"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Geduld bringt Rosen -

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Manchmal frage ich mich, wie sich das Leben anfühlte im vorrevolutionären Paris, im Jahr 1789, oder sagen wir ein paar Jahre vorher, 1784 zum Beispiel.
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08:49 min, 16 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.12.2012 / 09:46

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.12.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich gehe davon aus, dass man keine Ahnung hatte vom Umsturz der göttlichen Feudalordnung; in den Salons bestimmte der Diskurs zwischen Aufklärung und Aufklärungsgegnern das Klima, ohne dass dabei eine wirklich antimonarchistische Stimmung herrschte. Stelle ich mir jedenfalls vor. Industrie und Gewerbe florierte, der damalige Erbfeind England hatte mindestens in Nordamerika gerade ein paar empfindliche Ohrfeigen einstecken müssen, während Frankreich die Zange zu schließen versuchte zwischen Nouvelle Orléans im Süden und Montréal im Norden, Industrie und Handel florierten, das Königshaus war auch nicht besonders antifortschrittlich eingestellt, man brauchte durchaus nicht auf eine Revolution zu wetten, die nach ein paar Jahren sogar den König das Leben kosten sollte. Ich frage mich dies vor allem deshalb, weil ich den Eindruck habe, wir selber leben in ähnlichen Zeiten. Handel und Industrie florieren, die herrschenden Klassen leisten auf der ganzen Welt keinen übermäßigen Widerstand gegen Strukturreformen, soweit sie nicht schon vollzogen sind, Afrika einmal ausgenommen, aber hier gilt im Moment sowieso noch eine andere Zeitrechnung; aber die Fundamentals, die materiellen Grundlagen unserer Gesellschaften präsentieren sich eigentlich recht sauber, und auch die hohen Arbeitslosenzahlen im Süden Europas erscheinen nicht zwingend als Symptome einer tief greifenden Systemkrise, höchstens eben der Strukturkrise in den betroffenen Regionen, in Spanien mit einem fehlgeleiteten Wirtschaftsboom und in Italien mit den schon lange vorhandenen Defiziten im Staatsapparat und im Süden mit der Konkurrenz zwischen Staat und mafiöser Verfilzung. Aber einmal unterstellt, es würde in all diesen Ländern gelingen, so etwas wie einen sozialdemokratischen Staatsapparat im skandinavischen Stil einzurichten, kann man davon ausgehen, dass sich diese Länder wieder erholen und dass sie davon profitieren werden, wenn einmal erst die südlichen Mittelmeerländer beziehungsweise das nördliche Afrika ganz in den Wachstumsmodus übergehen werden. Es könnte alles ganz anständig ausgehen.

Dagegen spricht die Finanzkrise beziehungsweise die Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten die Entstehung eines von keiner Realwirtschaft auch nur entfernt abgedeckten Sparkapitals die herkömmlichen Mechanismen aushebelt, zunächst noch nicht in der Warenwirtschaft, aber immerhin bei den öffentlichen Finanzen. Wenn es einen realökonomischen Imperativ gibt, dann wird dieser verlangen, dass dieses real-virtuelle Finanzkapital auf ein «vernünftiges» Maß zurückdimensioniert wird, sagen wir mal die Hälfte; dann wären die bestehenden Kapital- und Anlagegüter nur noch rund 3 Mal als Finanzkapital vorhanden, und das scheint ein erträgliches Maß zu sein, aber 6 Mal ist kritisch, insbesondere, weil dieses Finanzkapital wie ein Heroinsüchtiger nach ständig mehr schreit. Und wie soll so etwas geschehen? Wie will man bestehende Kapitalwerte halbieren? Wie soll man das den Pensionskassen klarmachen, welche schließlich dafür geschaffen wurden, den Konsum der älter werdenden Bevölkerung eben auch im Alter zu sichern, inklusive der neuen Wirtschaftszweige im Bereich Altenpflege oder generell Gesundheit bis hin zur Wellness? Und wie soll man es sich vorstellen, dass die Mächtigen dieser Erde, welche ihre Macht nach wie vor in Milliarden messen, die ihnen nicht unbedingt selber gehören müssen, aber auf die sie Zugriff haben, dass also diese Mächtigen widerstandslos auf die Hälfte ihrer Ansprüche verzichten?

Auf der anderen Seite steht eine Realwirtschaft, deren Wachstumsmodus mindestens in den entwickelten Ländern ziemlich absurd geworden ist. Diese Wirtschaft hat allerdings Spielfelder in Ländern wie China, in Lateinamerika und eben, sehr viel versprechend, demnächst auch im nördlichen Afrika, wo nun wirklich sämtliche Voraussetzungen für einen gewaltigen Schub vorhanden sind. Insofern ist das System der Realwirtschaft ziemlich lebendig, und es ist absolut vorstellbar, dass die Nebeneffekte dieser Entwicklungsschübe auch in den entwickelten Ländern für Beschäftigung sorgen, wenn man das bloß richtig spielt.

Grundsätzlich aber sind wir so weit, dass in den entwickelten Gesellschaften die Waren eigentlich mehr oder weniger kostenlos zur Verfügung stehen. Der Preis, den wir für die Produkte bezahlen, ist im Wesentlichen der Preis fürs Verkaufspersonal, für die Transporte und die Transporteure, ein bisschen für die Banken, ein bisschen für die Immobilienbesitzer und für den Staat; aber damit bestätigen wir eigentlich nur gesellschaftliche Verhältnisse, die sich halt in der Wirtschaft und damit dann im Produktepreis abbilden, keinesfalls mehr so etwas wie einen produktiven Wert, wobei ich mich vielleicht bei den Verkäuferinnen und Verkäufern entschuldigen muss, denn ihre Arbeit kann man ja locker auch als produktiv bezeichnen, und damit wäre mindestens ein Teil es Problems gelöst. Immerhin haben wir auf dieser Stufe bereits in die Praxis umgesetzt, dass sich die Gesellschaft eigentlich rund um ein Spiel mit Nonvaleurs eingerichtet hat. Damit fragt sich nur noch, ob die Verhältnisse im internationalen Austausch es erlauben, dieses interne Spiel ohne weitere Beeinträchtigungen zu spielen. Anhaltende Handelsbilanzüberschüsse oder die globale Exportweltmeisterschaft sind ebenso Anzeichen für ein Ungleichgewicht in dieser Beziehung wie ihr Gegenteil. Und solange solche Disparitäten bestehen oder sich vertiefen, solange kann auch das interne Spiel nicht funktionieren.

Es kommt dazu, dass mit der EU bekanntlich ein Organismus geschaffen wurde, welcher dieses Spiel der Realwirtschaft über die Länderebene hinaus transzendieren sollte. Diese Übung ist offenbar bis jetzt glorios gescheitert. Wenn auf Dauer hinaus alle einzelnen Mitgliedländer ihre jeweiligen Probleme individuell bzw. gegeneinander lösen müssen, dann hat auch die EU nicht längerfristig Bestand. Dann versteht man vielleicht bald einmal die Verleihung des Friedensnobelpreises an diese Institution als verzweifelten Versuch, zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Frankreich saniert seine Staatsfinanzen und seine Automobilindustrie zulasten von Italien, Deutschland deckt nicht nur Europa mit seinen Exporten zu, England kämpft um die Privilegien seines Finanzplatzes und sabotiert jeden europaweiten Lösungsansatz – diese Grundanordnung sieht zunächst nicht besonders hübsch aus.

Die Menschen in ihren Betten und auf ihren Stühlen spüren noch nicht überall Anzeichen einer echten Krise. Man ist sich schließlich auch daran gewöhnt, dass die Medien aus jedem Furz einen Tropensturm machen, auf die ist ohnehin kein Verlass; und die Güter des täglichen Bedarfs kann die weitaus überwiegende Mehrheit nach wie vor problemlos beziehen. Umgekehrt haben sich unterdessen der Lebensstandard und die Lebensgewohnheiten verändert. Somit gibt es in erster Linie schon mal kein kollektives Krisenbewusstsein. Vor solch einem kollektiven Bewusstsein fürchten sich nach wie vor die meisten in schlechter Erinnerung an die Nationalismen des 20. Jahrhunderts, obwohl der Nationalismus seit längerer Zeit wieder ein etablierter Bestandteil des öffentlichen und auch des politischen Diskurses ist. Aber die zugrunde liegenden sozialen Beziehungen haben sich ziemlich stark verändert. Man spricht nicht mehr laut von Solidarität, weil die Gefäße abhanden gekommen sind, in denen man sie leben könnte, wie gesagt: von der internationalen Ebene ganz zu schweigen. Anderseits braucht es für einen wirklichen plebejischen Nationalismus einen weiter gehenden Zerfall der Strukturen, als er jetzt absehbar ist.

Reicht das insgesamt aus für eine vorrevolutionäre Stimmung? Im Moment würde ich sagen, höchstens für eine vor-reaktionäre Stimmung. Denn was bei uns fehlt, ganz im Gegensatz zur französischen Gesellschaft im Jahr 1785, das ist ein fortschrittlicher Diskurs zum einen, zum anderen aber vor allem eine intelligente Bevölkerungsschicht, welche sich diesem Diskurs widmet, kluge Papiere schreibt, künstlerisch und im Lifestyle-Bereich wirklich erneuernd aktiv ist. Hin und wieder bezeichnet man das auch als Aufbruchsstimmung. Diese Aufbruchsstimmung kann ich einfach nirgends ausmachen.

Wie ich gesagt habe, war die Aufklärung im vorrevolutionären Frankreich durchaus nicht auf jene Klassen beschränkt, welche später die Revolution durchzogen, durchaus im Gegenteil. Die Massen, die sich auflehnten, benötigten zuvor gewisse moralische und intellektuelle Grundlagen. Wenn ich den Sprung weiter zurück machen darf, kann ich sagen, dass dies womöglich der Grund dafür war, dass vor 500 Jahren die Bauernkriege scheiterten. Auch damals erhoben sich zum ersten Mal die einfachen Menschen, aber sie waren nicht nur waffenmäßig schlechter ausgerüstet, sondern auch ihre argumentativen Waffen steckten noch in den Kinderschuhen. Naja, es gab wohl noch überhaupt kein entsprechendes Schlachtfeld. Und dementsprechend kann man doch mit einiger Legitimation darüber spekulieren, auf welchen Ebenen sich denn bei uns eine Auseinandersetzung entwickeln könnte. Denn dass sie kommt, beziehungsweise dass sie vermutlich schon länger im Gange ist, daran habe ich eigentlich keinen Zweifel. Bloß fehlen mir einige nützliche Hinweise darauf, wo ich mich am besten auf die Lauer legen könnte, um einen Zipfel des Mantels der Geschichte mindestens zu sehen. – Aber auch hier wird Geduld Rosen bringen.