"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kein Wahlkampf -

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Die August-Ausgabe des «Le Monde diplomatique» publiziert einen ausführlichen Bericht von Neal Ascherson über Deutschland, natürlich aus Anlass des aktuell tobenden Wahlkampfes. Neal Ascherson ist ein Schüler des letzten marxistischen Historikers, Eric Hobsbawn.
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Upload vom 13.08.2013 / 10:01

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Klassifizierung

Beitragsart:
Sprache:
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 13.08.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Er schreibt: «Europa und die Europakrise spielen (im Wahlkampf) kaum eine Rolle. Wenn man die Reden hört oder Wahlprogramme liest, würde man nicht auf die Idee kommen, dass junge Leute in anderen Ländern auf Wasserwerfer losgehen, den deutschen Neoimperialismus verfluchen und Bilder von Merkel, der Zerstörerin Europas, verbrennen.» Nun sind mir persönlich nicht allzu viele Länder Europas bekannt, welche offen antideutsche Demonstrationen kennen, und die Ressentiments gegen euer Land sind in der Regel gemischt mit der Anerkennung seiner wirtschaftliche Stärke und politischen Stabilität sowie Schuldgefühlen bezüglich der Unfähigkeit, im eigenen Zuständigkeitsbereich einigermaßen taugliche Strukturen herzustellen und zu betreiben, na ja, die üblichen sozialdemokratischen Einrichtungen, wie man sie durchaus nicht nur in Deutschland kennt, sondern noch viel ausgeprägter in den skandinavischen Ländern. Aber davon abgesehen stimmt die Aussage zur fehlenden europäischen Dimension selbstverständlich 100%-ig, und zwar nicht nur für die Zeiten des Wahlkampfes. Ascherson zitiert dazu den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann: «Europa steht für Subsidiarität. Nationalismus zählt da nicht viel. In der Europäischen Union wird heute viel zu viel über nationale Souveränität geredet. Das ist atavistisch!» – Das halte ich nun auch wieder für eine kühne Interpretation, auch wenn sie mir nicht unbekannt ist: Vor zwanzig Jahren, als man hier über einen EU-Beitritt der Schweiz diskutierte, war auf Seiten der Befürworter oft vom «Europa der Regionen» die Rede. Schön wärs – aber der angebliche Atavismus bestimmt die Realität bis zu offenen Austrittsforderungen einzelner Parteien und Austrittsdrohungen einzelner Länder. Das hat neben der ordentlich inhomogenen Zusammen­setzung der EU auch mit der unterschiedlichen Art und Weise zu tun, wie die Mitgliedstaaten aus der Krise heraus gekommen sind. Die Nationalstaats-Frage ist im Osten zum Teil noch nicht einmal korrekt gestellt.

Dagegen fand ich die Aussage spannend, dass die deutschen Bundesländer heute gegenüber dem Zentralstaat immer selbstbewusster aufträten. Weniger aufregend erschien mir der Hinweis auf das mangelnde Bewusstsein der historischen Schuld mit Hitlerdeutschland im Osten Deutschland, was der Grund für die Häufung rechtsextremer Gruppen in den neuen Bundesländern sei; das halte ich für Geplapper, ebenso wie den Hinweis auf das Zerbrechen der sozialen Solidarität beziehungs­weise der sozialen Marktwirtschaft wegen der Schuldenlast aus der Übernahme der DDR. Solche Phänomene gehören viel stärker zur allgemeinen Entwicklung des kapitalistischen Systems beziehungsweise zur Überwindung der klassischen gesellschaftlichen Zwei- und Zuteilung in Arbeiter und Patrons. Ganz abgesehen von allem anderen wird mit dem Lobpreis der Sozialpart­nerschaft während der Hochkonjunktur eine ganze Reihe von Fragen ausgeblendet, die Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen waren, nämlich die gesamte Politik.

Und schließlich wagt Neal Ascherson die Prognose, dass die großen Gewinner bei den Bundestagswahlen die Grünen sein könnten; das wiederum würde ich durchaus nicht ausschließen. Wo er aber den SPD-Veteranen Erhard Eppler zitiert mit den Worten «Dies (also die Regierung Merkel) ist die schlechteste Regierung, die Deutschland seit 1945 hatte», da weiß ich einfach nicht, wovon Eppler spricht und was Ascherson mit der Aussage beabsichtigt. Aus neutraler Sicht kann ich euch versichern, dass die Regierung Merkel bei weitem nicht die schlechteste, sondern die absolut hammermäßig durchschnittlichste Regierung ist, welche Deutschland seit Jahrtausenden hatte. – Was heißt da Deutschland: die durchschnittlichste Regierung ganz Europas! – Und angesichts dessen wird es jegliche Opposition schwer haben, Frau Merkel aus dem Sattel zu stemmen.

Das ist doch auch der Grund dafür, dass bei Euch so gut wie kein sichtbarer Wahlkampf stattfindet. Das Zeitalter der Demagogen ist in den zivilisierten Ländern vorbei, lang lebe der Durchschnitt, lang lebe die Sozialdemokratie, egal, ob in einer Neuauflage der schwarz-gelben oder in einer großen Koalition; ändern wird sich nichts, weder innen- noch außenpolitisch.

Ein weiterer ausführlicher Artikel im Monde Diplomatique befasst sich mit Algerien, wo gegenwärtig die Biografien und Autobiografien von Menschen, die im Befreiungskrieg gekämpft haben, geradezu dutzendweise publiziert werden. An den Universitäten dagegen bleibe es eigenartig ruhig rund um dieses Thema, und zwar aus dem einzigen Grund, dass man dem mythologisch überhöhten Sieg über die Besatzungsmacht Frankreich keine Abstriche zufügen will, zum Beispiel durch die Korrektur der Anzahl Todesopfer auf algerischer Seite. Offiziell werden 1.5 Mio. Tote angegeben, die französischen HistorikerInnen halten die Zahl von 400'000 dagegen, was offenbar auch von algerischen Forschern bestätigt wird. Dazu kommen aber noch verschiedene Geschichten von Verrat, von Hinrichtungen und Folter auch auf Seiten der Rebellen, ganz abgesehen von Dingen wie dem «Complot bleu», dem blauen Komplott, bei dem die Führung der Rebellenarmee aufgrund von Falschinformationen der Franzosen Hunderte ihrer eigenen Leute hingerichtet hätten. Und so weiter, und so fort; auch hier scheint es auf Seiten der Sieger schwieriger zu sein, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten, als bei den Verlierern, im konkreten Fall die Franzosen. Dabei war das Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien vor Ausbruch des Befreiungskriegs verhältnis­mäßig freundlich und beruhte selbstverständlich auf Jahrtausende alten gegenseitigen Beziehungen über das Mittelmeer, von den ersten Anfängen der Mittelmeerkulturen bis zur Zeit der arabischen Herrschaft, die 1830 von den Franzosen gebrochen wurde. Vor rund 100 Jahren wurde die Kolonie zu einem französischen Departement erklärt. Die algerische Elite erhielt die französische Staatsbürgerschaft, im Gegensatz zur Durchschnittsbevölkerung, die sich damit bis nach dem Zweiten Weltkrieg gedulden musste; aber da war die Unabhängigkeitsbewegung bereits zu stark, und das Massaker von Sétif, das im Jahr 1945 Tausende von Algerierinnen und Algerier das Leben kostete, dürfte dann den Wendepunkt bei dieser Entwicklung gebildet haben, die letztlich im Jahr 1962 in die Unabhängigkeit mündete.

Aber zurück zu euren Wahlen. Ich mag mich nicht erinnern, dass eine solche Kampagne je derart lustlos und eben eigentlich ohne Kampagne geführt wurde. Vielleicht begnügt sich die offizielle SPD damit, dass sie im Bundesrat unterdessen über die Mehrheit verfügt, was die These des Erstarkens der Länder und möglicherweise auch weiter unten der Kreise und der Kommunen bestätigen dürfte, mindestens soweit Genosse Eppler der Informant von Ascherson war. Solche Tendenzen finde ich grundsätzlich positiv, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die Aufgaben der Öffentlichkeit zu schönen Teilen dezentral anfallen. Hier muss an und für sich der Grundsatz gelten, dass zwar alle nach denselben Regeln verfahren sollen, dass aber die Kompetenzen, und zwar vor allem die Finanzkompetenzen, so weit unten wie nur möglich anzusiedeln sind. Und wenn dann halt beim Wahlkampf eine echte Flaute herrscht, dann nimmt man das durchaus billigend in Kauf. Jedenfalls ziehe ich eure lauen Lüftchen bei weitem vor den unanständigen, verleumderischen und bald schon hunderte von Millionen Dollar schweren Kampagnen, welche bei den Amerikanern jeweils geführt werden. Selbstverständlich kann man die beiden Länder nur schwer vergleichen, und auf die groben US-Klötze gehört offenbar ein viel gröberer Keil als in unseren Gegenden; trotzdem schaudert’s mich noch heute, wenn ich an die Auftritte der republikanischen Präsidentschaftskandidaten während der Kandidatenkür erinnere. Mitt Romney verhielt sich im eigentlichen Wahlkampf dann ja schon fast wie ein zivilisierter Mann mit Hoden und Krawatte.

Spannend sind demzufolge nur noch Randerscheinungen. Wird sich die FDP im Bundestag halten können? – Ich gehe vorsichtshalber mal davon aus, dass Ja. Die Piraten dagegen scheinen sich abgemeldet zu haben, was ich natürlich bedaure. Von der «Alternative für Deutschland», welche laut Ascherson ebenfalls Chancen hätte, in den Bundestag zu kommen, hört man jetzt auch seit geraumer Zeit nichts mehr, und die Linke wird ihre Bestände mindestens im Osten der Republik halten können.

Und dann bietet die Person des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück doch noch Anlass zu gewissen Bemerkungen. Die offizielle Parteilinie, welche durchaus nicht übereinstimmen muss mit der politischen Praxis, eben, vor allem in den Ländern, stützt sich nach wie vor auf eine klassische Arbeitnehmer-Basis, was für einen offiziellen Kandidaten eine Rolle definiert, die mit Peer Steinbrück grundsätzlich falsch besetzt ist. Das ist eindeutig ein Wirtschaftsheini, und zwar wie alle SPD-Wirtschaftsheini einer, den man nicht übertrieben Ernst zu nehmen braucht. Seine andauernden verbalen Ausrutscher mag man ihm als sympathische Offenheit verzeihen, aber Wahlpropaganda im engeren Wortsinn ist das nicht.

Yo, Mann. In ihrer Hilflosigkeit werfen die Analytiker und die politischen Gegner Frau Merkel manchmal einen Mangel an Leadership vor. Tatsächlich hat sie von ihrem politischen Vorgänger die Kunst des scheinbaren Nichtstuns übernommen, die bei Helmut Kohl noch «Aussitzen» hieß. Ich selber bin geneigt, ein Land relativ glücklich zu nennen, das keine Leadership braucht. Vor allem Deutschland dürfte auf lange Zeit hinaus von Führern welcher Art auch immer geheilt sein.

Kommentare
13.08.2013 / 18:53 Jürgen, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
gespielt in Sonar am 13. 8. 2013
Danke
 
14.08.2013 / 19:48 MiMa-Redaktion, coloRadio, Dresden
gesendet im MittwochsMagazin am 14.08.13
danke!