"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Geistiges Eigentum -

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Nach der Veröffentlichung der Daten zu den Offshore-Finanzplätzen sieht sich Wikileaks in Zugzwang und will weitere geheime Meldungen der Behörden der Vereinigten Staaten veröffentlichen.
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mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.04.2013 / 11:07

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.04.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Konkurrenz fördert das Geschäft. Jetzt möchte ich aber gerne mal etwas lesen von Russland. Oder vom Bundesnachrichtendienst! Das scheint allerdings etwas schwieriger zu sein, da dieser seine Daten in regelmäßigen Abständen schreddert, und andere Spuren gibt es nicht, das zeigt eben, dass Euer Geheimdienst begriffen hat, was Sache ist, während wir uns über die Amerikaner mehr oder weniger die Haare raufen: Da überwachen die Jahrzehnte lang den ganzen Telefon- und E-Mail-Verkehr der ganzen Welt und vergessen dabei, ihre eigene Kommunikation zu vernichten, die überheblichen Fatzken. Es ist schon fast wie in Italien, wo die Mobiltelefongesprä­che aller BewohnerInnen praktisch direkt bei der Staatsanwaltschaft landen, welche sie häppchenweise an die Medien weiter gibt. Das schafft in Italien ein eigentümliches Flirren, weil man einerseits alles weiß über sämtliche Skandale, was heißt da Skandale: Es sind ja eben keine Skandale, sondern es sind die ganz hundskommunen Geschäftsusanzen, wie sie nämlich auch anderswo auf der Welt mit letzter Garantie um kein Jota anders ablaufen, bloß werden sie in Italien skandalisiert; und eine andere Ebene dementiert alles wie besessen und schimpft die Richter Kommunisten und rote Talare und sonst noch viele Sachen, und der leicht benebelte Durchschnitts­italiener ist geneigt, beiden Seiten Glauben zu schenken, und das erzeugt eben dieses Flirren.

Was können wir von Wikileaks denn jetzt noch erwarten? Meine persönlichen Spannungswerte sind erstaunlich niedrig. Dass die USA Großmachtpolitik betreiben, kann mich nicht wirklich über­raschen, und dass es zum Wesen der Großmachtpolitik gehört, dass man hinter den Kulissen immer exakt das tut, was man in den offiziellen Stellungnahmen vorgibt, das gibt ebenso wenig zum Staunen Anlass. Aber vielleicht veröffentlicht Wikileaks ja mal etwas anderes? Zum Beispiel das Geheimrezept von Barbara Bush für Broccoli. Oder die chemische Formel für Viagra, oder für Ritalin. Ritalin soll ja unter Erwachsenen zur beliebten Partydroge geworden sein, sodass für die Kinder bereits Lieferengpässe bestehen, und das will etwas heißen, denn was heute ein anständiges Kind ist, das kommt ohne Ritalin schon gar nicht aus. Da wäre es doch hilfreich, wenn man dieses Ritalin gleich zu Hause kochen könnte und einwecken. Es gehört doch irgendwie auch zum Weltkulturerbe, so wie ganz allgemein das Wissen der ganzen Menschheit, das in den Schulen weitergegeben und an den Hochschulen und in verschiedenen Unternehmen verfeinert und weiterentwickelt wird. «Geistiges Eigentum», das ist eine sehr relative Sache. In den Köpfen der Menschen steckt zu 99 Prozent die gleiche Ware wie in anderen Köpfen, Ingenieurswissen bei Ingenieuren, Verfahrenskenntnisse zur Synthese von Enzymen bei Biowissenschaftlerinnen, Satzformen und das ganze Vokabular bei Journalistinnen und geistigen Eigentümerinnen von verschiedenen anderweitigen Dramen. Das geistige Eigentum erweist sich in diesem Licht als sehr beschränkte Kartoffel. Umgekehrt ist die Patentwirtschaft bzw. der Urheberrechtsschutz ein Geschäft, bei dem es um Hunderte, wo nicht Tausende von Milliarden geht. Allerdings handelt es sich hier in der Regel nicht einfach um Wissen, sondern um Forschungsergebnisse, die ihrerseits mit Milliardeninvestitionen herbeigeführt wurden. Von diesen Milliardeninvestitionen wiederum entfallen zwei Drittel auf die öffentlichen Ausbildungsanstalten; aber nehmen wir mal an, dass der Patentschutz tatsächlich einen Beitrag dazu leistet, dass die Wissenschaft und nachher die Industrie, welche die entsprechenden Produkte herstellt, diese auch tatsächlich entwickelt und produziert, was dann tatsächlich der Bevölkerung zugute kommt, so wird man mindestens einräumen, dass es sich hier um ein mögliches System der Forschungsförderung handelt. Es ist sicher nicht das einzig mögliche, aber angesichts der ständig steigenden Lebenserwartung in unseren Gesellschaften muss man darauf schließen, dass es doch recht effizient ist. Jetzt fehlen uns eigentlich nur noch die Drogen, eben Ritalin für Erwachsene und so, welche uns auch noch ein bisschen Spaß verschaffen an diesem verlängerten Leben, und dann kanns ja einmal ordentlich los gehen.

Abgesehen davon aber würde es mich erstaunen, wenn es irgendwann mal ein Informationsleck gäbe, aus dem Nachrichten strömen, die uns völlig neu sind. Bei den neuesten Enthüllungen über den Portcullis Trust in Singapur und weitere interessante globale Konstrukte waren mir zwar die Koch-Inseln nicht so geläufig als Zwischenadresse der Geldverschieber, ich wusste auch nicht, dass Gunter Sachs und die Baronin von Thyssen-Bornemisza ihre Geschäfte auf diesen Kanälen abwickeln oder dass die Frau Baronin in der Zwischenzeit im Streit liegt mit ihrem Sohn, bei welchem ebenfalls einer dieser Trusts eine Rolle spielt, aber insgesamt weiß man eigentlich schon lange, dass und wie die Kröten wandern, und wenn ich sage «man», dann meine ich in erster Linie die Steuerbehörden in den USA, welche wegen der Finanz- und Schuldenkrise ein scharfes Auge auf ihre Steuerzahlenden haben. Mindestens angeblich; denn wie man bei diesen Enthüllungen auch wieder mal bestätigt erhält, brauchen US-amerikanische Steuerschurken keineswegs die Bahamas oder die britischen Jungferninseln oder eben die Cook Islands, um ihre Kohle vor dem Staat zu verstecken, sondern sie können dies sehr bequem in Minnesota oder Delaware oder wo auch immer tun, also innerhalb des eigenen Landes, und das ist die eigentliche Schönheit am Ganzen. Vielmehr, es geht noch weiter: Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Welt wirklich besser wäre, wenn alle Steuerschurken gefasst und zur Bezahlung ihrer effektiven Schulden gezwungen würden. Wahrscheinlich würde es nichts daran ändern, dass die wirklich Mächtigen und Reichen ihre Kröten längstens in Stiftungen überführt haben, bei denen sie sich für ihre Bedürfnisse völlig unbesteuert bedienen dürfen. Und sowieso: Steuern lösen noch keine Probleme. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel müsste man Straßen und Eisenbahnlinien bauen, die Schulden abbauen und den Menschen Perspektiven verschaffen. So viele Steuern kann ein Staat gar nicht erheben, noch nicht mal, wenn er die Zentralkasse Chinas überfallen würde, hätte der US-amerikanische Staat genügend Knete. Insofern ist es wohl falsch, hier überhaupt von Problemen zu sprechen. Es geht um Aufgaben, die zu lösen sind und die man vielleicht bei Gelegenheit einmal mit Sonderbudgets anpacken kann. Vielleicht. Und sonst halt nicht.

Im Elsass wurde am letzten Wochenende ein Projekt zur Fusion der Verwaltung der beiden Departemente Haut und Bas Rhin von der Bevölkerung abgelehnt. Worum es genau geht, kann ich dabei nicht mal sagen; jedenfalls scheint es sich nicht um ein echtes Autonomieprojekt für die Region gehandelt zu haben, sondern bloß um einen Versuch, die Administration zu vereinheitlichen und zu vereinfachen. Trotzdem brechen rund um das Thema immer wieder die alten Identitätsfragen auf, die halt zum Teil auch eine deutsche Vergangenheit umfassen und dabei durchaus nicht nur die Hitlerzeit. Schließlich spricht man im Elsass neben Französisch auch einen klassisch deutschen Dialekt. Da kommen immer wieder eigenartige Versatzstücke an die Oberfläche, eben nicht zuletzt deshalb, weil der deutsche Teil der Identität doch sehr stark von den Nazis polarisiert wurde. Aber bei Gelegenheit dürfte sich auch dieser Bereich etwas entspannen, und bis es so weit ist, hat man umso mehr Anlass, sich das Maul dort so voll zu stopfen, dass man gar nicht mehr sprechen kann.

Eine Abstimmung zur echten Unabhängigkeit dagegen wird nächstes Jahr in Schottland durch­ge­führt. Wenn die Unabhängigkeitsbewegung gewinnt, dann gibt es reihenweise Neuerungen, sei es in Schottland oder in der EU, welche dann ein neues Mitgliedland hätte. Vielleicht würde Schottland aus Trotz gegenüber den Engländern nicht das Pfund als Währung weiter führen, sondern den Euro übernehmen oder gar eine völlig neue eigene Währung schaffen. Das scheint zwar nicht wahrscheinlich; ich gehe davon aus, dass Schottland auch nach einer Abtrennung von England mindestens im Commonwealth bleiben würde und der englischen Queen nach wie vor huldigen und sie in ihren schottischen Schlössern während dem Sommer beherbergen würde. Was die Währung angeht, weiß ich gar nicht, ob die EU nicht von neuen Mitgliedländern – und so eines wäre Schottland dann ja pro forma – sowieso die Anbindung an den Euro verlangt. Das wäre in jedem Fall Gegenstand von Verhandlungen, die im Fall von Schottland ziemlich sicher etwas wohlwollender geführt würden als z.B. mit der Türkei. – Allem Anschein nach ist die Sache aber noch überhaupt nicht entschieden. Seit 1999 besitzen die Schotten ja ein eigenes Parlament, zusätzlich zur Vertretung im englischen Parlament, sowie über verschiedene regionalautonome Garantien, was einige als Privilegien ansehen, die im Fall der Unabhängigkeit entfallen würden.

Ob Elsass oder Schottland oder auch Katalonien: Das, was man eine Zeitlang als das «Europa der Regionen» bezeichnete, nämlich eine EU, in welcher die Nationalstaaten zunehmend an Kraft verlieren, während die regionalen Vertretungen an Bedeutung gewinnen, das hat seit einiger Zeit überhaupt keine Konjunktur mehr. Gerade im Fall von Katalonien sieht man, dass die separatistischen Kräfte sich viel eher verstehen als eine Bewegung, die nach einem eigenen, vollwertigen Staat drängt, nicht aber eine höhere Selbstverwaltung im Rahmen durchlässiger gewordener Grenzen. Umgekehrt wird auch für dieses Thema gelten, was praktisch immer gilt: Es gibt keine lineare Bewegung, weder vorwärts noch zurück; auf jeden größeren Entwicklungsschub folgt eine Gegenbewegung, die aber nicht zurückführt an den Ausgangspunkt, sondern die neue Grundlagen schafft für eine erneute Vorwärtsbewegung. Manchmal geht es auch ganz schlicht im Zickzackkurs vorwärts. Aber bewegen tut sich die Welt andauernd, und zwar nicht nur in ihrer Rotation um die eigene Achse, sondern auch in Bezug auf die Menschen. Bloß sind diese Menschen nicht immer in der Lage, die echten Bewegungen selber auch als solche zu erkennen, unabhängig davon, ob es sich um das Elsass handelt oder um Schottland oder um Katalonien.