Sprechtext:

Die Dicklippenlumme (uranus maior anticus)

Es gibt Vögel, die Nester bauen, es gibt Vögel, die fremde Nester besetzen, es gibt Vögel, die ihre Eier in fremde Nester legen und dann wieder verschwinden, es gibt Nestbeschmutzer, und es gibt nur eine Vogelart, die es zu ihrem Lebenszweck erklärt hat, ein einziges Nest lediglich zu suchen: Die Dicklippenlumme.

Die Dicklippenlumme stellt eine enorme Herausforderung an die biologische Systematik dar, einerseits unterscheidet sie sich im Wesen kaum von den üblichen Trottellummen in ihrem Umfeld, andererseits deutet ihr plumpes Aussehen eher auf eine Verwandtschaft mit dem Riesenalk oder dem mauritianischen Dodo hin, der ja bekanntlich nicht sehr wohlschmeckend war, aber trotzdem als Frischfleisch ausgerottet wurde.

Aber was macht aus diesem tapsigen komischen Vogel nun eine tragische Figur? Es ist zum einen seine verzweifelte, rückhaltlose, vorurteilsfreie und ergebnisoffene Suche nach einer Nisthöhle, in die er seine dicken Atomeier endgültig ablegen kann. Und zum anderen seine offensichtliche Unschuld an der ganzen Sache. Die Atomeier wurden jahrzehntelang von anderen gelegt, und den Rest macht er nur auf Befehl seiner Chefin, der mächtigen Uckerglucke.

Die Dicklippenlumme kämpft auf ihrer Suche nach der endgültigen Nisthöhle für ihre Atomeier mit zahllosen Widrigkeiten: Erstens gibt es solche Nester nirgendwo, und wenn es zweitens welche gäbe, würde ihr niemand eines überlassen, noch nicht mal befreundete Revierinhaber. Drittens kann der drollige Vogel keine Dimensionen einschätzen und verrechnet sich schon mal um eine Billion, viertens wird er bei seiner Suche immer wieder von Windrädern erschreckt oder verheddert sich in Überlandleitungen. Und wenn doch mal alles glatt geht, verläuft er sich im Bahnhofsviertel.

Eigentlich arm dran, die Dicklippenlumme, und so wie’s aussieht, dazu verurteilt, als ewige Lumme einsam, rast- und heimatlos für die Sünden und Missetaten der Vorfahren büßend durch die Welt zu ziehen und ihre Eier nie loszuwerden.

Sollte also irgendwann einmal ein tonnenförmiger Vogel mit großen Augen, wulstigen Lippen und flehendem Blick vor Ihrer Haustür stehen und nach einem Nest für seine warmen, strahlenden Eier fragen, bleiben Sie hart!
Sowas muss man sich nicht antun.

Ende Sprechtext