"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Aprilscherz -

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Der 1. April liegt hinter uns und damit auch seine Scherze, wobei ich dieses Jahr von wegen Osterm­ontag nicht allzu viel bemerkt habe von den Scherzen.
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mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 02.04.2013 / 09:45

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 02.04.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Anderseits machen uns verschiedene Akteure der Weltgeschichte auch während dem Rest des Jahres viel Klamauk, so zu Beispiel der neue nordkoreanische Führer, welcher angeblich zur Selbstverteidigung einen Atomschlag vorbereitet. Nun, ich will es nicht hoffen, meines Wissens verfügt Kim Jong Un weder über die not­wen­digen Waffen noch über genügend Raketen, aber immerhin eine Presseagentur und diplo­ma­ti­sche Depeschenkanäle stehen ihm zur Verfügung. Der ehemalige große Führer Muham­mar Al Ghadaffi sorgte auch zu allen Jahreszeiten für Abwechslung, der US-amerikanische Präsident Wilhelm Busch behauptete, es gäbe im Irak Anlagen zur Produktion von chemischen Waffen, und an die Versprechen eurer eigenen PolitikerInnen habt ihr euch ja auch schon längst gewöhnt, ohne immer gleich einen Staatsstreich anzuzetteln. Der Unterschied zwischen Witz und Realität verschwimmt zunehmend, mindestens im Kommunikationsbereich. Manchmal aber auch im wahren Leben. So haben die Russen, habe ich mir anlässlich der Umstellung auf Sommerzeit sagen lassen, vor zwei Jahren die Winterzeit abgeschafft, sodass jetzt die Schülerinnen und Schüler morgens im Dunklen in die Schule tappen müssen und an das Schreiben von Klausuren in den ersten Lektionen nicht mehr zu denken ist. Russland auf dem Weg in die Moderne.

Aber das sind natürlich Details. Die Russen können auch den Mondkalender einführen, wenn sie wollen, es ändert nichts daran, dass sie eine Supermacht sind mit gewaltigen Rohstoffreserven auf zahllosen Gebieten. Vor allem wäre es kein Scherz, wenn Wladimir Putin die Nuklearkarte zücken würde, wenn ihm die Großmachtpolitik der US-Amerikaner im Süden Russlands einmal gründlich verleidet. Wir wollen aber annehmen, dass auch diese Option nicht zu einer realistischen Option wird; soviel Grips müsste in den Generalstäben beider Seiten doch noch vorhanden sein.

Genug der billigen Weltpolitik, sprechen wir über unsere eigenen Probleme und Chancen. Hin und wieder gebe ich an dieser Stelle wieder, was mir so zugetragen wird in Sachen Produkteentwick­lung zum einen, Überwachung zum anderen. Ich halte dies für die zwei zentralen Bereiche, in denen sich der Übergang von der industriellen, voll automatisierten Gesellschaft in eine neue Gesellschaftsform vollzieht. Es wäre mir dabei am liebsten, wenn ich irgendwo etwas ausmachen könnte, das ich mit der gleichen Selbstsicherheit als die wirklich fortschrittliche Klasse bezeichnen könnte, wie dies vor hundertfünfzig Jahren der Fall war mit dem Proletariat. Ich gehe davon aus, dass ich mich damit abfinden muss, dass es diese Klasse nicht wieder geben wird, mindestens nicht in der gleichen wirtschaftlichen und ideologischen Ausprägung wie damals. Bis auf die wirklich exklusiven Sphären der oberen Zehntausend habe ich den Eindruck, dass wir tatsächlich in stark durchlässigen Organisationsformen leben. Das behindert die ökonomische Bildung einer Leitklasse für eine neue Etappe in der Menschheitsgeschichte enorm. Und damit verschiebt sich die Ebene, wo man doch noch unterscheiden kann zwischen fortschrittlich und rückschrittlich, zunehmend zur Kommunikation. Selbstverständlich geht es am Schluss dann darum, welche Sektoren gefördert werden und welche abgehalftert, aber wie so etwas eingerichtet wird oder welche Partei sich durchsetzt, darüber entscheidet eben die Kommunikation. In diesem Prozess fallen am Laufmeter alte Fronten, die entsprechenden Schützengräben stürzen ein, von der Atomkraft bis zur Homo-Ehe, es ereignen sich wahre Umstürze, und niemand regt sich auf darüber oder nimmt es auch nur zur Kenntnis. Das ist doch eine reife Kommunikationsleistung. Daneben beobachten wir nach wie vor so etwas wie ein Kollektivbewusstsein, auf welches eben die Kommunikation einwirken soll. Aber dieses Kollektivbewusstsein macht keinerlei Anstalten, sich wie anno dunnemals aufzulehnen gegen, zum Beispiel die Abschaffung des Paragraphen 517, wenn ich mich recht erinnere. Das war jener Paragraph im deutschen Strafrecht, welcher Homosexualität unter Strafe stellte und der jedes Jahr am 17. Mai gefeiert wurde. In Frankreich gehen wenigstens noch 100'000 Menschen auf die Straße gegen die Homo-Ehe, aber in Deutschland kann man davon ausgehen, dass so was demnächst mal als reiner Regierungsbeschluss durchgehen wird, nachdem sie jetzt im Bundestag noch abgelehnt wurde.

Wenn man über einigermaßen intakte antifaschistische Reflexe verfügt, dann fragt man sich natürlich auch immer wieder, ob die neuen Kommunikationsformen eine neue Form der Massenpsychose ermöglichen. Eins steht fest: Der Nationalsozialismus der 20-er und 30-er Jahre des letzten Jahrhunderts taucht nicht wieder auf, dazu sind nur schon die wirtschaftlichen Grundlagen in keiner Art und Weise mehr vorhanden, und eben, die gesellschaftlichen ebenso wenig, nicht zuletzt deshalb, weil die Nazi-Euphorie so etwas wie den Abgesang auf die Proletarier-Euphorie bildete. Was aber kommt jetzt? Eines ist sicher: In der Zwischenzeit gibt es kein anerkanntes Organ oder ein anerkanntes Forum mehr, auf welcher der intelligente Zeitgeist zum Ausdruck kommt, das heißt, wo die Diskussion zwischen einigermaßen gebildeten Menschen in einer einigermaßen zivilisierten Sprache auf der Grundlage einigermaßen logischer Gedankengänge vor sich geht. Das sehe ich gegenwärtig überhaupt nicht. Vielmehr besteht die Kommunikation in Myriaden von Klein- und Kleinstmitteilungen, welche alles Mögliche und vor allem in sämtlichen Schattierungen von ganz falsch bis einigermaßen wahr beinhalten können. Die Überwachung, die ich vorhin angesprochen habe, sorgt noch einigermaßen dafür, dass daraus nicht spontan weitere Zellen wie der Nationalsozialistische Untergrund werden, aber sie ist natürlich wirklich rein defensiv und leistet keinerlei Beitrag zur Entstehung eines wirklichen Diskussionsplatzes.

So oder so ist es bisher noch nicht zur Herausbildung einer echten politischen Bewegung auf der Grundlage der neuen Medien, also einer mehr oder weniger reinen Kommunikations-Bewegung gekommen. Die Piraten und typähnliche Phänomene beruhen zum Teil auf Kommunikationsplatt­formen, aber so, wie es aussieht, war das zunächst doch eher mal ein Strohfeuer. Vielleicht verdichtet sich dies mit der Zeit, wenn die Generationen erwachsen werden, welche von Anfang an geprägt wurden durch die Smart­phones und youtube und facebook. Mich nehmen jedenfalls die Inhalte wunder, welche sich bei Gelegenheit politisch, also machtpolitisch inkrustieren werden. Die Piraten konnte ich zum Beispiel loben wegen ihres Engagements für ein bedingungsloses Grund­ein­kommen; aber es tritt recht offensichtlich zu Tag, dass eine reine Kommunikationsleistung ohne organisatorisches Beigemüse nicht viel Bestand hat. Und somit fragt sich der Mensch, wie die neuen Organisationsstrukturen denn aussehen werden, welche die neuen Kommunikationswelten in eine politische Realität bringen.

Es ist übrigens nicht Kommunikation allein, sondern es stecken auch sehr viele wirtschaftliche Interessen in diesem Kuchen, und ich meine hier nicht die Werbung, sondern ich meine neue Bedürfnisse, welche aus den Kommunikationsnetzen entstehen. Zunächst einmal handelt es sich ganz banal um die Kommunikation mit den Waren, die wir benötigen und verbrauchen und die in absehbarer Zukunft auch von den KonsumentInnen selber designt werden können, z.B. was die Funktion oder das Aussehen anbelangt. Es geht aber noch viel weiter. Wir haben uns lange an die Grundregel gehalten, dass die Arbeit in der globalisierten und voll automatisierten Welt demnächst zum raren Gut wird; aber das muss absolut nicht sein, wenn im Kommunikationsbereich tragfähige Wertschöpfungsketten entstehen. Der Umfang dieser Wertschöpfungsketten ist mir dabei vollkommen unbekannt; es ist einerseits so etwas wie eine erweiterte Dienstleistung, die sich da herausbilden wird, aber anderseits kann die einen derart gewaltigen Umfang annehmen, dass vielleicht in den Social Medias demnächst einmal Vollbeschäftigung herrscht.

Ansonsten kann man die Auflösung der bekannten eingefahrenen Muster grundsätzlich nur begrüßen. Man hat heute noch die Angewohnheit, seine Mitmenschen einzuteilen gemäß Urteilen und Vorurteilen, welche nicht immer stichhaltig sind. Wenn man hier an Unvoreingenommenheit gewinnt, dann ist das eine gute Sache. Anderseits wird man trotzdem nicht geradewegs in eine Amnesie laufen, also alles vergessen, was am Tag zuvor gesprochen und getan wurde, so ist es auch nicht gemeint; aber ein bisschen weniger Verkrampftheit kann nicht schaden.

Allerdings macht es die Gesellschaft einem nicht leicht, zum Beispiel, wenn man ein Auge auf die Reichtumsverteilung wirft. Auch wenn die Vermögen der reichen Säcke in der Regel gebunden sind in Unternehmen und somit mehr oder weniger tun, was sie wollen und nicht, was der Eigentümer will, bestehen weiterhin krasse Ungleichheiten. Der eine kann, der andere kann nicht. Perspektiven sind ungleich verteilt, trotz aller sozialen Durchlässigkeit. Wie man das bei Gelegenheit ändert, das wird eine schwierige Aufgabe, eben auch deswegen, weil man nicht mehr auf eine klare Klassen-Anordnung zurückgreifen kann. So begnügt man sich vorderhand damit, sich wieder über die beliebtesten Sündenböcke zu ärgern, nämlich über die Parlamentarier. Dass die sich jetzt wieder die Diäten erhöhen wollen, und zwar selbstverständlich mit der Begründung, damit möglichst jeden Verdacht der Selbstbedienung auszuschalten, das ist ja schon fast die Schönheit in Person. Der Parlamentspräsident Lammer beklagt sich dabei über die mangelnde Bereitschaft der Abgeordneten, in eigenen Angelegenheiten unpopuläre Entscheidungen zu treffen, sprich sich den Lohn um ein paar hundert Euro pro Monat anzuheben. Ja, das ist allerdings ein rechter Skandal. Aber vielleicht war diese Meldung auch nur ein Aprilscherz.