"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Der Bart von Sinn -

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Ist es das gleiche, wenn ein Fußballer «Bein» heißt, wie wenn ein Ökonom den Namen «Sinn» trägt? Ein Koch würde dann zum Beispiel Haut Goût getauft, wie jener in der Menschenfresser-Komödie «Häuptling Abendwind» von Johann Nestroy, das hat also alles seine gute deutsch-österreichische Tradition.
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10:38 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.06.2013 / 09:02

Dateizugriffe: 873

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.06.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Jedenfalls seid Ihr in Deutschland mit dem Chefvolkswirt Hans-Werner Sinn ausgestattet, welcher nicht müde wird, die Vorzüge tiefer Löhne zu preisen und die Hartz-IV-Reform unserer viel geliebten SPD zu loben. Es versteht sich, dass ihm die Mindestlohn-Angebote von Bundeskanzlerin Merkel zutiefst zuwider sind. Er verkörpert also die eine Seite einer Aus­ein­an­­dersetzung, die im rein wirtschaftlichen Bereich nicht zum Vornherein so klar ist, wie sie es aus sozialer, politischer und zeitgeschichtlicher Sicht erscheint. Lumpenlöhne für die Lumpenschicht in der Gesellschaft, und zwar im Jahr 2013 – das ist zunächst einfach idiotisch. Aber bei allem Blöd­sinn gibt es ein paar Faktoren, welche den Rahmen der ganzen Diskussion einigermaßen zurecht rücken. Da ist zunächst einmal der innere Wertverlust der Produkte, welcher zu einem klassischen Wert- und Preisverlust der Waren führt. Bei allem Spott über Aldi, Lidl, Norma und wie eure Billiganbieter sonst noch heißen: Sie bringen diesen Wertverlust bloß in der Praxis zum Ausdruck, und zwar in erster Linie dadurch, dass sie in den letzten Bereichen Ökonomie durchführen, also Einsparungen erzielen, wo dies noch möglich ist, nämlich in der Lieferkette, beim Marketing, bei den Lagerkosten und beim Verkaufspersonal. Die Produkte als solche, egal, ob es sich um Zahnpasta handelt oder um siebenblättrige Einweg-Rasierklingen, haben keinen Wert mehr; was ihnen in der Form von Kosten als Wert zuwächst, ereignet sich nur noch außerhalb ihres direkten Entstehungsprozesses. Wenn man so will, nehmen die Produkte somit eine anthro­po­mor­phe Gestalt an: Auch der Mensch ist nicht als biologische Tatsache, sondern als Kulturprodukt Mensch. In punkto Kaufkraft aber ergibt sich die Feststellung, dass die Konsu­men­tin­nen und Konsumenten letztlich nur noch Transport und Verkauf zu finanzieren haben, das sind im Verkauf rund 3 Millionen Beschäftigte, wovon 1.27 Mio. Vollzeit und 780'000 Teilzeit arbeiten, während rund 900'000 geringfügig beschäftigt sind; und in der Logistik sind 2.64 Mio. Arbeitnehmende tätig. Dazu kann man noch einen gewissen Prozentsatz Overhead rechnen, sagen wir mal einen Fünftel, und damit haben wir eine Zahl von 7–8 Millionen Arbeitnehmenden, welche für das gesamte Warenangebot im täglichen Konsumbereich sorgen. Ein ansehnlicher Teil davon zählt im Sinn’schen Sinne zu den Tieflohnbezügerinnen. Dies ist die Kern-Konsumökonomie, zu welcher sich dann zusätzlich die verschiedenen länger haltbaren Güter gesellen, zu welchen ich nicht die Kleider rechnen, welche zweifelsfrei zum Grundkonsum gehören und nichts kosten, wie man sich jeweils anhand von Betriebsunfällen wie jüngst in Bangladesch wieder vergegenwärtigt, sondern die elektronischen Geräte und die Automobile. Einer weitgehend eigenen Logik folgen nach wie vor die Immobilien, die ich hier außen vor lasse, weil es mir nur darum geht, den Tieflohnsektor etwas zu entmythologisieren: Hier geht es nicht um Dinge wie Kaufkraft, die ist weitgehend gesichert dank dem inneren Wertzerfall der Produkte, sondern es geht um soziale Disziplinierung.

Hans-Werner Sinn würde vermutlich den Nachweis erbringen wollen, dass übertrieben hohe Löhne, also das, was der normale Mensch als anständig empfindet, volkswirtschaftlich schädlich sind und direkt, also auf dem Markt, oder indirekt, über Transfer-Ausgleichszahlungen, zum Ruin der Nation führen. Das ist nun zwar offensichtlicher Nonsense, aber die mechanische Gegenposition taugt auch nicht viel mehr, weil nämlich eine einfache Anhebung der Lohnsumme niemals direkt den Inlandkonsum verbessert, wie dies viele linke Politikerinnen behaupten, nicht zuletzt unter ständigem Verweis auf John Maynard Keynes, der aber bittschön doch in ziemlich anderen Zeiten gelebt und gelehrt hat. Eine Anhebung der Lohnsumme führt zunächst zu nichts weiter als zu einer Anhebung der Sparquote, zumindest in jenen Ländern, welche bereits über eine lange Tradition des Massenkonsums verfügen. Selbstverständlich werden aus solchen Spargeldern hin und wieder Zusatzinvestitionen getätigt, zum Beispiel eben im Immobilienbereich, aber durchaus auch in Produkte, welche den Massenkonsumentinnen als Luxus erscheinen, man kauft dann vielleicht einen Audi quattro anstelle eines VW Golf Polo, aber damit ist der Konsum noch nicht richtig ausgeweitet. Das verfügbare Sparkapital bestimmt zu gewissen Teilen das Urlaubsverhalten, was im Bereich Außenhandel zu rubrizieren ist, ohne dass ich mit letzter Sicherheit wüsste, wie; insgesamt aber entscheidet sich die Qualität der gesamten volkswirtschaftlichen Aktivitäten sowieso im Verkehr mit dem Ausland, sei es über die Exportindustrie oder auch im Kaufkraftvergleich beziehungsweise im gegenseitigen Einkaufspotenzial, und in keinem dieser Sektoren kann ich einen Beleg für den besonderen Nutzen eines breit angelegten Tieflohnsektors erkennen.

Wirtschaftlich gesehen hat der Tieflohnsektor also nur jene Bedeutung, das Sparpotenzial der Bevölkerung und notabene des poveren Teils davon auf ein Minimum zu reduzieren, und von solchen Übungen sollte sich jeder Volkswirt schleunigst distanzieren. Umgekehrt führen höhere Löhne eben durchaus nicht zur Stärkung der Kaufkraft, sondern bloß zu gewissen Verlagerungen zum einen, zur Aufstockung des Sparkapitals zum anderen. Somit präsentiert sich diese Aufteilung zwischen normalen und Tieflöhnen wie anfangs gesagt als nichts anderes als eine soziale Klassierung, welche einer bestimmten, nicht übermäßig großen, aber doch eben ansehnlichen Bevölkerungsgruppe im schönen Gesellschaftstheater die Rolle des «ganz unten» zuweist. Eine Gesellschaft, welche nicht nur den Anspruch erhebt, ökonomisch zu sein, sondern auch modern, hat jeden Grund, eine solche Klassierung energisch zu bekämpfen. Soziale Klassierungen gibt es auch unabhängig von solchen überflüssigen Übungen massenweise. Wenn man unten endlich einmal dicht macht, so ist ein schönes Stück Modernität gewonnen. Es kann dabei zunächst egal sein, ob dies in der Form von Mindestlöhnen erreicht wird; mit letzter Sicherheit ist ein anständiges Grundeinkommen ein viel probateres Mittel, das zudem ökonomisch erheblichen Spielraum bietet, und zwar in Bereichen, wo Tieflöhne vorübergehend notwendig sein können, zum Beispiel bei Firmengründungen oder aber bei Sozialfirmen, welche Menschen beschäftigen, die es sich nicht leisten können, im normalen Arbeitsmarkttheater mitzuspielen.

Was auch immer: Einen Tieflohnbereich ökonomisch zu begründen, ist immer eine ideologische Angelegenheit, und das mutet von einem Professor der Salärstufe IIIb oder 5 plus immer wieder besonders schön an, obwohl ich grundsätzlich nicht der Ansicht bin, dass man von einem Nettoeinkommen von 100'000 Euro aufwärts ein Herz für Kinder, Inder oder Arme haben muss.

Vorausgesetzt bei dieser Diskussion ist immer eine so genannt wettbewerbsfähige Volkswirtschaft, also ein produktiver Apparat, welcher einen sinnvollen, das heißt global nachgefragten Beitrag zur Weltwirtschaft zu leisten imstande ist. Dazu leisten Tieflöhne anerkannterweise nicht den Hauch eines Beitrags. Die Frage stellt sich einerseits, ob in einem Land der entsprechende Apparat von Forschung, Entwicklung und Umsetzung vorhanden ist, um einen solchen Beitrag zu erbringen, und dann am Schluss vielleicht noch, ob die Transferabgaben angemessen oder gar zu hoch seien für die Volkswirtschaft. Diese Frage regelt sich aber normalerweise innerhalb des Landes ohne weitere Auswirkungen auf die Außenbeziehungen, und vor allem höre ich praktisch nie konkrete Angaben zu diesen Variablen. Der Grund dafür liegt mit aller Wahrscheinlichkeit darin, dass damit die Diskussion rationalisiert würde, also auf der Grundlage vernünftiger Überlegungen abgewickelt würde. Das gilt es wohl im Sinne von Hans-Werner Sinn tunlichst zu vermeiden, denn die soziale Klassierung beziehungsweise Deklassierung hat ja nur insofern einen Sinn, wenn sie auf der ideologischen Ebene wirksam wird. Das Volk, die Bevölkerung, die werktätigen und noch viel mehr die nicht werktätigen Massen müssen in einem Dauerstress gehalten werden im Rahmen einer atemlosen Diskussion über Produktivitätssteigerung und Wettbewerbsfähigkeit, die im Grunde genommen sehr einfach wäre: Wenn die erwähnten Elemente von Forschung und Entwicklung mit dem industriellen Umfeld und dem Beigemüse eines anständigen Bildungssystems sowie einer intakten Finanzierungsindustrie vorhanden sind, dann braucht man keinerlei Befürchtungen zu haben. Sollte dies allerdings nicht mehr der Fall sein, dann müsste man sich überlegen, ob man vielleicht demnächst mal auswandern sollte, zum Beispiel nach Polen oder nach Frankreich.

Der Großteil der nicht praktizierenden Ökonomen von heute ist auf jeden Fall nicht mehr als Pfaffen einer völlig entkernten Religion. Immerhin haben sie Anrecht auf hohe Staatsgehälter und dürfen sich auch klug zu Fragen wie Staatsquote oder Privatinitiative oder eben Lohnbescheidenheit äußern. Am schönsten sind sie in der Regel allerdings dort, wo sie über die Effizienz der Finanzmärkte quasseln. In der Regel schmücken sie ihren Diskurs dann noch mit irgendwelchen finanzmathematischen Formeln aus, und damit erreichen sie ungefähr das gleiche Niveau wie der französische Mathe-Psychiater Jacques Lacan. Dies ist der lustige Teil; der traurige Teil daran ist der, dass die so produzierte Ideologie nach wie vor einen zentralen Bestandteil unseres gesell­schaft­lichen und wirtschaftlichen Selbstverständnisses darstellt. Was soll ich sagen: Vielleicht ist es einem Menschen tatsächlich völlig unmöglich, sich selber zu erkennen, und zwar nicht deshalb, weil er es nicht vermöchte, sondern weil er es nicht aushalten würde; und dementsprechend gilt so etwas vielleicht auch für die ganze Gesellschaft, vielleicht muss die ganze Gesellschaft immer im Irrtum über sich selber verbleiben oder, in meinen eigenen Worten, die Menschen müssen als Zuschauerinnen im Schauspiel einer Demokratie sitzen. Applaus, Applaus. Vielleicht aber auch nicht? Vielleicht ist es eben doch möglich, dass die Menschen in Etappen näher kommen zum Verständnis der Systeme, in welchen sie leben, und damit auch zur Beherrschung dieser Systeme? Und solange es noch ein paar Hinweise auf diese zweite Möglichkeit gibt, wollen wir nichts unversucht lassen, sie nach Kräften zu fördern.