Mord an armenischem Journalisten war kein Terrorismus - ein Kommentar

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Am 19. Januar 2007 wurde der armenische Journalist Hrant Dink in Istanbul auf der Straße durch Genickschuss ermordet. Nun hat ein türkisches Gericht festgestellt, dass das kein Terrorismus war. Der Fall wirft einerseits Fragen nach dem von der EU einst begrüßten türkischen Antiterrorgesetz auf, andererseits zeigt er in krasser Form, dass die nach dem Mord versprochene Aufklärung vor allem dazu gebraucht wurde, der Unterdrückung von Regierungsgegnern ein progressives Mäntelchen umzuhängen.
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06:45 min, 6331 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 16.05.2013 / 14:53

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Focus Europa Einzelbeitrag
Entstehung

AutorInnen: Jan Keetman
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 16.05.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Mord an armenischem Journalisten war kein Terrorismus – ein Kommentar

Es war ein Urteil wie ein Paukenschlag. Das türkische Kassationsgericht hat gestern festgeschrieben, dass die Mörder des armenischen Journalisten Hrant Dink keine „bewaffnete Terrororganisation“, sondern lediglich eine „Organisation zur Begehung von Straftaten“ gebildet hätten. Entsprechend müssen einige Strafen nun nach unten angepasst werden.

Sie haben richtig gehört, im Urteil wird von „bewaffneter Terrororganisation“ gesprochen, es gibt also auch unbewaffnete Terrororganisationen und zwar in der Türkei gleich zu hauf. Unbewaffnete Terrororganisationen, demonstrieren z. B. gegen Staudämme oder sie kämpfen für ein Recht auf kostenlose Bildung, so wie es auch in der türkischen Verfassung steht. Da sind zum Beispiel die Studentin Berna Yilmaz und ihr Kommilitone Ferhat Tüzer, die zu 8,5 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, weil sie in Gegenwart des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan ein Plakat hochgehalten haben, auf dem sie eben kostenlose Ausbildung gefordert haben. Klar ein terroristischer Akt also. An der Ermordung von Hrant Dink beteiligt war eine Gruppe von 18 Personen, darunter der zum Tatzeitpunkt 17-jährige Schütze Ogün Samast, der 22 Jahre Gefängnis erhielt. Der Organisator der Gruppe, Yasin Hayal, der zu lebenslanger Haft ohne Begnadigungsmöglichkeit verurteilt wurde. Der Gruppe zur Last gelegt wurde noch ein Bombenanschlag auf ein Fastfood Restaurant in Trabzon, bei dem 6 Personen verletzt wurden.

Die Absurdität des von der EU einst als Reform begeistert abgenickten türkischen Antiterrorgesetzes kommt klar zum Ausdruck. Wenn Leute die Plakate hochhalten oder Bücher schreiben deswegen als Terroristen verfolgt werden können, hingegen Leute, die erst einen gefährlichen Sprengstoffanschlag begehen und dann über ein Jahr einen politischen Mord planen und schließlich auch in aller Öffentlichkeit ausführen, keine Terroristen sind. Dann kann mit dem Gesetz doch wohl nicht alles stimmen.

Doch in dem Fall Dink steckt noch mehr als diese Absurdität. Gehen wir zunächst zurück an den Anfang des vergangenen Jahrzehnts. Weil er die Behauptung aufgegriffen hat, eines der Adoptivkinder Atatürks, Sabiha Gökcen sei die Tochter ermordeter Armenier gewesen, zieht sich Hrant Dink die harsche Kritik des türkischen Generalstabes zu. Am Tag darauf wird er in aller Frühe ins Büro des Gouverneurs von Istanbul zitiert. Der Gouverneur, Muammer Güler ist nicht da, aber Hrant wird in seinem Büro von mehreren Personen bedroht.

Einen Tag später berichten alle Zeitungen über ein Zitat von Hrant Dink, mit dem er die Türken beleidigt haben soll. Das Zitat ist eindeutig aus dem Zusammenhang gerissen. Trotzdem wird Hrant Dink wegen „Herabwürdigung des Türkentums“ zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Es ist die erste rechtskräftige Verurteilung nach dem neuen Paragraphen.

Hrant Dink wird nun von Nationalisten mit Drohungen überhäuft. Ein Polizeispitzel berichtet, in Trabzon bilde Yasin Hayal Jugendliche an der Pistole aus und suche einen Mörder für Hrant Dink. Die Polizei unternimmt nichts. Schließlich wird Hrant Dink von einem der Gehilfen von Yasin Hayal tatsächlich hinterrücks erschossen.

Zur Beerdigung von Hrant Dink kommen 200 000 Menschen, die Regierung schickt zwar keinen Vertreter, verspricht aber Aufklärung. Mit der Gruppe um Yasin Hayal ist das nicht schwer, schließlich kannte die Polizei ja alle Einzelheiten des Mordplanes bereits lange vor der Tat. Außerdem wurde der Schütze am Tatort gefilmt und trug die Mordwaffe bei seiner Festnahme im Gepäck.

Doch die Aufklärung konzentrierte sich auf angebliche weitere Hintergründe. Eine nationalistische Organisation Ergenekon, die die konservativ-islamische Regierung Erdogan destabilisieren will, soll hinter dem Attentat auf Hrant Dink stecken. Immer mehr hört man von Ergenekon und immer mehr Personen werden festgenommen. Der Fall Hrant Dink gibt den Ergenekon-Ermittlungen so etwas wie eine moralische Legitimität. Doch mit der Zeit entwickelt sich das Ergenekon-Verfahren immer mehr zu einer Keule gegen Kritiker der Regierung. Auch Unterstützer von Hrant Dink sind plötzlich bei Ergenekon. In den Sog kommen auch Organisationen und Initiativen, die sich um die Schulausbildung von Mädchen bemühen.

Es gibt diese und jene Waffenfunde, diese und jene Aussagen von zweifelhaften, durchweg anonym bleibenden „Zeugen“ und angeblich endlose Konspirationen von Ergenekon, aber außer dem Mord an Hrant Dink kaum eine konkrete Tat der Organisation. Selbst der Name der Organisation Ergenekon taucht nur in fraglichen Dokumenten auf. Als dann das Urteil gegen die Mörder von Hrant Dink gefällt wird, ist plötzlich von Ergenekon nicht mehr die Rede. Nun sind die Mörder, die noch vor kurzem als tätiger Beweis für eine Verschwörung von historischen Ausmaßen gesehen wurden, keine terroristische Vereinigung mehr. Die Polizeibeamten, die Hrant Dinks Mord ruhig zugesehen haben, standen eh nie im Verdacht einer Straftat. Der ehemalige Gouverneur von Istanbul, in dessen Amtszimmer Hrant Dink bedroht wurde und der ihm Polizeischutz verweigerte, ist heute Innenminister.

Und was ist aus den ca. 350 Ergenekon-Verdächtigen geworden? Die meisten sitzen nun schon seit Jahren in Untersuchungshaft, wo man sie längst vergessen hat. Einige sind ausgewiesene Rechtsradikale, wie der Anwalt, der Hrant Dink angezeigt hat, ein ehemaliger Offizier, der ihn in den Räumen eines Gerichts in Istanbul bedroht hat. Doch die meisten haben nur einen gemeinsamen Nenner, das sie in der einen oder anderen Weise der Regierung unbequem waren. Und sie werden weiter als Terroristen behandelt, weil sie einer Organisation angehört haben sollen, deren schlimmste tatsächlich ausgeführte Tat der Mord an Hrant Dink gewesen sein soll. Dieser Mord war aber bitte sehr keine Terrortat.