"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Daniel Hannan

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Letzthin habe ich einen älteren Vortrag des englischen oder meinetwegen britischen Europa-Abgeordneten Daniel Hannan am Cato-Institut in Massachusetts gehört, mindestens den Anfang, der mir gar nicht so übel gefiel, beginnend mit den gängigen rhetorischen Schlenkern, zum Beispiel mit einem 6-jährigen Kind, natürlich einem Knaben, versteht sich von selber bei dieser Sorte alter Knaben, den er jüngst auf einem Bauernhof getroffen habe, in der linken Hand eine Buddel Brandy und in der rechten eine Zigarre, und den er gefragt hätte, ob seine Eltern zuhause seien.
Audio
09:59 min, 11 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 11.02.2013 / 15:06

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 11.02.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
«Na, sieht es wohl so aus, als ob meine Eltern zuhause wären?», habe der Kleine geantwortet. Sehr schöner Witz aus der Güteklasse «Trekkerfahren», ihr wisst schon, und wenn nicht, müsst ihr’s auf Wikipedia nachschlagen, jedenfalls machte er sich dann doch umgehend an den Kern der Sache, nämlich erklärte er zuerst, dass die amerikanische Demokratie und die amerikanische Verfassung eigentlich englischen Ursprungs sei, die Grundzüge davon würden sich im Briefwechsel von zwei Herren Engländern finden, bevor sie dann von den Jeffersons, Washingtons und Konsorten aufgenommen und umgesetzt worden seien. Bis hierher alles in Ordnung; das macht jeder anständige Politiker. Dann hob er an mit dem Lob der US-amerikanischen Verfassung, welche die individuellen Freiheiten garantiere und dafür sorge, dass die politischen Entscheidungen so nahe wie möglich bei jenem Ort getroffen würden, wo sie auch Konsequenzen hätten – fein, Mann, dachte ich, das verstehe ich, ob ich dem vielleicht mal anrufen sollte? – Anschließend schilderte er, wie er eine Zeitlang im europäischen Parlament bei jeder Intervention zu jedem Sachthema wie Cato der ältere gefordert habe: «Ceterum censeo constitutio esse censendam», es muss eine europaweite Abstimmung über die europäische Verfassung durchgeführt werden. Erneut ein Volltreffer, meiner Treu, diese Konservativen haben einen drauf! – Und dann kam die scharfe Rechtskurve: Er hielt die amerikanische Verfassung in die Luft, ein Büchlein mit, ich weiß nicht, 7000 Worten vielleicht, und sagte, normalerweise hätte er an dieser Stelle die europäische Verfassung zeigen müssen, aber das gehe nicht, die Fluggesellschaft hätte sie nicht transportieren wollen, es sei ein Werk mit, ich weiß nicht, vielleicht 700'000 Worten. Und damit war der Beweis geführt.

Der Beweis wofür? Natürlich dafür, dass Daniel Hannan vielleicht ein halber Charmeur ist, ein liebenswürdiger englischer Causeur, aber mit Sicherheit absolut rücksichtslos umgeht mit dem einzigen Ding, auf welches es im gesellschaftlichen Umgang letztlich ankommt, nämlich mit der Wahrheit. Die EU-Verfassung bzw. die entsprechenden Verträge haben mit der US-amerikanischen Verfassung unglücklicherweise überhaupt nichts gemein, aus dem einfachen Grund, weil sie in keiner Art und Weise Rücksicht nahm oder Rücksicht nehmen musste auf die durchaus vorhandenen, allerdings nicht schriftlich festgehaltenen Verfassungen der paar hundert Stämme von Ureinwohnern, auf deren Ausrottung die US-amerikanische Nation unter anderem beruht. Im Gegensatz dazu kann weder der Engländer noch die Deutsche noch der Franzoserer den anderen Regierungen des alten Kontinents ein Dokument von 77 Seiten Kürze aufdrücken. So simpel ist es mit dem Vergleich von Mister Hannan, der natürlich den tosenden Applaus und das hämische Gelächter seines ignoranten konservativen Publikums einheimste.

Wahrheit ist, ich gebe es gerne zu, ein abstrakter Begriff, dem man im Leben niemals direkt über den Weg laufen will, aber eben, das Streben danach ist die einzige Kraft, welche die Genese und vor allem den Betrieb einer modernen Gesellschaft zulässt, und auch ein noch so konservativer EU-Parlamentarier sollte sich nicht einfach drum foutieren. Es hat sich ohnehin was mit den Vergleichen zwischen dem alten Europa und dem neuen Amerika. Im Prinzip berufen sich die Libertarier, also die reaktionäre Form der Anarchisten, nach wie vor auf Alexis de Tocqueville, welcher 1840 mit einigem Erstaunen die US-amerikanische Demokratie beschrieb; aber damals war die europäische Perspektive geprägt von der Restauration, von der Gegenaufklärung – und vor allem von der Tatsache, dass es in Europa mit wenigen Ausnahmen kein einziges Land gab, in dem alle BürgerInnen auch wirklich BürgerInnen waren. Die meisten wurden nach wie vor als Untertanen behandelt. Das hat sich in der Zwischenzeit gründlich verändert. Die moderne Gesellschaft muss nicht mehr das Individuum aus der Unterdrückung befreien, sondern es in eine moderne Organisationsform hinein führen. Der Freiheitsbegriff des 19. Jahrhunderts dagegen führt halt nur in eine Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Das ist auch der Grund dafür, dass das alte Europa im 21. Jahrhundert markant weiter fortgeschritten ist als das neue Amerika. Dort muss man wohl zuerst die Explosion der republikanischen Partei abwarten, bevor sich neue politische Kräfte gruppieren können anhand von Programmen oder mindestens Programmpunkten, die im Moment auch bei den Demokraten zwar Unterstützung haben, aber nicht die Parteilinie bilden. Dies wird eine spannende Entwicklung, zu der allerdings Denkpanzer wie das Cato Institute, dem übrigens auch die Volkswagen-Stiftung ein paar Dollars zufließen lässt, wohl kaum einen Beitrag leisten werden.

Es ist mir schon klar, dass die Entstehung neuer Gesellschaftsformen sich kaum einmal in ganzer Reinheit produziert. Gerade in den Vereinigten Staaten ist der Druck vom Süden ganz gewaltig und hat an der Nordgrenze Mexikos ein riesiges Gebiet ohne Staatsgewalt entstehen lassen; das müsste eigentlich die Libertarier aller Länder besonders freuen, aber sie äußern sich schon gar nicht dazu. Auch in Europa findet die Entwicklung nicht «rein» statt, sondern steht neben den endogenen Krisenfaktoren mit den Finanzmärkten und dem Problem übersättigter Märkte auch unter dem Druck aus Afrika, zum Teil aber auch aus dem Nahen Osten. Bloß scheint mir das viel leichter zu handhaben, indem die Länder Nordafrikas sich auf dem allerbesten Weg befinden, sich an die Lokomotive Europa anzuhängen, und zwar nach meinen Beobachtungen weitgehend geordnet. Die Probleme im Nahen Osten entstehen weniger direkt aus solchen Entwicklungsfragen, hier brechen gegenwärtig so ziemlich alle Konflikte auf, die während Jahrzehnten von autoritären Regimes unter dem Deckel der Auseinandersetzung zwischen Israel und den Arabern gehalten wurden. Sind die Sunniten, also relativ direkt die Saudiarabier verantwortlich für die Anschläge in der Kurden-Hauptstadt Kirkuk? Verüben in Ankara neuerdings wirklich Linksextreme Selbstmordanschläge? Greift Al Kaida neuerdings den jordanischen König an? – Es wird noch einige Zeit dauern, bis sich dort eine neue Stabilität herausbildet. Unterdessen haben immerhin einige Leitmedien gemerkt, dass im syrischen Bürgerkrieg nicht immer und ausschließlich die Regierungstruppen für sämtliche Gräuel verantwortlich sind. Mehr gibt es dazu leider im Moment nicht zu sagen.

Wenn ich hier übrigens von neuen Gesellschaftsformen spreche, so meine ich nicht übermäßig spektakuläre Verschiebungen. Nicht einmal die ganz offensichtlichen Strukturfragen einer weiterhin auf Arbeit ausgerichteten postindustriellen Gesellschaft werden eine Lösung in Form eines großen Knalls erhalten. Ich glaube vielmehr, dass sich demnächst einmal neue Vorstellungen herausbilden, welche solche Fragen ganz still und leise in den Hintergrund treten lassen werden. Man wird dann wohl ordentlich lachen über unsere Spekulationen und gescheiten Analysen, so, wie wir uns heute amüsieren über verschiedene seltsame Prognosen noch aus der jüngsten Vergangenheit.

Und manchmal kommen die seltsamen Prognosen dann doch wieder an die Oberfläche. Wenn gegenwärtig nicht von einer Euro-Krise die Rede ist, so doch von einer Krise der EU, und die ist natürlich eine Realität, mindestens was die Organisation angeht. Der britische Premierminister Cameron spricht von einem Referendum über die EU als von einer Drohung. Dabei ist es doch mehr als offensichtlich, dass eine solche Abstimmung endlich einmal durchgeführt werden muss. Nicht unbedingt als Referendum, bei dem die einzelnen Länder eine Option haben auszutreten, sondern als ganz simple Abstimmung der Bevölkerung, bei welcher die Mehrheit entscheidet über Zustimmung oder Ablehnung, eben zum Beispiel einer möglichst einfachen EU-Verfassung.

Unterdessen erfreuen wir uns an schönen Dingen wie zum Beispiel der Kinder-Schokolade. Ich finde es absolut überwältigend, dass mitten in einer geradezu hysterischen Welt der Besorgnis um das rare und teure Kindergut, inklusive all der Ernährungsratschläge und Kampagnen zur Verhütung von Unfällen, Schlafstörungen und Übergewicht der lieben Kleinen, die Marke Ferrero ihre Zuckerberge ganz unverblümt unter dem Markennamen «Kinder» an den Mann resp. eben an die lieben Kleinen bringt, so unschuldig, als wäre Kinder-Schokolade eigentlich die wichtigste und gesündeste Grundernährung und würde den Appetit auf Vitamine, Gemüse und Salate so richtig erst anregen, einmal abgesehen von der Karies, zu deren Bekämpfung man wohl ebenfalls Kinder-Schokoladenprodukte einsetzen kann. Der Nahrungsmittel-Multi Nestlé hat den Trend übrigens begriffen und bietet jetzt Mais-Frühstücksflocken an mit Schokoladegeschmack, aber mit Garantie mit nur 6 Gramm Zucker pro Kilogramm Cerealien. Das Schönste daran ist, dass sich die politische Korrektheit bisher noch nirgends auf den Ast hinaus gewagt hat, an diesem Markennamen auch nur die leiseste Kritik zu üben oder gar an der Marketingstrategie, welche immer größere Bereiche des Essenskorbes eines oder einer durchschnittlichen 5- bis 10-Jährigen mit Schokolade überzieht. Nicht einmal das ansonsten wirklich gewaltig aufmerksame Bundesamt für Gesundheit in der Schweiz hat dieses Tabu aufgegriffen. Vielleicht bezahlt Ferrero denen irgendein Forschungs– oder Präventionsprogramm, wer weiß. Jedenfalls grenzt das alles ein bisschen an die Vorstellung der vegetarischen Metzgerei. Anderseits ist es mehr als begreiflich, dass all die Mütter dieser Erde immer nur das Beste wollen, für ihre Sprösslinge und natürlich nachher auch für sich. Das hat Ferrero ganz gut beobachtet. Kinder, Kinder.