"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Sacks -

ID 57017
 
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Ich habe ihn in letzter Zeit etwas aus den Augen verloren, zusammen mit seinem Fachgebiet der Hirnkunde, den guten alten Oliver Sacks, bekannt vor allem dank seinem Buch «Der Mann, der seine Frau mit dem Hut verwechselte».
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10:32 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 09.07.2013 / 09:14

Dateizugriffe: 272

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 09.07.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nun las ich am Wochenende wieder mal ein Interview mit ihm, das verschiedene wichtige Informationen zu seinem Werdegang enthielt, zum Beispiel bezüglich seiner ersten Erfahrung mit dem Hirn. Der Interviewer fragt: «Können Sie sich noch erinnern, wann Sie zum ersten Mal ein Gehirn seziert haben?» – Und er antwortet: «Ja, beim Abendessen. Als wir Kinder waren, servierte meine Mutter uns zu Hause Kalbshirn. Sie zerlegte es vorsichtig mit dem Messer und ließ uns die Windungen des Kleinhirns bewundern. Dann forderte sie uns auf, den Geschmack des Kleinhirns mit jenem der Hirnrinde zu vergleichen.» – Und etwas später, ebenfalls über seine Mutter: «Als ich zehn oder elf Jahre alt war, brachte sie ab und zu tote Föten von Fehlgeburten mit nach Hause, die ich studieren sollte. (...) Als ich vierzehn Jahre alt war, nahm mich meine Mutter in die Anatomie mit und ließ mich den Leichnam eines gleichaltrigen Mädchens sezieren.» – Und den Vater lobt er mit folgenden Worten: «Mein Vater war ein fabelhafter Schwimmer. Er hat uns Kinder ins Wasser geworfen, als wir noch Babies waren.» – Na, das sind mir mal vorbildliche Erziehungsmethoden, und wenn ihr möchtet, dass aus euren Kindern etwas anständig Akademisches wird, dann wisst ihr jetzt, was ihr zu tun habt. Ich dagegen glaube vorderhand, dass sich Oliver Sacks auch in seinem achtzigsten Lebensjahr ein paar Späßchen erlaubt, auch bezüglich seiner Lieblings-Haustiere. Einen Tintenfisch hätte er mal gehabt, und am liebsten hätte er ein brasilianisches Wasserschwein nach New York importiert, stattdessen wolle er jetzt eine Schnecke als Haustier zulegen und erwäge den Kauf einer Schaufel voller Würmer. Das ist ja jetzt nicht das große Kino wie mit dem Mann, der seine Frau mit dem Hut verwechselte, sondern eher das kleine leise, aber auch dieses kann sehr lustig sein, ganz abgesehen davon, dass Sacks empfiehlt, «ab und zu mal Urlaub von seinen Großhirnlappen zu nehmen». Aber ja doch!

Diese Empfehlung steht in angenehmem Kontrast zu den Bemühungen der Firma Google, einen möglichst intensiven Kontakt zu meinen Großhirnlappen aufzubauen. Wenn ich das richtig verstanden habe, wird die Google-Brille, das Google Glass, gegenwärtig aufgerüstet auf Blicksteuerung, und die wiederum steht in absehbarer Zukunft in Koppelung mit all dem, was der Kopf bisher empirisch nachgefragt hat, will sagen, eine Kunsthistorikerin erhält von Google Glass laufend Hinweise auf mögliche relevante Bezüge der Außenwelt zur Kunsthistorie. Das könnte sich je nachdem als unpraktisch erweisen, falls nämlich zum Beispiel ein Wolkenfeld vorbeizieht, in welchem Google Glass sämtliche Wolken der ganzen Malerei erkennt. Dann müsste man diese Funktion wohl deaktivieren. Grundsätzlich aber gilt, dass das Google Glass ein intuitives Gerät werden soll, also eines, das vorausahnt, was mein Hirn demnächst denken oder fragen wird, einmal abgesehen davon, dass auch die Schallübertragung direkt auf den Kopfknochen bereits realisiert ist, mich nimmt ja wunder, wie sich das Wagner-Gesamtwerk über Kopfknochen anhört beziehungs­weise es nimmt mich eigentlich nicht wunder, aber die Vorstellung macht mich ein bisschen kribbelig.

Nun steht ja fest, dass Neuerungen immer sowohl auf Begeisterung wie auch auf Ablehnung stoßen, und beide Reaktionen finden sich meistens in allen Individuen in unterschiedlichen Proportionen, und somit ist es zunächst nicht verwunderlich, dass ich eine gewisse Skepsis produziere bezüglich dieser intuitiven Technologie. Es ist allzu offensichtlich, dass hier in erster Linie beabsichtigt wird, das Hirn der Google-Glass-Trägerinnen für Google-Werbung freizuschalten; die Urformen der intuitiven Technologie finden sich ja nach wie vor auf den Suchseiten dieses Anbieters. Daneben aber wachsen Intuition und Kopie der effektiven Gehirnprozesse immer näher zusammen. Somit sind in der Hirnforschung längstens nicht mehr die Neurowissenschaftler und Psychologen wie Oliver Sacks am Werk, sondern eben auch die Suchmaschinen, und wir haben mindestens eine leise Ahnung davon, wie weit das per Saldo gehen wird, wenn wir diese Feststellung verbinden mit der Tatsache, dass Google und Konsorten ihre Informationen schon längstens den Geheimdiensten zur Verfügung stellen und stellen müssen.

Das Hirn wird gemäß dieser Zukunftsvorstellung einerseits assistiert durch ein Hilfs-Hirn, nämlich einen Computer, der längstens nicht mehr einfach Programme ausführt, sondern aufgrund des persönlichen empirischen Profils und der registrierten Gedankenflüsse eben intuitiv mindestens Hirn-Hilfsprozesse ausführt, von denen dann das Großhirn sozusagen entlastet wird; in dieser Vorstellung kann sich das Großhirn am Schluss dann ganz simpel noch den strategischen Fragen widmen, und ich kann mir vorstellen, dass solche strategischen Fragen dann am Schluss noch lauten: Nehme ich heute Spinat zu den Salzkartoffeln oder Bohnen mit Bohnenkraut?

Oder mit anderen Worten: Wenn es tatsächlich so wäre, dass einerseits die durchschnittlichen Köpfe der Menschen in den Gesellschaften der Welt so weit geschult wären, dass sie sich dauernd mit den erwähnten strategischen Fragen von Sein, Zeit und Raum beschäftigen würden oder vielleicht beim Entwickeln neuer Geräte, Materialien und Prozesse von solch einem Hirn-Assistenten unterstützt würden, dann wäre das soweit in Ordnung; aber in der Praxis sieht es eher so aus, dass die Köpfe der allermeisten Menschen auch noch von jenen eher alltäglichen, dafür aber häufigen Aktivitäten entlastet würden, die heute noch ein einigermaßen vitales Hirn ausmachen, während am Schluss, wenn der Computer auch diese Prozesse noch übernommen hat, dieses Hirn gerade noch für Computerspiele taugt oder für ein bestimmtes Spektrum an Fernsehsendungen, welche selbstverständlich über diese Glasses, egal ob von Google oder Apple, ebenfalls direkt in den Kopfknochen eingespeist werden können. Bei Bedarf dagegen, sei es im Fall einer Katastrophe oder zum Beispiel, wenn es darum geht, einer fremden Rasse den Garaus zu machen, können über diese Glasses dann die entsprechenden ideologischen Grundlagen und die dazu gehörigen Handlungsmuster direkt eingespeist werden. Und das bedeutet wiederum, dass gewisse psychische Instanzen überflüssig werden, welche in den letzten beiden Jahrhunderten für ein einigermaßen friedliches Zusammenleben und für einen reibungslosen Äquivalententausch gesorgt haben; demnächst kannst du das über das Glass bzw. über die Kopfantenne alles direkt in den Menschen einspeisen.

Nun, so weit wird es nicht kommen – solange unten an unseren Armen noch Hände wachsen, mit denen wir diese Brillen abnehmen können, ist die Hoffnung nicht verloren, ganz abgesehen davon, dass die Glasses für gewisse Einsatzbereiche zweifellos Vorteile haben. Trotzdem erscheinen die Computerbrillen gegenwärtig definitiv als jene Schnittstellen, mit welcher die bald einmal lückenlos digitalisierte Umwelt an den Menschen heran- und in ihn hinein getragen wird; die Brille wird zum siebten oder achten Sinn, und wie der Durchschnittsmensch mit derartigen zusätzlichen Erfahrungsebenen umgehen wird, das kann ich nicht vorhersehen. Vorderhand wird es sich so verhalten wie mit dem Computer: Man nutzt ihn, ohne es zu wissen, zum Beispiel in zehntausend Varianten beim Autofahren beziehungsweise im Automobil, wie ich mich kürzlich anhand einer ausgedehnteren Autofahrt in einem Modell der Marke Opel wieder mal überzeugen konnte, dieses Gefährt war imstande, mit der Kühlung, welche man übrigens von allen Himmels- bzw. Raum­rich­tungen her einstellen konnte, mitten im Sommer authentische Frostblumen an die Windschutz­scheibe zu malen. Oder man nutzt ihn zum Spielen. Kurz, man schöpft einfach die technischen Möglichkeiten in keiner Art und Weise aus, welche das Gerät theoretisch anbieten würde, und da haben wir schon wieder die Parallele zu unserem eigenen Intellekt: Auch den verwenden wir ja eigentlich bloß noch, um in die nächste Kneipe zu steuern, und dabei könnten wir doch alle Relativitätstheorie und Quantenphysik studieren, wenn bloß die Verhältnisse die richtigen wären.

Dieses Thema will ich heute aber weiträumig umfahren und mich mit der Frage begnügen, welche Bedingungen denn endlich erfüllt werden müssen, damit die Mitglieder der Gesellschaft endlich allesamt eine umfassende Bildung erhalten, will sagen, von der Kunstgeschichte bis hin zum Schutzgasschweißen und eben zur Quantenphysik. Ist das denn so schwierig? Vielleicht besteht die Schwierigkeit vor allem darin, dass wir uns die Bildung nach wie vor nur im Rahmen unserer 12-jährigen Adoleszenz vorstellen, die Universität einmal ausgenommen. Aber nur schon für diese Phase gilt schon längstens nicht mehr der Grundsatz, dass alle Menschen bildungsfähig sind. Dabei ist die Bildung nach meinem Wissensstand das einzige Mittel, um der herauf dämmernden Inte­gration der computergestützten Wahrnehmung einigermaßen entgegenzutreten beziehungsweise sie unter der Kontrolle der einzelnen Menschen zu halten. Wo die Computeranwendungen das Individuum überrennen, da ist der Schritt vollzogen zum perfekten Ameisenstaat, in welchem die konformen Subjekte nicht willenlos, sondern gemäß einem verallgemeinerten Willen funktionieren, spielen und konsumieren. Dagegen hilft wirklich nur eines: Bildung mit Tiefgang.

Und wenn man hier einwendet, dass es ganze Stadtquartiere oder ganze Menschenklassen gebe, welche profund bildungsfeindlich seien, so ist dies nicht ein Argument gegen die Bildung, sondern es ist eine Aufgabenstellung, welche man vielleicht am besten löst, indem man die Bundeswehr in die entsprechenden Quartiere und Klassen entsendet, damit die uns nicht vollends verblöden. Ein guter Blödheitsindikator ist übrigens, mindestens in Deutschland, der Rechtsextremismus, aber er ist durchaus nicht der einzige. Wie gesagt: Das Bildungsziel muss darin bestehen, dass alle Menschen umfassend gebildet sind, von der Kunstgeschichte über das Schutzgasschweißen bis hin zur Quantenphysik, Grundlagen der Programmierung und Computertechnik selbstverständlich inbegriffen. Was heißt da Bildungsziel: Es bleibt uns schlicht und einfach nichts anderes übrig als eine massive Ausdehnung des Wissensstandes und des Denkvermögens der breiten Bevölkerung, sofern wir als Gattung Mensch weiter bestehen wollen ohne anonyme Steuermänner und –frauen oder gar die Übernahme der Kontrolle durch die intuitiven Maschinen. Ausbildung und Denk­vermögen, das ist unsere Grundausrüstung. Wenn wir derart gerüstet sind, dann kann uns die Google-Brille vielleicht tatsächlich eine Hilfe sein, zum Beispiel, indem wir von Anfang an gewisse Funktionen deaktivieren.

Zum Abschluss möchte ich noch den Text eines Kleininserates präsentieren, das ich vor zwei Monaten mal gesehen habe: «Hallo Bordeaux-Wein-Fans. Wir stehen traurig im Keller und werden nicht mehr gebraucht! Wer sammelt leere Holzkisten zum Basteln?» – Ein bisschen enttäuscht war ich eigentlich davon, dass nicht auch noch die leeren Flaschen angeboten wurden. Ein echter Bordeaux-Wein-Fan interessiert sich doch viel mehr für die Flasche als für die Kiste!

Kommentare
09.07.2013 / 13:32 Dieter, LORA München
09.07. in "freie Radios" 20:00
vielen Dank