"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Geschichte -

ID 57462
 
AnhörenDownload
Wieso interessiert man sich für Geschichte? Sofern man es überhaupt tut. Ich glaube, es handelt sich in beiden Fällen um einen falschen Umgang mit der Zeit. Wer nichts von der Vergangenheit wissen will, der lebt ganz in der Gegenwart, und das kann ich niemandem empfehlen, denn nichts ist flüchtiger als diese.
Audio
10:43 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.07.2013 / 12:04

Dateizugriffe: 319

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 30.07.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Fixierung auf den Moment würde ich bezeichnen als einen natürlichen Reflex, der sich – na ja, halt eben von den Verhaltensweisen längst untergegangener Menschen­we­sen nur graduell unterscheidet. Da habe ich jetzt gerade einen klasse Scherz platziert: «nur graduell», dass ich nicht lache! Der Unterschied zwischen einem Cro Magnon und einer Spitzen-Führungskraft ist so groß wie jener zwischen einem Faustkeil und einem Chronometer der Firma A. Lange & Söhne aus Glashütte. – Dieses Unternehmen sollte bei Gelegenheit mal entweder den Firmensitz oder aber seine Produkte ändern, aber dies nur nebenbei. – Trotzdem verhalten sich Spitzenmanager oft ebenso neurotisch wie pubertierende Teenager, für welche allerdings der Augenblick und die Zukunft aus anderen Gründen eine deutlich höhere Bedeutung haben. Das erinnert mich übrigens an jenen anderen Scherz, der letzte Woche entstanden ist: Kennt ihr den Unterschied zwischen den ehemals staatlichen Telecomunternehmen in Frankreich und in der Schweiz? In Frankreich bringen sich die Mitarbeiter um, in der Schweiz der CEO. Und was macht René Obermann, der Chef der Deutschen Telekom? – Achso, er tritt per 2013 zurück. Das ist natürlich eine weitere Variante im Umgang mit der Zeit. – Und zu unserem mit Tod abgegangenen Swisscom-Chef Carsten Schloter will ich noch nachtragen, dass es sich um einen auch beim Personal durchaus geschätzten Arbeitgeber handelte, der es aber nach eigenen Worten nicht mehr schaffte, aus seiner Gegenwartsorientierung auszubrechen. Er nannte das «Nicht mehr abschalten können».

Wer sich dagegen für Geschichte interessiert unter dem Vorwand, man müsse daraus lernen, der hat sich ebenfalls verwickelt. Gegen prähistorische Verhaltensweisen hilft kein Geschichtsstudium, sondern vielleicht ein Knüppel oder sonst welche vernünftige Maßnahmen. Aus der jüngeren Geschichte gibt es bitte schön auch nicht allzu viel zu lernen, wenn’s recht ist. Sonst kommen uns die Ungarn wieder mit dem Trianon-Vertrag, ihre historischen Gegner mit der Zwangs-Ungarifizierung vor dem Ersten Weltkrieg und so weiter. Ihr selber in Deutschland möchtet bitte aus der Geschichte auch nichts lernen und vor allem, wenn’s geht, nicht etwa das gewaltige Memento des Judenmordes und überhaupt des Faschismus verwechseln mit dem Gegenstand einer Geschichtsstunde. Bitte nichts daraus lernen, einfach ganz normal weitermachen und nicht vergessen: Pfoten weg.

Statt aus der Geschichte zu lernen, kann man sie aber studieren, wobei die Beweggründe egal sind, ein Erziehungsfehler zum Beispiel oder sonst eine Beschädigung, es tut nichts zur Sache und bleibt spannend. Wollt Ihr ein Beispiel? Kürzlich war ich in Italien auf dem Monte Sant’Angelo, einer Bergfestung mit Kathedrale auf dem Gargano, die von den Normannen errichtet wurde. Diese Normannen stammten aus der französischen Normandie, wo sich ein Teil der ursprünglichen Normannen niederließ; ursprünglich kommen sie aber aus Skandinavien bzw. Europa von Schleswig-Holstein an nördlich und wurden im Mittelalter auch Wikinger oder Dänen genannt, und einige Normannen wurden mit Zweitnamen Russen geheißen. Im Finnischen heißt Schweden offenbar heute noch Ruotsi. Der Name Russen stammt vom ersten weißrussischen Reich, wenn man so will, vom Kiewer Großreich, dessen Fürsten Wikinger waren. In Italien folgten die Normannen, die von Süden her gekommen waren und als Kriegsherren in die Dienste lokaler Fürsten getreten waren, welche sie bald einmal ablösten, auf die Langobarden beziehungsweise das, was Karl der Große von ihnen im Süden Italiens noch übrig gelassen hatte. Die Langobarden ihrerseits werden erstmals am Unterlauf der Elbe erwähnt, bevor sie sich dann im Zuge der allgemeinen Völkerwanderung auf den Weg nach Süden machten, zuerst nach Niederösterreich und dann eben nach Italien. Dort heißt ja heute noch eine Region Lombardei, nämlich das reiche Teil um Mailand bis weit in die Poebene hinein; in einem historischen Sinne pikant ist dabei, dass sich die unterdessen nicht mehr so aktive padanische Sezessionistenbewegung, die ihren Hauptsitz justament in Mailand hat, nicht etwa auf die Langobarden beruft, sondern aufs Keltentum. Die haben die Geschichte nun definitiv nicht studiert, aber nicht nur die Geschichte; der ehemalige Minister und Alkoholiker Roberto Calderoli gibt zum Beispiel am Laufmeter den Rassisten, neuerdings wieder gegen die erste schwarzhäutige Ministerin in einer italienischen Regierung. Aber das ist wieder eine andere Sache beziehungsweise könnte, wenn überhaupt etwas, ein Beleg dafür sein, dass diese Vögel eben doch immer noch Kelten oder meinetwegen Langobarden sind.

Die Normannen dagegen wurden in Sizilien abgelöst durch die Staufer, indem Heinrich VI. die Tochter des Normannenkönigs Roger II. heiratete; aus dieser Ehe ging der römisch-deutsche Kaiser Friedrich II. hervor. Nach ihm zerfiel allerdings dieses Herrschergeschlecht und auch das deutsche Reich, und Monte Sant’Angelo ging an Charles von Anjou über, der Hauptsitz des Königreichs beider Sizilien verlagerte sich nach Neapel, und die Anjou ihrerseits wurden im 15. Jahrhundert von den spanischen Aragonesen besiegt.

Sizilien hatte übrigens vom Altertum bis zu den Normannen eine wichtige Stellung im Mittelmeer, von den Griechen über die Karthager und die Römer, wobei Sizilien als Teil Ostroms noch bis ins 9. Jahrhundert zu Konstantinopel bzw. Byzanz gehörte; dann kamen die Moslems und revolutionierten den Ackerbau, wodurch die Insel neben dem Handels- auch ein Wirtschaftszentrum wurde. Palermo war noch im Mittelalter bis zu den Staufern eine bedeutende Stadt; der Sarg des deutschen Kaisers Friedrich II. befindet sich im dortigen Dom. Nach den Staufern ging es aber mit Sizilien bergab und, wie gesagt, mit Neapel bergauf.

Yo, so ist das mit der Geschichte. Es gibt nix draus zu lernen, aber mit etwas gutem Willen kann es einem dabei schwindlig werden, ungefähr so, wie wenn man vor einer Achterbahn steht. Wenn man in der Interpretation so weit geht, dass man sich vorstellt, wie man selber drin sitzt in der ganzen Weltgeschichte, dann kann man sich das Schwindelgefühl erst recht und potent erzeugen. Und hier besteht auch ein gewisser Praxisnutzen der Geschichte: Sie ruft einem doch hin und wieder in Erinnerung, dass die großen Entwicklungszüge durchaus einen anderen Verlauf nehmen und andere Dimensionen haben, als uns dies die eigene Erfahrungswelt oft vorspiegelt. Und noch einen weiteren Nutzen besitzt die Geschichte: Wer sie sich etwas näher anschaut, kann die Mythen zerpflücken, welche auch heute noch die Nationalstaaten im Kern zusammen halten. Das ist allerdings eine fruchtlose Beschäftigung; einem Mythos kommt man mit der Wahrheit nicht bei. Abgesehen davon besteht so ein durchschnittlicher Staat ja nicht ausschließlich von Mythen, sondern je länger, desto stärker auch aus jenen Gewohnheiten, aus der Praxis, welche sich im jeweiligen Gebilde entwickelt haben und um welche sich dann die Mythen in der jeweiligen Zeitform schlängeln. Hier entsteht in den Geschichtswissenschaften ein interessanter Prozess, in welchem die vermeintlich objektive Geschichtsschreibung nun durch die Wahl des Gegenstandes oder durch die Eingrenzung dem offiziell verleugneten Gebot der Mythologisierung Genüge tut. Aber das ist wiederum ein anderes Kapitel. Jedenfalls ist es für jeden deutschen Mythomanen bitter, wenn er die Gebeine eines der wichtigsten deutschen Kaiser in Palermo bestaunen muss. Umgekehrt berufen sich zum Beispiel die Katalanen in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen erstaunlicherweise auf Karl den Großen, aber den Grund hierfür habe ich nie richtig begriffen.

In der Regel bleibt die Geschichtsschreibung Teil der Herrschaftsgeschichte; aber die Herrschaft selber verändert in zunehmend komplexen und arbeitsteiligen, wo nicht überhaupt internationalen oder globalisierten Gesellschaften ihr Gesicht und ihr Wesen, was sich eben auch im Historischen niederschlägt. Man ist zunehmend nur noch im Subtext national und im Haupttext ohnehin selbst­kritisch; in dieser Beziehung haben gerade die Deutschen zwar nicht aus der Geschichte, aber doch Geschichtsschreibung gelernt, und dies, also die kritische Be- oder sogar Verarbeitung des National­sozialismus, ist doch eine Leistung, die einer modernen Gesellschaft würdig ist, dochdoch. Und wenn ich dies nach wie vor unter einen falschen Umgang mit der Zeit rubriziere, dann kann ich tröstend anmerken, dass es sowieso keinen richtigen Umgang mit der Zeit gibt, weder begrifflich noch im echten Leben. Ich hoffe nicht, dass mir jemand von euch widerspricht, denn sonst stünde er in der Pflicht, den Beweis des Gegenteils zu erbringen. Noch nicht mal eine Uhrmacherfirma wie die Firma A. Lange und Söhne in Glashütte kann von sich behaupten, sie pflegte einen richtigen Umgang mit der Zeit, denn das Messen derselben hat damit zunächst noch nichts zu tun.

Am heutigen Dienstag, 30. Juli, kommt es aus, ob zum ersten Mal in der italienischen Justizgeschichte ein letztinstanzliches Urteil gegen Silvio Berlusconi ergeht. Die Fakten sind klar, Berlusconi hat den Fiskus um 7 Mio. Euro geprellt, und zwar zu jenem Zeitpunkt, als er selber Ministerpräsident war. Vermutlich waren es nicht 7 Millionen, sondern 70 oder 700, aber darauf kommt es auch schon nicht mehr an. Wichtig bei diesem Prozess ist, dass er im Fall der Verurteilung kein politisches Amt mehr ausüben darf. Sein Einfluss wird dadurch nicht auf einen Schlag dahin sein, aber schwinden wird er mit Garantie. Wenn er in Zukunft sämtliche Schmierereien durch Mittelsmänner erledigen lassen muss, wird das ganze System furchtbar wackelig. Seine alten Vertrauten sind zum Teil bereits selber im Knast und zum Teil ganz einfach weg vom Fenster. Die Beziehungen zu den neuen Kollegen sind rein pekuniärer Natur. Das System Berlusconi wird durch einen Schuldspruch empfindlich geschwächt. Und wenn es unserem Oberclown nicht ein letztes Mal gelungen ist, auf die eine oder andere Hundsweise die Richter zu schmieren, dann kann das Urteil gar nicht anders lauten als schuldig in sämtlichen Anklagepunkten und noch vielen anderen mehr. Wir sind gespannt. Und in dem Moment, da eben das System Risse zu zeigen beginnt, wird uns dieser alte Satyr auf seine Art schon fast sympathisch. Er selber kann ja eigentlich nichts dafür, dass ihn die Italienerinnen immer wieder gewählt haben. Er ist bloß das lebende Gemälde oder eine bewegte Statue der italienischen Unfähigkeit, einen modernen Staat einzurichten. Die Geschichte wird ihn nicht als einen Politiker, sondern als ein modernes Kunstwerk betrachten. Er hat auf seine Art das geleistet, was heute im deutschen Fernsehen Figuren wie Dieter Nuhr oder Eckhart von Hirschhausen erbringen, angesichts derer ich zwangsläufig mein Urteil über Stefan Raab überdenken muss. Aber das ist ein derart harter Schlag für mich, dass ich mir dafür noch ein wenig Gnadenfrist erbitte.