"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Englische Umgangsformen -

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Die Kunst weiß nicht immer, was sie ist, und das ist auch in Ordnung so, denn dafür haben wir ja die Theorie und die Kritik, bloß eines weiß sie, dass sie nämlich voran strebt und immer neue Räume und Formen sucht und auslotet.
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11:00 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 19.02.2013 / 09:48

Dateizugriffe: 415

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 19.02.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Vorne an der Kunst ist die Spitze oder mit einem etwas ältlichen Begriff: die Avantgarde. Die Vorhut, die man unter Künstlerinnen und Künstlern ruhig auch mal die Vorhaut nennen kann. Die Avantgarde ist oft hauptsächlich beschäftigt mit dem Zertrümmern vorgegebener Werte, was manchmal zu Ergebnissen führt, welche die normalen Menschen irritieren. Von dem Moment an zum Beispiel, da verwackelte und unscharfe Fotografien zu künstlerischen Standards wurden, waren plötzlich unheimlich viele Fotografen Avantgardistinnen. Über das Leuchten, Schimmern, Glühen, Glimmen, Strahlen usw. usf. der monochromen Helgen von Mark Rothko wird die Welt noch Jahrhunderte lang bramarbasieren. Es ist einerseits wirklich nicht mehr einfach, sich in der Kunst zu orientieren, weil man natürlich einen nahrhaften Scharlatanerie-Verdacht hegt, und anderseits ist man im Normalfall eben doch bereit, so etwas wie einen möglichen Fortschritt in allen Kunstformen und in Mischungen davon und auch beim Überlappen in den Alltag einzuräumen, sonst könnte man die Segel ja sofort streichen und sich schon mit 20 Jahren nach Miami in den Altersurlaub begeben.

Letztes Jahr wurde der Film «Post Tenebras Lux» in Cannes mit dem Regiepreis bedacht. Es scheint, dass nicht alle Kritikerinnen mit dem Streifen etwas anzufangen gewusst haben. Das war für uns natürlich ein willkommener Anlass für einen Avantgarde-Test, allerdings unter einem Vorbehalt: Der Titel tönt schwer symbolisch, sodass wir sozusagen unter Vorbehalt in den Kinosaal strömten. Nach dem Regen scheint die Sonne, na... Immerhin kann Mexiko auf eine gewisse Tradition des symbolischen Kinos zurückblicken, wobei es nicht immer gebürtige Mexikaner waren, welche für die Streifen verantwortlich zeichneten, sondern häufig Exilanten, die ihrer Exilproblematik anders nicht Herr werden konnten. Heute gibt es eigentlich kaum mehr Exilanten, wenn man es sich genau überlegt, noch nicht mal vor Georgieboy Wilhelm Busch sind die US-amerikanischen Kulturschaffenden in Massen nach Mexiko geflohen, sodass sich die Mexikaner jetzt in allen Belangen selber helfen müssen, auch mit dem Symbolismus, und da mag er dann halt etwas rustikal geraten. Wie wäre es mit einem Titel gewesen wie «Grün – Grau – Nass»? Jedenfalls waren das die bestimmenden Farben, aber ich will gar nicht übermäßig ungnädig sein: Trotz dem zu Voraus angekündigten Gag mit einer Kamera, die gegen die Ränder hin sozusagen ausfranst, also vor allem unscharf wird, was eine Wahrnehmungsfunktion symbolisch widerspiegeln wird, die ich gar nicht kennen möchte, ich weiß bloß, dass ich selber durchaus auch neben dem Blickpunkt Wahrnehmungen tätige, aber durchaus nicht unscharf, und ich weiß, dass diese Neben­wahr­neh­mun­gen ziemlich zentrale Signale ins Hirn übermitteln, was das Bewegen im öffentlichen Raum anbetrifft, aber das kann hier weder real noch symbolisch gemeint sein, denn zunächst stolperte da hauptsächlich ein zirka zweieinhalbjähriges Mädchen zwischen Kühen und Hunden auf einem Schlammfeld herum, während ein Gewitter aufzog, dessen Tenebras durch verschiedenen Blitz-Luxe erleuchtet wurden, während das Mädchen in der Dunkelheit verschwand und nur noch während den Blitzen als Silhouette wahrzunehmen war. Dies aber dauerte zirka 15 Minuten lang, und auf die Frage: Muss denn dieses Kind nicht nach Hause? Hat dieses Kind denn keine Mutter und keinen Vater?, leistete der Film zunächst keine Antwort, und auch später nicht. Nachher war die Familie dann einfach irgendwie versammelt in einem biotopischen Energiesparhaus oder so, neben Vater und Mutter strich noch ein fünfjähriger Junge durch die Räume, bald hatte der Teufel himself einen Auftritt, allerdings nur als rot strahlende Makette, da haben sie sich in anderen Filmen etwas mehr Mühe gegeben, aber jedenfalls kam er vor und war erkenntlich symbolisch. Am Schluss kam er ebenfalls nochmals vor, und die Kritik hat weltweit bemerkt, dass er einen Werkzeugkasten mit sich trug, ohne aber im Haus irgendwelche Reparaturen vorzunehmen.

Und dann, und dann, und dann wurde der eine oder andere Baum umgesägt, es gab eine Veranstaltung der Anonymen Alkoholiker, wir hatten ein paar Bilder vom mexikanischen Pazifikstrand, die Mutter stand oft am Herd und wurde von der Kamera mit dem Rücken angestrahlt, was sicher auch irgendwie symbolisch war für Hausfrau und Kommunikations­probleme; ein Freund entpuppte sich als Schuft beziehungsweise als Handlanger eines Schufts, worauf er sich ganz zum Schluss himself den Kopf vom Hals riss, was allerdings meines Erachtens etwas zuviel des Guten war, dann hatten wir noch das eine oder andere Familientreffen, bei dem unter anderem eine Karikatur eines Gringo-Investment-Bankers mit Zigarre im Maul sagte, dass er Dostojewski Tolstoi vorziehen würde und dass überhaupt Gogol der größte russische Schriftsteller gewesen sei, nachdem irgend jemand, vielleicht der Vater des anwesenden Kindes, den Großfürsten Pierre aus Krieg und Frieden zitiert hatte; der angestiftete Schuft, jener also, der sich am Schluss den Kopf abriss, schoss den Vater nieder, worauf dieser dafür sorgte, dass die vom angestifteten Schuft getrennt lebende Frau den angestifteten Schuft wieder einmal besuchte; ach, insgesamt, geschätzte Hörerinnen und Hörer, waren es zwei nicht völlig unangenehme Stunden, die wir da im Kino verbrachten, aber der Symbolismus war doch ziemlich ungelenk mit all diesen Schuld- und Sühne-Motiven, garniert eben mit dem veritablen Teufel und dem Kopfabriss, und alles in allem hatte alles mit allem gar nicht so wahnsinnig viel zu tun. Was mich am Schluss aber wirklich ärgerte, das waren die Typen, die Männer, welche in diesem Film verkörpert wurden, in einem Film nämlich, welcher mit Laiendarstellerinnen und -darstellern gedreht wurde, was unterdessen auch schon ein fester Bestandteil des Avantgarde-Kinos ist; aber die Männer waren nichts anderes als Stereotypen, Charaktermasken, die man nun schon seit bald 50 Jahren unverändert in allen halb und ganz mexikanischen Filmen herum laufen sieht. Ungeschliffen sind sie, aber es handelt sich auch nicht um Diamanten, sondern allesamt um Kotzbrocken, ob sie nun eine Zigarre im Gesicht stecken haben oder ihre Bekenntnisse bei den Anonymen Suchthaufen ablegen oder ob sie, wie der Pater Familias, sich rechthaberisch mit der Frau streiten in der unterdessen auch schon siebenundfünf­zigs­ten Auflage der Darstellung eines Ehekrieges, der sich scheints im mexikanischen Biodschungel trotz Mobiltelefonie und Keramikkochherd unverändert erhalten hat. Das macht übrigens den Film zusätzlich schwierig, die Konfrontation von symbolisch-magischen Figuren und Momenten mit dem harten misanthropischen Realismus, von dem nur die Kinder unberührt scheinen. – Und natürlich die Frau, die auch hier wieder ihre ewige Opferrolle einnimmt.

Nein, ich mochte diesen Film nicht sonderlich, und vor allem würde ich ihn weder avantgardistisch noch symbolisch nennen – Kollege Reygadas hat einfach ein paar Elemente zusammengenagelt, von denen man sich möglicherweise erhoffen konnte, dass der Trick mit den beiden Niveaus bei einer nicht besonders sattelfesten Kritikergemeinde ziehen würde. Was offenbar der Fall war.

Habe ich etwas vergessen? Dass die Kinder in gewissen Sequenzen nicht zweieinhalb und fünf, sondern acht und elf oder dreizehn und siebzehn Jahre alt sind, der Teufel weiß warum? Die Automarke? Ja, und noch vieles andere mehr, aber so ist das nun mal bei derart langen Filmen.

Weniger symbolisch und symbolistisch waren die Meldungen, die uns in den letzten Tagen aus England erreichten. Dass in Rindfleisch-Soßen Pferdefleisch drin steckte, das ist dabei geschenkt; das haben wir immer mal wieder in der EU, vom Gammelfleisch in Deutschland über Dioxin in Speisehühnern bis zu Maschinenöl in italienischen Tafelbutterbeständen, die über Frankreich ausgeliefert werden, das ist wirklich nichts Neues, und auch die Verschachtelungen der Liefer- und Verarbeitungsfirmen und der Liefer- und Verarbeitungswege erinnert fast ein wenig an die internationalen Schifffahrtsgesellschaften, die in Griechenland keine Steuern bezahlen und in Panama domiziliert sind. Am Tag darauf fuhr ich in die Westschweiz und aß ein Rosssteak, schön blutig, und bat den Kellner, er möge doch bitteschön genau aufpassen, dass in diesem Pferdefleisch auch ja kein Rind drin stecke.

Aber eben, ich meine nicht diesen Vorfall, sondern ich beziehe mich auf die Meldung, wonach es in Mittelengland ein Spital gebe, in dem über Jahre hinweg Insassen geradewegs verhungert und verdurstet seien. Das finde ich nun doch ziemlich bemerkenswert. Die Lebensmittel sind nämlich in der EU derart absolut idiotisch billig, dass es sich nicht einmal lohnt, Spitalinsassinnen verhungern zu lassen, es kommt das Spital eigentlich billiger zu stehen, die durchzufüttern. Hier stoßen wir auf einen Grad an Desinteresse, an Vernachlässigung sämtlicher Elemente, welche die moderne menschliche Gesellschaft ausmachen sollten und auf die doch auch in England jeder Regierungs­chef Stein und Bein schwört, dass es einem richtig seltsam wird in der Magengrube. Ich muss zugeben, dass sich diese Geschichte fast nahtlos anfügt an jene andere, gemäß welcher irgend ein dubioser Medienpräsentator über Jahrzehnte hinweg Kinder und junge Erwachsene sexuell missbraucht hat, angeblich ohne dass irgend jemand irgend etwas merkte. Das ist ja nun völlig unmöglich. Vielmehr scheint es in England ein Klassenbewusstsein zu geben, das ungefähr jenem des mittleren Adels im ausgehenden 16. Jahrhundert entspricht. Arbeiter, Menschen in prekären Lebensumständen, ImmigrantInnen und Sozialhilfebezüger haben für dieses Gesindel schlicht und einfach keine gesellschaftliche Dimension, die kann man nach belieben piesacken, vergewaltigen oder verdursten lassen. Das dürfte subkutan den gesamten sozialen Diskurs in Großbritannien prägen. Wenn sich eine Gesellschaft noch mit derart prähistorischen Auffassungen herum zu schlagen hat, und zwar ausgerechnet bei schönen Teilen der herrschenden Klasse, dann kann man mit solchen Leuten einfach zum Vornherein nicht vernünftig sprechen. Und als Beleg kommt die Meldung hinterher, dass der Leiter des besagten Hospitals unterdessen zum Chef der nationalen britischen Gesundheitsbehörde aufgestiegen sei und keinesfalls die Absicht habe, zurückzutreten.

Man kann sagen, das seien die Folgen des Sparkurses, den viele europäische Länder seit Jahren fahren und fahren müssen. Aber die Vorfälle in diesem Spital in Stafford haben lange vor diesen Sparmaßnahmen begonnen. Man kann auch beim Sparen noch einigermaßen den Blick für das menschlich Notwendige behalten. Aber in England ist dies einer Klasse von spätmittelalterlichen Adeligen offenbar unmöglich, denen übrigens der Typ des Investment Bankers, der sich ebenfalls keinen Deut um irgendwelche gesellschaftliche Realitäten kümmert, in direkter Erbfolge entsprungen zu sein scheint. Verblüffend aber ist, dass sich die alten aristokratischen Allüren gehalten haben, die gänzlich jenseits all dessen sind, was wir bisher unter englischen Umgangsformen verstanden haben.