"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Syrien -

ID 58044
 
AnhörenDownload
Hinrichtungen standen im Mittelalter nicht auf der Tagesordnung, im Gegensatz zur Not und zum Elend im Alltag der Durchschnittsmenschen. Wo aber welche stattfanden, waren sie oft grauslich ge­hal­ten und erfüllten bestimmte Zwecke für das Bewusstsein der Öffentlichkeit, soweit sich ein solches bereits entwickelt hatte; vielleicht trugen diese seltenen, zelebrierten Grausamkeiten gerade zum Ent­stehen dieses Bewusstseins bei.
Audio
09:49 min, 9202 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 20.08.2013 / 09:25

Dateizugriffe: 568

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 20.08.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Und vielleicht hat es heute eine ähnliche Funktion, wenn die Uno Inspektoren nach Syrien entsendet, um Beweise für den Einsatz von Chemiewaffen zu sam­meln. An der Tatsache, dass sich das Land im Krieg befindet, was per Definition mit der Tötung von Militär- und Zivilpersonen verbunden ist, ändert die Mission nicht viel, aber mögli­cher­weise leistet sie einen Beitrag für das öffentliche Bewusstsein, der global wahrgenommen und verstanden wird, also auf jeden Fall überall dort, wo die Medien hin reichen. Ein solches Bewusstsein würde also, Insch’Allah, verschiedene Radikalinski daran hindern, zu den geächteten Kampfmitteln zu greifen, da sie damit gleichzeitig sich selber und ihre Sache unrettbar beschädigen würden. So etwas hat durchaus Gewicht, und insofern vermag ich gewisse Reste an Verständnis für die Uno-Mission zusammenzukratzen, während es mir sonst in diesem Konflikt und vor allem bei der Berichterstattung darüber vollkommen abgeht. Aber das wisst Ihr nun schon seit geraumer Zeit.

Im Konflikt in Ägypten zeigen sich immer wieder unerwartete Facetten. So sind offenbar seit dem jüngsten Militärputsch die Muslimbrüder zu Trägern von Demokratie und Menschenrechten geworden. Das lässt unsereinen zunächst eine Runde schmunzeln, und wir erinnern uns daran, wie die «Bild»-Zeitung anlässlich ihrer Kampagne gegen den ehemaligen Herrn Bundespräsidenten Christian von und zu Wuff zur authentischen Ikone der Presse- und Meinungsfreiheit stilisiert wurde, natürlich hauptsächlich von sich selber, aber durchaus auch von stirnrunzelnden und vielleicht unterdessen wenigstens nicht mehr Pfeife rauchenden Kommentatoren in seriösen Blättern. Dabei steht doch fest, dass die «Bild»-Zeitung keine Zeitung ist, sondern ein Schlamm-, Kot- und Urinbeutel, der täglich an ein paar Millionen BewohnerInnen Eures Landes gegen Geld abgegeben wird. Und die Muslimbrüder? – Nun, hier wollen wir etwas großzügiger sein und die Vermutung walten lassen, dass sie sich seit ihrer Gründungszeit und auch seit ihrer Unterdrückung durch die autokratischen Regierungschefs von Nasser bis zu Mubarak gewandelt und entwickelt haben. Das erklärt vermutlich die paradoxe Situation, dass die Muslimbrüder in der Opposition durchaus klandestine Strukturen und eine ansehnliche Unterstützung in der Bevölkerung aufzubauen vermochten, aber in keiner Art und Weise auf den Umgang mit der offiziellen Regierungsgewalt vorbereitet waren. Die einzige Leistung von Präsident Mursi und seinem Umfeld bestand in ein paar kleineren Versuchen, die Verfassung in Richtung Mittelalter weiter zu entwickeln, ungefähr so, wie dies gegenwärtig hin und wieder in Russland beobachtet wird; daneben hatten die Jungs schlicht und ergreifend keine Ahnung von Tuten und Blasen. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass diesen Betbrüdern noch eine massive interne Auseinandersetzung bevorsteht, denn allein von der Scharia hat eine moderne Volkswirtschaft noch nicht gegessen – und das wollen die meisten ja denn doch auch wieder, eine moderne Volkswirtschaft mit modernen Produkten und modernen Freiheit, Kopftuch hin oder her. Diese Auseinandersetzung wurde vom Militär mit dem Putsch am Ausbrechen gehindert, aber falls sich die Lage in absehbarer Zeit wieder normalisieren sollte, dann erscheint mir dieser Prozess unabwendbar.

Unterdessen fühlen sich die Medien im Westen wohl sehr patent und unabhängig und neutral, wenn sie zwischendurch auch mal die demokratischen Rechte der Islamisten verteidigem. Lustig an der ganzen Sache ist aber vollends die Position der Saudiaraber. Die hatte ich nun weiß Gott über die ganze Zeit hinweg als echte Alliierte der Moslembrüder eingeschätzt, natürlich vor allem wegen ihrer Unterstützung in früheren Zeiten; und nun machen die sogar der ägyptischen Armee, welche man absolut als Vertreterin einer laizistischen Staatsordnung ansehen kann, Feuer unter dem Hintern, damit sie den Moslembrüdern einheizt. Das ist denn doch wieder sehr possierlich. Bei dieser Gelegenheit hat eine Kommentatorin darauf hingewiesen, dass die Saudis eben nicht einfach so die wahabitischen Fundamentalisten unterstützten, sondern dass es auch in dieser Beziehung ausgewachsene Spannungen im Land gibt, ich nehme mal an, dass sich die wahabitischen Religionslehrer nicht nur daran stoßen, dass letzthin eine Frau den Autofahrschein erworben hat, sondern vor allem an der Prasserei der herrschenden Clique. Umgekehrt ist dieser herrschenden Clique so etwas wie eine demokratisch gewählte Regierung offenbar so etwas wie dem Teufel das Weihwasser, sodass sie auch auf dieser Ebene mit einem autoritären und autokratischen Reflex reagieren. Hier sind anhand der ägyptischen Unruhen doch plötzlich sehr eigenartige Widersprüche innerhalb des islamisch-islamistischen Blocks zu erkennen.

Und das wiederum bestätigt mich in meinem Optimismus bezüglich der Entwicklungen in Nord­afrika. Selbstverständlich war die Wahrnehmung des arabischen Frühlings bei uns von Illusionen geprägt, von der Hoffnung, es würde sich nun nach dem Sturz der Diktatoren-Perlenkette von Tunis bis nach Kairo automatisch der, nach unserer Vermutung richtige Weg auftun, nämlich jener in Richtung einer Marktwirtschaft unter sozialdemokratischen Staatsformen, wie wir halt bei uns nichts anderes kennen. Das war einerseits völlig naiv, anderseits wollen wir uns selber diese Naivität gerne verzeihen, denn sie war gut gemeint und eben von Optimismus getragen. Bloß mit dem Faktor Zeit oder mit dem tieferen Verständnis von Verhältnissen und Prozessen in dieser Region, damit hat es halt noch gehapert, das lernen wir jetzt allmählich beim Hinsehen und im Laufe jener Entwicklung, die schon wieder alles andere als linear verläuft. Aber hat man in der Weltgeschichte schon jemals eine lineare Entwicklung beobachtet?

Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat es auch das schon gegeben, aber es ist immer die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. In der Regel verlaufen Entwicklungen mal langsam, mal sprunghaft, manchmal baut sich eine Spannung über längere Zeit hin auf, bis sie explodiert, manchmal baut sie sich auf und flaut wieder ab, weil unterdessen andere Elemente wichtiger geworden sind. Am Grunde der Moldau wälzen sich derweil die Steine vorwärts, will sagen, die Potenziale der wirt­schaftl­ichen Entwicklung bestimmen längerfristig die Richtung, und das ist im Grunde genommen die Substanz meines Optimismus, auch wenn kaum einmal Anlass zu unmittelbarem Jubelgeschrei besteht: Der Kapitalismus in seiner postindustriellen Form ist derart unbändig angewiesen auf Kaufkraft, dass ihm gar nichts anderes übrig bleiben wird, als seine Güter noch in die hintersten und letzten Käffer des Regenwaldes und in die abgelegensten Andentäler zu tragen. Von der Konsumseite her betrachtet, kann man sagen: Dieses System kann nur noch von den Ärmsten der Armen gerettet werden!

Aber eben, das geht nicht in einer allmählichen und geordneten Bewegung vonstatten. Bis die Straßen in die Andentäler gebaut sind, will noch mancher Politiker bestochen werden, damit muss man einfach rechnen. Noch manche ausbeuterische Fabrik für Kleider oder Komponenten wird in Betrieb gehen, bevor sich die Sozial- und Umweltstandards weltweit durchgesetzt haben. Und dies betrifft noch nicht mal die vorhandenen Staats- und Regierungsformen, gegen welche sich die Entwicklung ebenfalls Bahn brechen muss. Dies ist ein langwieriger Prozess, der dann aber zwischendurch plötzlich wieder überraschend schnell und sprunghaft vonstatten geht.

Was machen wir nun mit Syrien? Jetzt sind mehr oder weniger sämtliche Positionen bezogen, der Iran im Nordosten, 200 Kilometer hinter dem kurdischen Teil des Iraks, mit der libanesischen Hisbollah im Südwesten, die nicht wirklich begeisterte Türkei im Norden, dann die von Saudi­ara­bien finanzierten Rebellen, darunter die Funda­men­ta­listen, die durchaus nicht die saudischen Interessen vertreten; die Nato, vor allem die USA, welche aber nicht direkt eingreifen wird, Russland als traditioneller Verbündeter der syrischen Regierung sowie die Israeli, denen es eigentlich auch nicht besonders angenehm erscheinen muss, hinter den Golan-Höhen plötzlich mit Al-Kaida-Banden konfrontiert zu sein, die von den USA beziehungs­weise von Saudiarabien aufgerüstet wurden wie einst im Mai in Afghanistan. Die Positionen sind bezogen, aber die Entwicklungen unklar. Nur eins steht fest: Mit arabischem Frühling hat das, was in Syrien abläuft, so wenig zu tun wie seinerzeit die US-amerikanische Invasion des Iraks mit Chemiewaffen von Saddam Hussein.

In Syrien zeigt sich Politik als Drecksgeschäft. Ich will auch jetzt nicht behaupten, Bashir Al Assad sei ein lupenreiner Demokrat, aber das ist zunächst ja noch kein Grund dafür, einen Bürgerkrieg anzuzetteln oder zu unterstützen, da müsste es noch an viel mehr Orten auf der Welt brennen. Ich bleibe bei meiner Interpretation, dass die Sunniten einerseits, die US-Amerikaner einerseits eine Gelegenheit witterten, den unangenehmen Assad zu stürzen und damit nebenbei Russland seines wichtigsten Verbündeten am Mittelmeer zu berauben. Man könnte sagen, es komme nicht mehr drauf an, nachdem die Region schon seit Jahren stabil instabil ist; solange man ausreichend Polizeikräfte unterhalten kann, macht das für die Erdölexporte keinen Unterschied. Den Unterschied spüren schließlich nur die Einwohnerinnen dieses Gebiets, das als Wiege der menschlichen Kultur gilt.

Geht uns das etwas an? Vielleicht insofern, als wir seit Beginn des Bürgerkriegs eine vollständig eingebettete Berichterstattung zur Lage vorgesetzt erhalten. Sonst – wohl weniger.