"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Lebensmittel -

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In meinem eigenen Interesse nehme ich an, dass es schwieriger ist, abstrakte Zusammenhänge zu begreifen, als konkrete Gegebenheiten zu kapieren, aber manchmal bin ich mir nicht so sicher, zum Beispiel im Bereich der Lebensmittel.
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10:23 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.10.2012 / 10:01

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 23.10.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Angefangen hat es damit, dass sich gewisse Produkte fast ausschließlich in ihrer Zubereitungsform aus den Büchsen in meinem Geschmacksregister festgesetzt haben, schöne Sachen wie Schwarzwurzeln oder Erbsen. Die Meinungen gehen ja bei der Konservierung generell auseinander. «Nach Großmutterart» ist geradezu ein Qualitätslabel geworden, dabei steht in keiner Art und Weise fest, ob die Großmütter wirklich alle so toll gekocht haben. Die ideale Großmutter, welche alle Zutaten und Produkte im eigenen Gemüsegarten heran zog und dann 13 Stunden täglich in der Küche stand, die ist wohl ebenso ein Phantasieprodukt wie Wilhelm Tell. Man kann vielmehr davon ausgehen, dass die Nahrungsmittelindustrie die Ernährungslage der entwickelten Nationen nicht nur in Bezug auf die Kalorien, sondern auch bezüglich der Qualität deutlich angehoben hat. Ich glaube, unsere Großmütter konnten alle nicht kochen, die meine vielleicht mal ausgenommen. Und von der Kochkunst unserer Vor-Vor-Vorfahren weiß man eigentlich nur, dass sie Haferbrei beschlug, Haferbrei und nochmals Haferbrei, den man aus Vertiefungen in meterdicken Holztischen heraus mampfte mit einem Holzlöffel, den jedes Kind zuerst einmal praktisch als einzigen Ausbildungsprozess selber schnitzen und mit den Fingernägeln aushöhlen musste. Und dann die Gewürze! Nicht nur waren sie lange ein absolutes Privileg der reichen
Oberschicht, sondern auch diese reiche Oberschicht verfügte noch lange nicht über so gewaltige und potente Verfeinerungsmittel wie zum Beispiel Maggi-Würze oder Knorr Aromat. Knorr Aromat, meine Damen und Herren – wer noch nie ein frisches Frühstücksei mit Knorr Aromat gegessen hat, soll das jetzt sofort nachholen. Jede Salatsoße wird sofort gerettet mit Knorr Aromat. Lang lebe das Glutamat! – Und zu den Großmüttern ist zu sagen, dass die sowieso nicht mehr sind, was sie mal waren, die werden immer jünger einerseits und leben anderseits immer länger, also auch das ist eine komplexe Sache.

Aber die Lebensmitteltechnologie ist ein zwiespältiges Ding. Wir haben zum Beispiel die Hersteller von natürlichen Aromen. Jedermann weiß, dass Tomaten unterdessen noch nicht mal im Hochsommer mehr nach Tomaten schmecken. Den einzigen authentischen Tomatengeschmack können wir nur noch von Chemiefirmen wie Givaudan oder Bayer beziehen. Das gleiche gilt für Erdbeeren, Vanille und Blattgrün. Bei Erdbeeren aus regionaler Produktion kann man während der Hochsaison gerade noch Reste einer Geschmacksvermutung identifizieren, während der Rest, der von Ende Februar bis zirka Ende Oktober aus den Plastiktreibhäusern in Südspanien geliefert wird, ein ausschließlich optisches Vergnügen bietet. Holländische Tomaten und südspanische Erdbeeren bilden so die ideale Fortsetzung des alten Habsburger Reichs. Dabei muss ich festhalten, dass mich nicht die Produktionsmethoden an und für sich stören. Ich zähle nicht zu jener Subgruppe der Menschheit, welche Brüsseler Salat nur dann essen, wenn er seinen Fuß in echter Erde gehabt hat, mir reicht eine Nährlösung völlig aus, vor allem für Brüsseler, an dem die Menschheit ja seit eh und je seinen Nicht-Geschmack schätzt, Chicoree ist der ideale Saucen-Träger. Aber Erdbeeren, Pflaumen, Nektarinen, Orangen und all die anderen Früchte ohne jegliches Aroma, das ist dann eben doch wieder fade, auch wenn sie heutzutage in den Supermärkten nur noch ein halbes Nichts kosten.

Auf eine andere Sorte schief im Mund liegen Esswaren wie Fischstäbchen. Diese Abfallprodukte der internationalen Raubfischerei schmecken zwar himmlisch, was jedes Kind bestätigen wird, vor allem mit lecker fetter Mayonnaise dazu und Salzkartoffeln, das ist einfach nach wie vor göttlich, aber der Zugang dazu ist, wie beim echt Göttlichen, leider verwehrt, da man eben endlich mit dieser Raubfischerei aufhören sollte, welche aus den oberen Meeres-Wasserlagen schon 80% der Biomasse entfernt hat und nun dabei ist, auch die unteren Schichten klinisch sauber zu putzen. Am schönsten in dieser Beziehung scheint mir jene Nachricht, dass für die Herstellung von Zuchtfischen, also von Fischen, welche eben nicht aus der Leerfischerei der Ozeane stammen, sondern aus Fischkulturen, gerade eben wieder die Abfälle der industriellen Leerfischerei verwendet werden, sodass pro Kilo Zuchtfisch ein halbes oder ein ganzes Dutzend Kilo Wildfisch-Resten zum Einsatz kommen. Also das ist wirklich besonders possierlich und illustriert sicher auch einen Satz aus irgendeinem philosophischen Grundlagenwerk. Fertig mit Zuchtfisch, mit anderen Worten, das MSCN-Zertifikat oder wie auch immer es heißt, ist eine pure Augenwischerei, in der Praxis eine verdammte Lüge , gegenüber gut meinenden KonsumentInnen, welche ihre Prinzipien auch dann noch wahren möchten, wenn sie dagegen verstoßen.

Ihr erinnert euch vielleicht an den anderen Ablasshandel mit dem Reisen, bei dem man der schönen Klimaschutzorganisation myclimate ein Prozent oder so der Kosten einer Flugreise zusteckt, damit die den entstandenen CO2-Effekt in einem ihrer wunderbaren Projekte kompensiert. Bloß dass diese myclimate-Organisation hinten und vorne nicht genügend eigene Projekte hat, welche in der Praxis zusätzliches CO2 absorbieren, sondern sie weist einfach bestehende andere Projekte als ihre eigenen aus. Aber das ist bei einem Jahresumsatz von um die 30 Millionen Euro noch nicht so gewaltig.

Eine nahrungsmitteltechnische Erleuchtung hatte ich seinerzeit, als ich erfuhr, dass unser täglicher Kaffeerahm aus Schlachtresten von Schweinen hergestellt wird. In der Zwischenzeit hat die Kaffeerahm-Industrie umgestellt, wie sie mindestens selber hoch und heilig schwört, ohne dass ich dazu verpflichtet bin, denen zu glauben, denn es gibt weiterhin Schlachtabfälle, und die wird wohl irgend ein findiger Kopf auch zu verwerten suchen. Ganz abgesehen davon, dass man so ne Schlachtabfälle bei der Verarbeitung zum Beispiel als Tierfutter für ansonsten vegane Tiere, die man so in echte Fleischfresser verwandelt, was mir eigentlich ein klammheimliches Vergnügen verschafft, da ich die vegane Ideologie für ziemlich verstockt und esoterisch halte, aber abgesehen davon kann man das so hergestellte Tierfutter, wie euch auch noch erinnerlich ist, ideal zur Verwertung von anderen Dingen verwenden, zum Beispiel von dioxinhaltigem Müll, wie dies vor ein paar Jahren in Belgien und in Deutschland der Fall war. Diese Sorte der Nahrungsmittelketten möchte ich eigentlich lieber gar nicht erst kennen, das Risiko, dass man dabei dann tatsächlich vegan wird, und zwar nicht aus esoterischen Gründen, erscheint mir zu hoch.

Letzthin saßen wir zu Tisch mit einer Bekannten, welche uns vor der Hauptspeise eine Geschichte auftischte über regeneriertes Fleisch. Dabei werden, ich nehme an: erneut Schlachtabfälle, aber vielleicht ist es auch einfach Gammelfleisch oder was weiß ich alles, jedenfalls werden diese ursprünglich fleischigen Teile zerstampft und dann in eine Nährlösung gegeben, welche irgendwie die Fleisch-Zellkerne regeneriert und die entsprechenden zellularen Brücken und Verbindungen wieder herstellt, sodass wir am Schluss ein völlig neues Fleisch haben, Retorten-Fleisch oder wie auch immer man dem sagen will, und offenbar ist das bereits in gewissen Verkaufsgeschäften im Handel, fragt mich nicht wo. Natürlich, natürlich, natürlich sehe ich den Recycling-Gedanken dahinter, natürlich sind mir all die Argumente geläufig, wonach eine Herde Rinderkühe in Argentinien soviel Methangas ausstößt, dass das Eis in Feuerland geradeaus verdampft, und so weiter und so fort, aber derartiges regeneriertes Fleisch kann mir locker gestohlen bleiben, das möchte ich an dieser Stelle noch gesagt haben.

Nämlich und a propos Recycling: Es ist ja nicht so, dass wir etwa zu wenig zu futtern hätten, zuwenig Nahrungsmittel für all die hungernden Mäuler und Bäuche auf dem Planeten. Was wir heute produzieren, reicht aus, um 12 Milliarden Menschen zu ernähren. Insofern brauchen wir uns nicht mal zu wundern, wenn wir so viele Lebensmittel fortschmeißen, denn man kann einfach nicht das Doppelte essen. Was es mit der Tatsache zu tun hat, dass gleichzeitig 500 Mio. Menschen oder 1 Mia. Hunger leiden und auch an Hunger sterben, darüber können euch andere Leute aufklären, jedenfalls kann es sich nicht um direkte kommerzielle Interessen handeln, sondern dieser Hund muss sich irgendwie im Dickicht der sozialen Organisation verbergen. Aber wie auch immer: Beschissen wird trotz diesem Überfluss massiv, natürlich auch deshalb, weil hier Subventionen und Reglementierungen praktisch ungehindert wuchern und proliferieren.

Beschissen wird zum Beispiel mit Diät- oder Spezialprodukten. Wer eine Weizen-Allergie hat, erträgt Gluten nicht, also die Proteine der so genannten Klebereiweiße. Dementsprechend ist mit glutenfreien Produkten gute Kohle zu machen, vor allem mit Teigwaren, die dann irgendwie mit Reis- und Maismehl und Stärke gebastelt werden. Aber wenn wir dann in der Drogerie Rössmann vollends Kartoffelpüree entdecken, das großartig als glutenfrei angepriesen wird, dann wird uns doch ein wenig schummrig, denn nirgends hat es weniger Gluten drin als in Kartoffeln und in Milch. Doch, in Fleisch natürlich! – Aber hier, na ja. Vermutlich ist das eine missratene Ladung gewesen, die man einfach zum doppelten Preis unter die Leute zu bringen versucht; aber ein halber Betrugsverdacht ist eindeutig etabliert. Ganz im Gegensatz zum erwähnten regenerierten Fleisch, wo nämlich in der Nährlösung, naja, jetzt halt diese Klebereiweiße zum Einsatz kommen. Die Folge: Gluten-AllergikerInnen müssen jetzt neuerdings tatsächlich mit separaten Warnhinweisen auf restrukturiertes Fleisch aufmerksam gemacht werden, nachdem man sich jahrelang den Spaß machen konnte, die Körnerfresser allein mit dem Gluten-Argument auf das hohe Gesundheitspotenzial von Rind und Schwein hinzuweisen. Alles für die Katz und den Hund und das Huhn.

Aber sprechen wir von etwas anderem: Am Wochenende haben die IsländerInnen einer neuen Verfassung zugestimmt, mit welcher zwei fundamentale Dinge verändert werden sollen: Erstens werden direktdemokratische Instrumente eingeführt mit Initiative, Referendum und Gegenvorschlag, ziemlich vergleichbar den in der Schweiz seit Jahr und Tag gängigen Dingen. Zweitens sollen alle Natur- und Bodenschätze in Staatsbesitz oder, für jene, die sich noch an die DDR erinnern, in Volkseigentum überführt werden. Das sind nun doch echt schöne und äußerst vernünftige Dinge, welche beweisen, dass so eine tüchtige Finanz- und Bankenkrise auch ihre schönen Seiten haben kann, wenn nur die Bevölkerung richtig reagiert. Allerdings haben die IsländerInnen mit dieser Abstimmung noch keine neue Verfassung, denn diese muss in einem halben Jahr zuerst vom Parlament ratifiziert werden, weil nur das Parlament über solche Sachen beschließen kann… Jetzt sind wir gespannt, ob das isländische Parlament unter dem Druck der Lage sich tatsächlich dazu entschließt, sich selber zu entmachten. Wir wünschen
ihm dabei jetzt schon viel Glück.