"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die Spannung steigt -

ID 54822
 
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Die Spannung steigt: Die kriminaltechnischen Untersuchungen zum Fall Wulff haben jetzt ergeben, dass sich besagter Wulff ein Münchner Hotelzimmer verbilligen ließ um die effektive Delikt­summe von zirka 400 Euro, welche dadurch zum Delikt wurde, dass Wulff als Gegenleistung für den Spender dieser 400 Euro ein Schreiben an die Siemens AG verfasste, in welchem er dessen Gesuch um einen Unterstützungsbeitrag für ein Filmprojekt unterstützte.
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10:24 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.04.2013 / 08:22

Dateizugriffe: 299

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.04.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Dieses Gesuch wurde zwar abgelehnt, Christian Wulffs Einfluss in München reichte offensichtlich nicht weit über die Mauern des Hotelzimmers hinaus, aber die Vorteilsnahme bzw. die Bestechung ist für die Staatsanwaltschaft erstellt. Meine lieben Freunde in der Anwaltskammer, darüber wollen wir dann aber bei einer kubanischen Zigarre im Club nochmals kurz diskutieren, was für ein strafrechtliches Gewicht ein freundlicher Brief an einen möglichen Filmsponsor hat, vor allem im Lichte dessen, was da an entsprechenden Briefen von Würdenträgern aller möglicher Art pro Tag auf dem Pult aller großen und mittleren Unternehmen in Deutschland landet. Vor allem jene Sorte an Bettel­briefen, die nicht vom persönlichen Gewicht mit dem damit zusammenhängenden physikalischen Druck des Absenders begleitet werden. Ohne diesen Druck wird aus solchen Empfehlungs­schreiben ein purer Wisch, wie die Reaktion von Peter Löscher zeigt, einmal abgesehen davon, dass man bei Siemens völlig andere Vorstellungen von Bestechung und Schmiergeldzahlungen hat.

Kurz: Es mutet geradezu putzig an, wie die Hannoveraner Staatsanwaltschaft versucht, Schmauchspuren am Jackett von Christian Wulff nachzuweisen in einem Fall ohne Leiche. In ihren verzweifelten Bemühungen, mindestens einen Rest an Legitimation für die Medienkampagne gegen den versuppten ehemaligen Staatspräsidenten macht sie die Sache natürlich nicht besser. Schon haben die ersten Zeitungen erste Ansätze zur Selbstkritik erkennen lassen, die «Zeit», die «Süddeutsche», aber auf die «Bild»-Schlagzeile mit dem Inhalt: «Skandal: Boulevardmedium machte grundlos Staatsoberhaupt fertig» werde ich wohl noch ein wenig warten müssen.

Trotzdem sage ich es sicherheitshalber noch einmal: Mir liegt wirklich nichts an Christian Wulff, weder im Guten noch im Bösen, ich vermag einfach den Anschuldigungen gegen ihn nicht zu folgen, noch nicht mal den der Schnäppchen-Mentalität. Der hat doch nicht auf Schnäppchen geachtet, der Junge, dem war es einfach schurze-piepe-wurscht, wer da gerade bezahlt hat, er selber oder seine Freunde oder das Amt, das sind viele Ansichten der gleichen Rechnung, es gehört letztlich alles irgendwie zusammen, und wer Freunde in Saudiarabien hat und siegreich aus dem Konflikt zwischen Porsche und VW hervor geht, und zwar erst noch im Namen und im Interesse des Landes Niedersachsen, der ist, meiner Treu, nicht an die Pflicht zur Abrechnung für jedes Bier an der Hotelbar nach 23 Uhr abends gebunden.

Ich bleibe dabei: Die Staatsanwaltschaft Hannover verteidigt mit ihren letzten absurden Zuckungen die erfolgreiche Machtdemonstration der Bild-Zeitung, welche allen PolitikerInnen wieder in Erin­ne­rung gerufen hat, dass man vielleicht ohne, niemals aber gegen den Springer-Verlag Politik machen kann in Eurem Land. Der Springer-Verlag hält die öffentliche Meinung in der Hand wie eine Woodoo-Puppe, die man zwicken oder streicheln kann, und der repräsentierten Person geht es dann eben gezwickt oder gestreichelt. Man kann das umgekehrt scheps finden oder einfach normal; das eigentliche Problem liegt wohl weniger beim Axel-Springer-Verlag als vielmehr bei der öffent­li­chen Meinung selber, welche offensichtlich nach wie vor die Merkmale jener Aus­prägung trägt, die wir als grundlegend für den deutschen Faschismus erachteten, welche schon vor langer Zeit definiert wurde als die Bereitschaft, «Ja! Ja!» oder genau so gut und meinetwegen zum genau gleichen Thema «Nein! Nein!» zu brüllen.

Aua, nein, aus! Nicht schon wieder die Faschismus-Keule, und dies ausgerechnet in einem Moment, da die Zyprioten die deutsche Bundeskanzlerin im Nazi-Kostüm und mit Hitlerschnäuzchen zeigen! – Nein, so meine ich das auch nicht, ich habe Euch keineswegs im Faschismus-Verdacht, das gebe ich Euch ebenso schriftlich wie mündlich, aber die öffentliche Meinung ist nun mal in Deutschland wie in allen anderen Ländern ein schreckliches Tier, welches sämtlichen Ansprüchen ins Gesicht lacht, die man an ein halbwegs vernünftiges und erst noch zivilisiertes Individuum stellt. Was soll man da machen? Eine Fachhochschule für die öffentliche Meinung einrichten? Tatsache ist, dass die meisten Personen, welche im Medienbereich verantwortliche Positionen einnehmen, durchaus im Bewusstsein der Problematik dieses Ungeheuers arbeiten, natürlich nicht zuletzt im Wissen um die dramatischen Verformungen während dem Dritten Reich. Umso paradoxer ist es, dass sich eine ganze Medienbranche ausgebildet hat, welche sich von der Formung dieses Massenbewusstseins ernährt und dabei einfach auffrisst, was sich gerade in ihrem Weg befindet. In der Regel halten sich zwar die Verleger und Chefredaktoren auch hier an einen gewissen Kodex, aber diese Branche ist von der Struktur her jederzeit dazu bereit oder lebt gar von dieser Tendenz, in klassische Hetzkampagnen überzugehen. Vom Medium her kommt es am Schluss nicht mehr drauf an, ob der Gegenstand dieser Hetzkampagne Christian Wulff, die Türken, Katharina Blum oder die Juden heißt. Mit anderen Worten: Man muss sich drauf verlassen können, dass im jeweiligen Verlagshaus nicht gerade ein irrer Populist am Ruder steht.

Soviel, so klar; nun kommt aber seit ein paar Jahren eine weitere Kommunikationsebene dazu, die ihre eigene Öffentlichkeit schafft, nämlich das Internet und in etwas geringerem Ausmaß die Social Media. Im Rahmen der Social Media findet ja noch einigermaßen eine Kontrolle statt; sie betrifft eben nicht nur jene persönlichen Daten und Vorlieben, über deren Auswertung ich mich hin und wieder etwas aufrege, sondern sie betrifft eben tatsächlich auch die politisch-ideologischen Inhalte, will heißen: Was über eine relativ breit gefasste Definition von Political Correctness hinaus geht, das wird nicht weiter verbreitet. Anders die mehr oder weniger klandestinen Treffpunkte in Chatrooms und auf den speziellen Webseiten; hier darf sich austoben, was noch einigermaßen Finger an den Händen hat, mit denen sie oder er eine Tastatur zu bedienen weiß. Trotzdem gehe ich davon aus und bleibe bis zum Beweis des Gegenteils dabei, dass für eine echte Ausformung der öffentlichen Meinung auch eine echte Öffentlichkeit dazu gehört, was man eben mit ein paar klandestinen Seiten nicht erreicht. Diesen kommen eher logistische und organisatorische Funktionen zu; für eine echte massenpsychologische Beugung braucht es aber eine breite Abstützung – die übrigens sowieso nicht allein den Mediensektor beschlägt, aber ohne Medien kommt man natürlich erst recht nirgends hin.

Noch einmal: Wenn ich mich über die Bild-Zeitung ereifere, dann gilt mein Zorn eigentlich der öffentlichen Meinung, welche ich weiterhin im Verdacht habe, bei Gelegenheit beliebig in die eine oder andere Richtung zu kippen. Zum einen, zum anderen habe ich die Gewissheit, dass die öffentliche Meinung nur unwesentlich rational unterfuttert ist. Moralische Werte haben zwar einen hohen Stellenwert, aber wir wissen alle, wie man solche moralische Grundwerte so manipulieren kann, dass sie ziemlich genau gegenteilig funktionieren zu dem, was die Moral eigentlich vorgeben täte. Ebenfalls wissen wir, dass eine einfache vernünftige Argumentation ebenfalls nicht immer zwangsläufig zum richtigen Ergebnis führt; auch hier wirken Polarisierungen, wenn auch auf einer anderen Ebene, und können die Logik ganz unterschiedlich zwirbeln.

Umgekehrt bleibt mir gerade im ganzen Diskurs über Demokratie gar nichts anderes übrig, als die öffentliche Meinung, sozusagen als Inkrustation des Vokswillens, als oberste Autorität anzuerkennen. Daraus ergibt sich die Folgerung, dass man diese öffentliche Meinung eben doch nicht nur hegen und pflegen, sondern auch fortentwickeln muss. Angesichts des reinen Phänomens Boulevard erscheint dies sogar als eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart. Dann wiederum weiß man, dass die Volksbildung am effizientesten in Zeiten relativ hoher sozialer Agitation erfolgt. Und die Agitation ihrerseits hat durchaus nicht immer die Volksbildung als erstes Ziel, sondern gerne auch mal die Propaganda, also wieder die Polarisierung der öffentlichen Meinung zugunsten eines Teilinteresses. Trotzdem – da muss man durch.

Vielleicht leistet dieser Wulff-Paradeprozess einen Beitrag zu einer mindestens vorübergehenden Erhöhung des Bewusstseins für diese Mechanismen. Zwar glaube ich nicht an eine echte Reflexionsfähigkeit der öffentlichen Meinung, aber vielleicht stellt sich trotzdem da oder dort das Gefühl ein, unangemessen reagiert zu haben oder eben auf der Schleimspur des gerade aktuellen Bild-Chefredakteurs, im vorliegenden Fall Kai Diekmann, ausgerutscht zu sein. Dass sich der Typ umgehend in die Vereinigten Staaten verkrümelt hat, spricht doch auch eine deutliche Sprache.

Diekmann wird übrigens auch sehr schön dargestellt in diesem Fernsehfilm über den Knaben von und zu und um Guttenberg herum, den Karl Theodor; ich gehe mal vorsichtshalber davon aus, dass dieser Film die Realität ziemlich exakt eingefangen hat, abgesehen vielleicht von jenem Kameraden, der dem Freiherrn die Reden schreibt bzw. ihn gar durchs Abitur lotst – so weit wird es wohl nicht gehen in der Realität, beziehungsweise ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand von Adel nicht irgendwo eine Privatschule findet, auf welcher er seine Abschlussprüfung mit links absolviert. Eine Doktorarbeit dagegen ist ziemlich aufwändig, vor allem, wenn man nebenher noch Politiker und Playboy sein will. Das ist aber bloß eine Frage der Effizienz, nicht der Intelligenz. Blöd halt, wenn’s dann rauskommt, aber die öffentliche Meinung hat in solchen Fällen durchaus die Neigung zu verzeihen, und das macht sie erst recht völlig unberechenbar. Wie heißt es so schön: «Volkes Stimme ist Gottes Stimme», und insoweit Gott tatsächlich unergründlich ist, also agnostisch, worüber man sich übrigens beim Vorgänger des Papstes Franziskus erkundigen kann in seiner berühmten Regensberger Winkeladvokaten-Exegese des Islam. Also: Wenn Volkes Stimme Gottes Stimme ist, was macht dann der Papst, bittschön?, oder etwas trivialer: Was macht dann Peer Steinbrück?