"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Wenn Krisen immer auch Chancen sind -

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Wenn Krisen immer auch Chancen sind, dann leben wir in einer Zeit mit ungeheuren Chancen. So viel Krise wie heute gab es wohl in der ganzen Geschichte noch nie, mindestens in den Medien.
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10:30 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.05.2013 / 14:02

Dateizugriffe: 354

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 14.05.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wenn Krisen immer auch Chancen sind, dann leben wir in einer Zeit mit ungeheuren Chancen. So viel Krise wie heute gab es wohl in der ganzen Geschichte noch nie, mindestens in den Medien. Am nachhaltigsten hat uns natürlich die Finanzkrise erschüttert, von der sich gegenwärtig mindestens die Börsen wieder einigermaßen erholen; die Realwirtschaft stottert nur gebietsweise, während die großen Motoren nach wie vor rund laufen, nämlich die Schwellenländer zum einen, neue Technologien und Sektoren zum anderen. Auf den Börsen findet gegenwärtig die Ausdehnung der Kapitalblase auf ihr vorheriges Niveau statt, wobei wir uns von den Kurshöchstständen nicht täuschen lassen sollten; die Masse der investierten Gelder ist nämlich nach wie vor deutlich tiefer als vor 6 Jahren, was uns mit anderen Worten noch mindestens ein Jahr lang Zeit verschafft, bis das Spekulationsbankgeschäft wieder gleich rund läuft wie damals. Man kann natürlich als Laie nicht vorher sagen, auf welches Gebiet sich die Kapitalien jetzt kaprizieren werden, nachdem all die schönen Verbriefungsinstrumente ausgereizt erscheinen; aber umgekehrt darf man davon ausgehen, dass in den Forschungslaboratorien der internationalen Anlageverwalter schon einige Produkte bereit stehen, mit denen erneut kurzfristig wunderschöne Profite zu erzielen sind, bis die Kapitalmärkte den nächsten Knall erleben. Es sind vielleicht nicht mehr die Banken, sondern wirklich ausgewachsene und ausgebuffte Hedgefonds oder anderweitige Anlagehäuser, denen es dann den Hut lüpfen wird, während die klassischen Bankhäuser und hoffentlich auch die Staaten etwas besser gewappnet sind als zuvor. Diesen, also insbesondere den Staaten, kann man nur empfehlen, in der wohl nicht allzu langen Phase der erneuten Überhitzung auf den Finanzmärkten ihre Schulden möglichst so zu deponieren, dass sie bei Eintreten der Krise einfach verschwinden. Wie dies zu machen ist, davon weiß ich im Moment leider nicht allzu viel, aber wenn die Finanzämter ein paar kreative Fondsmanager mit ausdrücklich dieser Aufgabe einstellen, so wird sich das schon irgendwie machen lassen.

Übrigens habe ich letzthin gehört, dass sich Griechenland jetzt dann bei Gelegenheit einmal anschicke, 15'000 Staatsangestellte zu entlassen. Ich muss allerdings zugeben, dass ich den Überblick längstens verloren habe, ob nicht vielleicht schon vorher eine erste Aktion zur Freistellung überflüssiger Beschäftigter stattgefunden hat. Der griechische Finanzminister Stournaras meint sogar, dass das Land aus dem Schlimmsten heraus sei und dass über zwei Drittel der vorgegebenen Haushaltskorrekturen bereits geschafft seien, aber ich lese nirgends, ob dies auf dem Papier oder auch in der Realität stattgefunden hat.

Wie auch immer: So viel Krise wie heute hatten wir noch nie. Das hat nun ganz klar ersichtlich nichts mehr zu tun mit der Wirklichkeit, sondern mit dem Bewusstseinsstand der Öffentlichkeit. «Krise», das ist in erster Linie eine Bezeichnung für die Einstellung gegenüber der Wirklichkeit. Dort, wo alles Krise ist, ist alles entschuldigt und erklärt. Umgekehrt kann sich dann, wenn man sich einmal auf die Generalfeststellung «Krise» geeinigt hat, unter der Oberfläche alles so ent­wic­keln, wie es gerade will. Öffentliche Finanzen, Strukturen, das alte Spiel um verloren gehende Industrie-Arbeitsplätze usw. usf. – alles ist unter dem Rubrum Krise erklärt und entschuldigt.

Übrigens ist es nicht nur die Krise, sondern die weit verbreitete und vermutlich durchaus nicht unrichtige Einsicht, dass all jene geheimen Kräfte, welche die Wirtschaft am Laufen halten und den Wohlstand erzeugen, längstens zu Sachen geworden sind, welche sich dem Zugriff der Völker und der Bevölkerung gänzlich entziehen. Mit dem Hinweis auf die Globalisierung sämtlicher Beziehungen und Strukturen, den auch ich in regelmäßigen Abständen absondere, erklärt man gleichzeitig die eigene Kapitulation; so, wie das internationale Finanzkapital grenzenlos um den Erdball herum schwappt, so sind auch die übrigen Elemente des weltweiten Wirtschaftsspiels nicht mehr fassbar; die Regierungen und die Industriekapitäne können höchstens noch ein paar mehr oder weniger richtige Entscheide treffen, und dann geht es unter Lohnverzicht und so weiter wie in Deutschland letztlich gut, während es andernfalls wie in Frankreich letztlich nicht so gut geht. Vom Schlachtruf: «Mann der Arbeit aufgewacht, und erkenne deine Macht: Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will», ist nicht einmal mehr ein schwaches Echo zu hören. Es geht uns zwar gut, aber wir haben letztlich weder eine Ahnung weshalb, noch haben wir einen Einfluss darauf. Wir erscheinen uns selber als Spielbälle anonymer globaler Marktmächte, denen eben auch schon längstens der Klassenfeind derart unterworfen ist, dass man schon fast gemeinsame Sache machen kann oder muss mit ihm.

Das ist nun aber ein beschissenes Selbstbewusstsein für eine Rasse, welche von sich selber behauptet, sie sei die Krone der Schöpfung und zudem in allen Beziehungen souverän, vom Konsum bis zur politischen Entscheidung. Auch hier ist ein Entwicklungsschritt vonnöten, nämlich die Ausbildung eines neuen Bewusstseins, welches ein korrektes Selbstverständnis angesichts der modernen Selbstverständlichkeiten beinhaltet. Dieses neue Bewusstsein wird zum Träger einer neuen fortschrittlichen Klasse, welche sich nicht mehr ökonomisch definieren wird; man muss also die internationale Arbeiterklasse ad acta legen, nicht zuletzt deswegen, weil sie bei uns längstens national ausgerichtet ist und im Einklang mit den nationalen Bourgeoisien für die Schaffung oder Erhaltung nationaler Arbeitsplätze kämpft, was implizit immer die Bekämpfung der Allianzen von Arbeitern und Kapital im Ausland bedeutet. Ein neues Bewusstsein wird sich auf die Tatsache einer bestehenden, stabilen, globalen Versorgungssicherheit abstützen bzw. dort, wo diese nicht, nicht mehr oder noch nicht vorhanden ist, eine solche fordern müssen. Anschließend aber geht es um Freiheit zum einen, Partizipation zum anderen.

Geht das überhaupt? Ein gesellschaftliches Bewusstsein schaffen ohne materielle Grundlage? Ich habe mir auch schon überlegt, ob nicht vielleicht meine Betrachtung der materiellen Grundlagen ungenügend sei, aber ich komme nicht auf eine ähnlich klare Struktur wie die Vorgaben der marxistischen oder bürgerlichen Ökonomie mit den Besitzern der Produktionsmitteln auf der einen Seite, den Arbeitern auf der anderen. Das trifft bei uns längstens nicht mehr zu, obwohl das Lohnarbeitsspiel weiter läuft nach den altbekannten Regeln: Im Herbst fordert die IG Metall 10% Lohnerhöhung, und im Dezember werden 2.5% abgeschlossen. Das sind längstens Rituale, welche mit tatsächlichen Interessensvertretungen nur noch entfernt etwas zu tun haben. Dagegen sind die Produktionsstätten nach wie vor von Bedeutung für die sozialen Kontakte mit Menschen, welche am gleichen Produkt arbeiten und den gleichen sozialen und geistigen Hintergrund haben. Das ist grundsätzlich die positive Grundlage für die gewerkschaftliche Aktivität, welche nicht zu unterschätzen ist und die nach wie vor eine wichtige ideologische Verstrebung bildet für die Gesamtgesellschaft. Aber es ist nicht die Struktur der künftigen, sondern es ist ein Überbleibsel der alten Organisationsform. Die industriellen Produktionsstätten lösen sich auf, werden verteilt auf mehrere Standorte, sie ändern je nachdem sogar ihren Charakter und werden Kreationsplätze statt Produktionsplätze. Jetzt lautet die Frage somit, wie es in Zukunft gelingen soll, Menschen miteinander ins Gespräch und in soziale Kontakte zu bringen, welche immer weniger direkt miteinander zu tun haben. Und vermutlich wird die Grundlage der Kontakte neben den produktiven Inhalten kaum mehr das gemeinsame Bewusstsein einer antikapitalistischen Front bilden. Da muss etwas Neues her. Mit anderen Worten: Es ist eine neue Ideologie zu formulieren. Könnte man da nicht mal einen Wettbewerb ausschreiben? Diese Ideologie müsste in Worte und Begriffe fassen, dass unsere Organisationsform jetzt endlich mal auf die Höhe der Produktivkräfte gebracht werden muss – übrigens sind in diese Richtung doch schon ziemlich viele Bewegungen im Gange, bloß erfolgen sie vorderhand nur disparat, ohne größeren Zusammenhang, dafür umso schneller –, dass es aber in erster Linie darum geht, endlich mal im großen Maßstab all jene Freiheiten zu nutzen, welche uns der erreichte Wohlstand nun bietet. Es geht, mit anderen Worten, darum, genau das Gegenteil davon zu formulieren, was im Moment in allen Köpfen und in allen Mündern steckt, nämlich die Krise. Weg vom Krisendiskurs. Das ist eh alles Blödsinn. Wir leben eigentlich gar nicht in einer Krise, mit Ausnahme einiger konkreter Fälle, für welche dann aber auch konkrete Lösungen gesucht und gefunden werden müssen und können. Nach wie vor traue ich zum Beispiel den Spaniern zu, dass sie mit einer einigermaßen geschickten Wirtschaftspolitik, welche vor allem auf Neue Technologien abstützt, relativ fix aus ihrem Schlamassel heraus kommen; die Italiener werden ihr Dauerschlamassel vermutlich auch dann nicht lösen, wenn Berlusconi gestorben, einbalsamiert und heilig gesprochen ist, und die Griechen übergibt man am besten gleich den Türken, wie ich dies hier auch schon angeregt habe. Wie gesagt: Mit einer allgemeinen Krise hat das nichts zu tun. Die Konflikte im Nahen Osten und in Nordafrika sind Entwicklungskonflikte, aus welchen die modernen Kräfte historisch zwingend als Sieger hervor gehen werden, ganz unabhängig davon, ob das nun ein Jahr dauert oder fünf oder zehn. Geschenke gibt es halt keine, aber das ist weiter nicht tragisch. Für uns aber, die wir nun seit langer Zeit die Erfahrungen mit gesellschaftlichem Wohlstand und mit halbwegs demokratischen Strukturen gemacht haben und auch soweit anerkennen, dass wir mitten drin sind in einer erneuten Revolution der produktiven Grundlagen, von welcher man nicht zum Vornherein sagen kann, wie sie ausgehen wird, wohl aber, dass auch sie tendenziell den Wohlstand und die individuelle Freiheit steigern wird, für uns also ist wirklich dies eine der wichtigsten Aufgaben: Findet endlich mal einen neuen, mit neuen Inhalten befüllten Begriff bzw. ein Begriffssystem, das uns politisch und ideologisch weiter führt und auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern ein paar Ideen vorgibt, was man anstellen kann, wenn der allgemeine Wohlstand zu steigen beginnt.

Vieles ist in der Praxis bereits in voller Entwicklung begriffen. Damit das aber von allen Menschen voll ausgeschöpft werden kann, und vor allem auch, damit endlich die nationalistische Dimension des gesamten politisch-ideologischen Diskurses liquidiert werden kann, braucht es neue formulierte Eckwerte. Wer macht den Anfang?