Was ist der Wert? Zur zentralen Kategorie der Warengesellschaft

ID 5360
 
Was ist das wesentliche des Kapitalismus? Diese Frage stellt sich Marx im Kapital. Anders als gemeinhin vermutet wird, baut Marx seine Darstellungen zum Kapital nicht auf der Kategorie der Klasse bzw. des Klassenkampfes auf, sondern über eine Abstraktion, die er den "Wert" nennt. Die Sendung versucht möglichst einfach diese Kategorie darzustellen...
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35:51 min, 16 MB, mp3
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Upload vom 05.11.2003 / 00:00

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Klassifizierung

Beitragsart: Anderes
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Krisis - Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft
Entstehung

AutorInnen: Kooperative Haina
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 05.11.2003
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Was ist der Wert?
Ein vortheoretischer Einführungstext

von Christian Höner

Die ersten Werttheoretiker waren die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie: Adam Smith und David Ricardo. Sie gingen davon aus, daß die Arbeit, die benötigt wird, um ein Produkt herzustellen, den Wert einer Ware bildet. Die vergangene, verausgabte Arbeit liegt demnach gewissermaßen in der Ware und verleiht ihr so die Eigenschaft, Wert zu besitzen. Die Frage, warum überhaupt Produkte in den warenproduzierenden Gesellschaften eine Wert-Eigenschaft erhalten, konnten oder wollten sie nicht beantworten. Das tat dann ein junger Philosoph namens Karl Marx. Auch bei ihm führt der Weg zum Wert über die Analyse der Ware. Was ist nun so Entscheidendes an der Ware zu entdecken?

Gegenüber einem Produkt zeichnet sich eine Ware per Definition dadurch aus, daß sie gegen eine anderen Ware getauscht werden kann. Die Ware, z.B. ein Hammer, besitzt also nicht nur die Eigenschaft, daß er aus Holz und Eisen besteht und daß man mittels eben jenes Hammers Nägel in die Wand schlagen kann. Als Ware besitzt der Hammer "die Eigenschaft" tauschbar zu sein. Was ist damit gemeint?

Um beim Beispiel zu bleiben: Ein Hammer soll gegen eine Flasche Bier getauscht werden. Nun sind Hammer und Bier zwei völlig verschiedene Dinge mit völlig unterschiedlichen Zwecken. Ihre Unterschiedlichkeit mag zwar für denjenigen, der Bier trinken oder einen Nagel in die Wänd schlagen will, von Bedeutung sein. Für den Tausch als logische Operation ist ihre konkrete Nützlichkeit ungeeignet. Denn: Beim Tauschakt geht es ja bekanntermaßen um den Tausch von Gleichem oder Gleichwertigem. Wenn dem nicht so wäre, würde man bedenkenlos sein Auto gegen ein Stück Butter tauschen. Jedes Kind weiß, das das Auto wert-voller ist. Offensichtlich ist es nicht die qualitative Eigenschaft (also seine konkrete, sinnliche Natur) der Ware, die den Tausch möglich macht. Bier, Hammer, Auto müssen also irgendetwas besitzen, daß sie untereinander gleich und damit vergleichbar macht.

Was ist nun das Gleiche an einem guten Bier und einem robusten Hammer? Beide existieren nur, weil Menschen Energie zu ihrer Herstellung verausgabt haben. Dabei geht es allerdings nicht um die konkreten Tätigkeiten, die die Herstellung von Bier und Hammer erfordern, denn als solche sind sie völlig verschieden. Gleich und vergleichbar werden sie nur, wenn von ihre konkreten Natur abgesehen (abstrahiert) wird. Es geht dann nicht mehr um den konkreten Vorgang des Bierbrauens bzw. Hammerherstellens, sondern darum, daß überhaupt Energie verausgabt wird. Marx verwendet dafür auch den Begriff der abstrakten Arbeit. Abstrakte Arbeit -so Marx- vergegenständlicht sich in der Ware und bildet deren Wert. Um den Wert einer Ware betrachten zu können, muß also von der gesamten konkreten Erscheinung des Hammers abgesehen werden. Was man dann in den Händen hält, ist ein recht seltsames Häufchen verausgabter menschlicher Energie.

Wie aber ergibt sich nun die Größe des Werts? Daß die Zeit hierbei eine Rolle spielt, die zur Verausgabung menschlicher Energie an einer Ware notwendig ist, scheint einleuchtend. Nun gibt es da ein Problem: Der Hersteller eines Autos wird z.B. nicht auf den Gedanken kommen langsamer zu arbeiten, um den Wert seines Fahrzeuges zu erhöhen - was übrigens auch nicht passieren würde. Er muß sich nämlich mit seiner Konkurrenz und deren wissenschaftlich-technischen Vermögen, Autos herzustellen, messen. Allgemein kann man also sagen, daß sich die Größe des Werts aus der Größe der abstrakten Arbeitszeit in Abhängigkeit von der durchschnittlichen gesellschaftlichen Produktivität ergibt.

Wir wissen dank Marx zwar jetzt, daß die abstrakten Arbeitszeit in Abhängigkeit von dem Standart der Produktivität die Größe des Werts festlegt. Wie kann man jedoch diese Größe genau ermitteln? Ganz einfach: gar nicht. Es gibt zwar Stechuhren und Arbeitsplätze, wo die Einhaltung der Zeitvorgaben überwacht wird. Aber es gibt einfach keine Meßinstrumente, die die abstrakte Arbeitszeit oder gar den durchschnittlichen Standart der Produktivität irgendwie messen könnten.

Trotzdem gibt es Preise an jeder Ware, wie man sich in jeden Supermarkt überzeugen kann. Das liegt daran, daß Wert und Preis nicht identisch sind. Der Wert -so könnte man sagen- ist die eiserne Richtschnur um die herum der Preis zirkuliert.

Wer legt fest, welche Ware welchen Wert erhält? Die Antwort ist so einfach wie verwirrend: Die Waren selber. Das Irrsinnige dieser Feststellung sticht geradezu ins Auge. Dinge haben per se keinen eigenen Willen und erst recht können sie keine Entscheidungen treffen. Und trotzdem verhält es sich so. Warum aber? Indem die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer tagtäglichen Praxis ihre Produkte gegeneinander tauschen, setzen sie ihre Tätigkeiten einander gleich. Dieses Gleichsetzen verleiht den Produkten die gespenstige Eigenschaft, Wert zu besitzen. Gespenstig ist dieses Eigenschaft, weil es den Produkten von Natur aus nicht zusteht, Wert zu besitzen. Der Wert einer Ware, z.B. eines Diamanten ist auch durch eine atomare Analyse nicht zu ermitteln. Da sind nur Kohlenstoffatome. Wir haben es also mit einer Paradoxie zu tun: Der Wert ist da und auch wiederum nicht. Die Dinge besitzen nicht von Natur aus Wert, erst durch die Tauschpraxis der Menschen kommt der Wert in die Welt. Das Verhalten der Menschen wird paradoxerweise zu einer "Eigenschaft" eines Dinges; es "fährt" in die Dinge hinein und "beseelt" die Warenkörper, die sich nun scheinbar zu anderen Waren "verhalten" können. Das soziale Verhältnis von Menschen verkehrt sich zu einem verdinglichten Verhältnis von Sachen. Dieses Verhältnis von Dingen kann natürlich nur ein Scheinbares sein, aber es handelt sich um einen realen Schein, der sich erst verflüchtigt, wenn sich die Menschen nicht mehr in dieser spezifischen Art und Weise gesellschaftlich aufeinander beziehen.

Marx nennt das Unvermögen, nicht anders als über die "Produkte der menschlichen Hand" (Waren) gesellschaftlich aufeinander Bezug nehmen zu können, Warenfetischismus. Die mystisch-fetischistische Basis der aufgeklärten Warengesellschaft findet eine Analogie im Reich der Religionen. "Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand.", sagt Marx im 1. Band des Kapital. Ob Totem, Naturgötter, Gott oder die Ware: die gesellschaftliche Synthese erfolgt nicht in der Form eines unmittelbaren gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses, sondern indirekt durch unbewußte, gemeinsame Bezugnahme auf etwas scheinbar "Äußerliches", das scheinbar unabhängig vom bewußten Treiben der Menschen den gesellschaftlichen Zusammenhang wie eine Matrix strukturiert. Diese Matrix erscheint nicht als durch die Menschen gemachtes Verhältnis, sondern als ein quasi-natürliches bzw. naturgesetzliches.

Nun könnte es in der Natur des Menschen liegen, zu tauschen. Auch wenn der Mainstream der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften davon ausgeht, ist der Warentausch in den vormodernen Gesellschaften nicht das Vergesellschaftungsprinzip. Wenn überhaupt getauscht wurde, so handelte es sich um ein randständiges Phänomen. Die vormodernen Gesellschaften funktionierten als Subsistenzwirtschaften und diese verfügten über verschiedenste Formen der Verteilung von Produkten, z.B. durch persönliche Gewalt- und Abhängigkeitsverhältnisse. Es zeichnet erst die kapitalistische Gesellschaft aus, das das Tauschen zum einzigen Prinzip des "Stoffwechselprozesses des Menschen mit der Natur" wird.

Das es problematisch ist, wenn eine Gesellschaft sich nicht durch einen bewußten Vermittlungsprozeß herstellt, sondern ihre Existenz unbewußten, quasi-naturgesetzlichen Prozessen überläst, kann hier schon erahnt werden. Die logische Konsequenz für eine radikale Kritik dieses gesellschaftlichen Verhältnisses wäre, die Zentralkategorie des Werts zu kritisieren, anzugreifen und aufzuheben, um an die Stelle des Werts die bewußte Selbstverständigung der Gesellschaft über die Nutzung ihrer Ressourcen jenseits von Ware-Geld-Beziehungen zu setzen.