zentralbank, und als deutscher Vertreter in diesem Spinnennetz wird der ehemalige Bundes- und EZB-Banker Otmar Issing genannt, der heute noch als internationaler Berater von Goldman Sachs fungiert und daneben auch schon seine 76 Jahre auf dem Buckel hat, also vielleicht doch nicht mehr der ganz große und üble Top-Shot der legalen Bankverbrecherei ist.

Es gibt nicht nur eine Internationale der Topbanker, sondern auch eine der kritischen Topjournalisten, und dementsprechend wälzt Arte hier einfach um, was zuvor schon in anderen Medien, konkret in den üblichen verdächtigen Zeitungen wie Le Monde, die Zeit usw. dargelegt wurde, und es ist, meiner Treu, weder hier noch dort etwas anderes als die Illustration eines Vorurteils beziehungsweise eines letztlich verschwörungstheoretischen Weltbildes. Die Freimaurer, Bilderberger, in einschlägigen Kreisen gerne auch das Weltjudentum, in weniger verdächtigen Zirkeln die Finanzoligarchie oder eben das Finanzkapital bilden eine Geheimgesellschaft mit dem Zweck, die Menschheit abzuschlachten, auszusaugen, dem Volkskörper Pest, Syphilis und Staatsverschuldung anzuhängen usw. usf. Bei Le Monde, der Zeit und beim Fernsehsender Arte sind die Unterstellungen selbstverständlich gemäßigter. Verschwörungstheoretisch werden die Beiträge dennoch, und zwar deshalb, weil sie es komplett versäumen, die durchaus korrekten Angaben in Beziehung zu setzen mit den Realitäten. Papademos, Monti, Draghi und Konsorten können nur demjenigen als Teil einer globalen Verschwörung erscheinen, der annimmt, die Spitzenpositionen bei den internationalen Zentralbanken müssten von blütenweißen idealen Führungspersönlichkeiten besetzt werden, auf welchen keinerlei Verdacht irgendwelcher Beziehungen zu den pechschwarzen verrotteten privaten Instituten lastet, die mit anderen Worten vom Bankgeschäft null Ahnung haben. Und das ist einfach absurd. Die europäische Zentralbank, aber auch die US-amerikanische Federal Reserve und alle weiteren Institutionen haben alles Interesse daran, ihre Führungsgremien mit Leuten zu bestücken, welche etwas vom Geschäft verstehen und auch ein paar interessante Beziehungen haben in der Finanzwelt, was sich übrigens automatisch ergibt, wenn wir mal davon ausgehen, dass in der internationalen Bankenwelt, durchaus wie im richtigen Leben, nicht immer die Fils à Papa Karriere machen, sondern durchaus jene, die sich neben den Ellenbogen auch mit Kompetenz durchgesetzt haben, weil sonst nämlich sowohl sie selber als auch ihr Institut schnell weg vom Fenster sind. Das gilt hüben, bei den Privatbanken, wie drüben bei den Zentralbanken.

Mit anderen Worten: Es gibt keine Verschwörung; es gibt die Realität des internationalen Banken- und Zentralbankengeschäfts, über deren konkrete Gestalt wir nach der Finanzkrise etwas genauere Informationen haben, wobei diese Informationen in der Regel den Spekulationsteil betreffen, was uns nicht dazu verleiten sollte, diesen mit dem Gesamtgeschäft zu verwechseln und die ganz hundskommunen internationalen Bankinstitute als Vampire zu begreifen. Sie sind ganz einfach Teile des internationalen Finanzsystems, und zwar wichtige Teile für das Funktionieren des Gesamtsystems. Dabei sind ihre Interessen logischerweise immer kommerzieller Natur, aber das heißt noch lange nicht, dass ihr Bemühen darauf ausgerichtet ist, möglichst jeden Tag die internationale Staatengemeinschaft nach Möglichkeit auszusaugen. Auch hier gilt das gleiche Prinzip wie überall im Kapitalismus: Das beste Geschäft ist jenes, welches man stabil über die Jahre hinweg zu ordentlichen, also durchaus Durchschnittsrenditen betreiben kann. Wenn sich zwischendurch Möglichkeiten für Sonderprofite ergeben, wird man sich die selbstverständlich nicht entgehen lassen; wenn sich zwischendurch Möglichkeiten eröffnen, Schulden auf die Staaten zu überwälzen, wird man sie ausnutzen; aber insgesamt ist dies keinesfalls so etwas wie eine Verschwörung, sondern die ganz normale, hundskommune Realität im kapitalistischen System, Stand 2012.

Auf der verschwörungstheoretischen Seite Zeitgeist Online wird das gleiche Material natürlich noch viel gründlicher ausgeschlachtet, und da steht zum Beispiel zu Mario Monti, dass er in Yale studiert habe, ausgerechnet dort, «wo bekanntlich die Mitglieder des geheimen Eliteclubs «Skull and Bones» (auch «Order of Death») rekrutiert werden – ein Großteil der US-amerikanischen Elite ist in diesem Club versammelt.» Ich muss zugeben, dass der Blödsinn dieser Sorte wenigstens ein bisschen Geheimnis in unsere ansonsten recht platt rationale Welt bringt, aber damit hat sich’s dann auch schon wieder. Für mich bzw. für uns muss ganz einfach gelten: Unser System beruht nicht auf einer Verschwörung von Geheimgesellschaften, sondern ursprünglich auf der Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalistenklasse und dann in fortlaufenden Schritten zunehmend auf der vollautomatisierten und voll globalisierten Produktion und Verteilung der Waren und Dienstleistungen, wobei die Finanzindustrie einen ganz zentralen Part zu spielen hat, namentlich der Finanzierung von Investitionen, aber auch von Warenflüssen, ganz abgesehen von der Bereitstellung der wesentlichen Plattform für sämtliche Transaktionen, inklusive des globalen oder bald schon universellen Reiseverkehrs, nämlich des Geldes. Irgendwo in diesem Bereich kann oder soll man bohren, bevor man sich darüber wundert, dass sich die globalen Finanzinstitute und die Zentralbanken erstens aus Menschen zusammensetzen, die sich zweitens mehr als flüchtig kennen.

Hat Goldman Sachs die EU beraten bei der Einführung des Euro, unter anderem mit Assessments der griechischen Staatsbilanzen? – Die Antwort ist selbstverständlich Ja. Ob Mario Draghi dabei war, wie im Bericht von Arte unterstellt wird, wobei Draghi selber das standhaft bestreitet, ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass man damals Griechenland unbedingt in der Eurozone wollte, mit oder ohne Goldman Sachs. Wichtig ist, dass man im Jahr 1999 keinesfalls die Absicht hatte, im Jahr 2012 griechische Staatsschulden bei Privatbanken auf die Mitgliedstaaten der Eurozone oder der Europäischen Union insgesamt zu übertragen. Wer so etwas behauptet oder unterstellt, ist ein Idiot, und damit habe ich jetzt wohl ziemlich viele kritische JournalistInnen beleidigt. Die Jungs und Mädels wollten damals alle nur das Beste, inklusive selbstverständlich den üblichen Durchschnittsprofit für sich sowie einen möglichst großen oder möglichst wachsenden Teil am Kuchen, alles klar und paletti, aber eine Verschwörung, so wie sie im Nachhinein konstruiert wird, gab es mit letzter Sicherheit nicht. Mauscheleien an der Grenze zur Straftat und wohl auch darüber hinaus, das kam im Fall Griechenland mit Sicherheit vor, aber es wussten letztlich alle Bescheid; nur gingen sie davon aus, dass sich die Griechinnen und Griechen dann auf der neuen Währungsbasis verhalten würden wie die anderen Nationen in der Eurozone, das solide Geld auch solide investieren würden, vielleicht durchaus in weniger stabile Sektoren wie den Immobilienbereich, wie dies in Spanien der Fall war, aber immerhin in einem normalen Investitionsprozess. Dass sie dies nicht taten, freute anschließend die Exportindustrie in verschiedenen anderen Ländern, namentlich Deutschland, deren Gewinne die deutschen Steuerzahlerinnen jetzt halt im Nachhinein mit finanzieren, aber das kommt ja eh nicht drauf an, weil die sowieso schon verschiedene Industriebereiche voll finanzieren.

Goldman Sachs ist ohne Zweifel ein Bankgigant und hat als solcher gigantische Interessen. Von mir aus kann man diese Bank von heute auf morgen liquidieren, vor allem dann, wenn an ihrer Stelle etwas Besseres kommt. Allerdings erwarte ich mir keine Verbesserung von einer simplen Aufteilung solcher Bankriesen in kleinere Einheiten, welche die gleichen Geschäfte tätigen, einfach ohne die Effizienzgewinne der größeren Organisation. Begründen könnte man so etwas durchaus, zum Beispiel mit einer höheren Konkurrenz im Finanzwesen. Ich bin nicht überzeugt von solchen Argumenten. Stattdessen sehe ich den Finanzsektor in groben Konturen immer mehr als eine Art von öffentlicher Dienstleistungsangebot Er spielt eine erhebliche Rolle bei der Realisierung der unterschiedlichen Projekte der Gesamtgesellschaft, beziehungsweise dies wird richtiggehend zu seiner Bestimmung, und dafür scheint mir ein weitgehend zentralisierter Organismus besser geeignet als ein Universum möglichst kleiner Institute. Jetzt müsste man diesen zentralisierten Organismus nur noch in öffentlichen Besitz überführen, konkret: man müsste ihn verstaatlichen; aber ich bin geneigt zu glauben, dass dies gar nicht mehr unbedingt notwendig ist, denn genau jene Situation, wie sie im Arte-Film dargestellt wird, hat eine andere Seite: Goldman Sachs kann unterdessen keinerlei Geschäfte mehr tätigen, welche für alle Länder dies- und jenseits des Atlantiks völligen Nonsense und den Ruin der Staatsfinanzen bedeuten würden. Ganz im Gegenteil: Goldman Sachs und wohl auch alle anderen so genannten systemrelevanten Banken sind unterdessen längstens so etwas wie parastaatliche Institutionen geworden. Ihre Aufgabe besteht in der Substanz eben nicht im Schaffen von immer neuen Finanzinstrumenten mit der entsprechenden Orientierung der Investment-Banking-Abteilungen. Diese Aktivitäten haben aus einleuchtenden Gründen das Bild der Finanzindustrie in den letzten Jahren bestimmt und völlig zu Recht zur Diskreditierung eines ganzen Berufsstandes geführt, welcher sich mit keiner Faser gegen diesen Blödsinn gewehrt hat. Aber das Bild entspricht nicht der Realität, der Funktion der großen Bankhäuser. Wie gesagt: Sie sollen in Zukunft der Realisierung unterschiedlicher Projekte der Gesamtgesellschaft dienen. Um welche Projekte es sich dabei handelt, welche Form die Finanzierung und Refinanzierung annehmen kann und soll sowie ob es dann bei Gelegenheit endlich soweit ist, dass man diese Institute verstaatlichen kann, über solche Fragen sollte man sich endlich einmal zu streiten beginnen. Dass man es nicht tut, ist vor allem solchen vermeintlich kritischen Artikeln und Fernsehbeiträgen wie jenem über Goldman Sachs zu verdanken.