"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Nadas -

ID 58682
 
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Seit einiger Zeit lese ich in regelmäßigen Abständen die «Parallelgeschichten» von Peter Nàdas, und obwohl die Lektüre noch nicht sehr weit gediehen ist, bin ich etwas erstaunt, hier einen authentischen stilistischen Anknüpfungspunkt an «Der Atem» zu finden, den letzten Roman von Heinrich Mann, und zwar vor allem beim Bemühen, gewisse Ereignisse in der Mittelerde des Bewusstseins der handelnden Personen bis in die letzte Regung hinein auszuloten und darzustellen in ihrem Vor und Zurück, im Hin und Her innerhalb eines sehr straff vorgegebenen Entwicklungsrasters von Beziehungen, Determinanten und der großen Schwerkraft der voran treibenden Geschichte.
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11:00 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.09.2013 / 09:46

Dateizugriffe: 393

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.09.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Eine Szene in einem Budapester Bad zwischen drei Männern, die übrigens allesamt ähnlich konstruiert sind wie die Kobalt in «Der Atem», bildete hier vorübergehend den Höhepunkt, und seither komme ich nicht umhin, dieses Buch in einer der höchsten Kategorien meiner Bewertungsskala einzureihen, auch wenn mir einige Dinge gar nicht so gut gefallen, aber das kann man wohl von keinem Buch verlangen. Nicht gefallen hat mir unter anderem, dass auch hier wieder die Nazi-Klischiererei als ästhetisches Element eingesetzt werden muss; ich meine, mich vor einem halben Jahr dazu schon anhand der «Hundsköpfe» von Morten Ramsland geäußert zu haben, dem ich übrigens unterdessen immerhin attestieren kann, dass er für keine einzige seiner Figuren so etwas wie Empathie aufbringt, noch nicht einmal für den Ich-Erzähler, was ja auch wieder eine literaturhistorische Leistung ist. Aber auch der jüngste Schunken, den ich aufgrund der Empfehlung eines Kollegen gelesen habe, «Das Schweigen des Sammlers» von Jaume Cabré, enthält ausführliche Beschreibungen der Nazi-Gräuel in Buchenwald oder Auschwitz, pralle Schilderungen von Versuchen an lebenden Menschen, noch besser: Kindern mit ohne Narkose vollzogenen Durchtrennungen von Kniesehnen oder Einschnitten in die Augen oder was weiß ich, wobei Cabré noch die ziemlich ahistorische Parallele zieht zur allgemeinen und im speziellen spanischen Inquisition mit ihren Foltermethoden; all das hinterlässt bei mir mehr ästhetische Fragezeichen, als der offensichtliche Wille zur erschröcklichen Darstellung des Bösen mir Einsichten oder auch nur moralische Läuterung verschafft. Nein, das leuchtet mir nicht ein. Wenn der Nazi-Horror sechzig Jahre beziehungsweise drei Generationen später zur ästhetischen Chiffre wird, dann hege ich ein spontanes Misstrauen. Zwar vermag ich weder auf individueller noch kollektiver Ebene die Charakterregungen derart detailliert zu sezieren oder sie gar in ein vektorielles Entwicklungsgitter zu verorten wie Nàdas, aber ich habe den Eindruck, die Sache sei allzu billig, ich habe den Eindruck von Macdonald’s mitten in Romanen, die von sich doch ein gewisses Niveau behaupten. Gerade «Das Schweigen des Sammlers» flirtet mit seiner ziemlich manieristisch undeklarierten Verschachtelungstechnik mit hochliterarischen Ansprüchen, die dann justament in diesem unschuldigen Nazi-Schmonzes scheitern. Und Schmonzes ist es nun einmal einfach, unbesehen der Tatsache, dass es negativer Schmonzes ist.

Darüber hinaus will ich Cabré und vor allem Nàdas gar nicht weiter kritisieren; Cabré erzählt flüssig und luzid von seinem Multitalent Hadrian, das seine Talente ebenso wenig ausschöpft wie zuvor sein ebenso talentierter Vater die seinen, wobei dieses Grundelement im Buch selber dann auch nicht ausgeschöpft wird, da es offenbar Wichtigeres zu erzählen gibt als das Drama des begabten Kindes, wie einmal ein Werk der verstorbenen Psychologin Alice Miller hieß, und vor allem muss man ja eben die Geschichten verschachteln, sodass die Zeitebenen manchmal fast innerhalb eines Satzes wechseln, vom 21. ins 17. Jahrhundert, zum Beispiel. Und den Nàdas vollends werde ich schlicht und einfach loben, sobald ich ihn zu Ende gelesen habe, wobei mich von diesem Ende noch ziemlich 1500 Seiten trennen, denn stehe erst auf Seite 235, und das Buch liegt auf der Toilette, was einen besonderen Lektürerhythmus vorgibt. Allerdings bin ich der Ansicht, dass dieser Rhythmus großen Werken angemessen sei; nur wenn man richtig Verstopfung hat, ist man in der Lage, die Tiefen der literarischen Konstruktion so recht auszuschöpfen.

Aber werfen wir einen Blick auf die Gegenwart, auf Deutschland vor den Bundestagswahlen am 22. September, und zwar zum Beispiel anhand der größten deutschen Zeitung, nämlich der Bild-Zeitung, aber um die Sache ein bisschen zu komplizieren, wähle ich nicht einfach die Bild-Zeitung für alle und auch nicht das Automobil-Bild, sondern die Zeitschrift «Bild der Frau»; hier erschließt sich zweifellos die Stimmung bei der Mehrheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger am deutlichsten. Mitte September fand ich auf der Webseite www.bildderfrau.de folgende aktuelle Themen: «Sauber ohne Chemie» – eine Anzeige des Kärcher-Dampfreinigers im redaktionellen Aufriss; «Bubbleshooter», für den Werbung gemacht wird mit «Gönnen Sie sich mal wieder eine entspannte Spiel-Pause», «Kamasutra-Stellungen», ein wahrhaft top-aktueller redaktioneller Beitrag für die moderne Frau, «Trendfrisuren 2013», was ebenfalls höchst zeitgerecht wäre beziehungsweise diesem Anspruch nur dann nicht genügen würde, wenn es entweder heißen würde «Trendfrisuren 2005» oder, noch besser und einigermaßen irritierend, «Trendfrisuren 2022»; es folgen die wichtigen Themen «Koch-Ideen», «Diät-Rezepte-Sammlung» sowie «Diät & Abnehmen», gefolgt von «Frisur gesucht?», «Moderatgeber», «Recht und Rat», aus dem gleichen Fach «Astrologie», sodann «Frauen helfen Frauen», «Bleiben Sie gesund», «Tierische Freunde» und «Ihre liebsten Artikel».

Na, ehrlich gesagt, ich getraue mich fast nicht, zu dieser beglückenden Themenwahl überhaupt einen Kommentar abzugeben. Da werfe ich doch lieber einen Blick in die Original-Bildzeitung, welche immerhin den CSU-Triumph in Bayern abhandelt, welche wieder die absolute Mehrheit erringt; das ist eine gute Nachricht für den Kabarettisten-Nachwuchs in eurem südlichen Nachbar-Freistaat. Dann wird ein Spiegel-Artikel referiert, welcher eurem SPD-Wirtschaftsminister Machnig Doppelbezüge vorwirft, also neben seinem Ministergehalt eine Rente aus dem vorigen Amt als Staatssekretär; in der Bild-Zeitung wird dabei kein Bezug hergestellt zur Untersuchung gegen eure Ministerpräsidentin Lieberknecht, welche ihrem ehemaligen Pressesprecher eine Pension verschaffte, obwohl der bereits eine neue Stelle in der Privatwirtschaft gefunden hatte. Es handelt sich dabei um eine so genannte Koinzidenz, das Zusammenfallen artfremder Ereignisse.

Daneben kümmert sich die Bild-Zeitung doch tüchtig um den Wahlkampf und findet offenbar Gefallen an der Kampfeslust von Peer Steinbrück, und da ich in dieser Beziehung mit der Bild-Zeitung einig gehe, kann ich das an mir vorbei ziehen lassen und brauche mich ebenso wenig dazu zu äußern wie zur Bild der Frau.

Etwas weiter im Osten, obwohl er der Nahe Osten heißt, scheint sich die Situation für den syrischen Präsidenten Baschir Al Assad doch noch einigermaßen zu stabilisieren, nachdem sich die Russen und die Amerikaner auf einen Plan zur Neutralisierung des syrischen Chemiewaffen-Potenzials geeinigt haben. Damit scheinen doch noch Restbestände an Vernunft in der US-amerikanischen Regierung aktiviert worden zu sein, denn unabhängig von der Schuld an den Einsätzen von Chemiewaffen im syrischen Bürgerkrieg ist es einfach jenseits von Gut und Böse, wenn sich die Supermacht USA das Recht herausnimmt, aufgrund von selber hergestellten Beweisen jederzeit dort militärisch zu intervenieren, wo es ihr gerade beliebt, wenn die USA also auch die letzten Reste der Legitimation von Institutionen wie der UNO zertrümmern. Obama schien mir letzte Woche geradewegs auf dem Niveau von George Doppelju Busch angekommen zu sein. Er hat sich vorderhand noch knapp darüber gehalten.

An der Lage in Syrien selber ändert sich vorderhand nichts, weder mit einem US-amerikanischen Raketenangriff noch ohne. Solange die USA nicht direkt eingreifen, läuft dort ganz einfach die hohe Regionalpolitik, während es bei einem Angriff der US-Streitkräfte die hohe Weltpolitik wäre. Blutig ist das allemal, und die einzige Frage, die sich immer wieder stellt, ist die nach dem Weshalb. Warum schaffen es die Jungs und Mädels denn nicht, ihre Differenzen einigermaßen friedlich auszutragen? In der Regel liegt beim aktuellen Stand der Produktivkräfte doch für praktisch alle Anwesenden ein ordentliches Stück von einem nicht sehr mageren Kuchen bereit. Ich mag eigentlich auch die Begründungen von all den verschiedenen Kennern der Region und insbesondere des Islam nicht mehr hören. Mein Vorschlag: Die sollen jetzt einfach aufhören damit. Das halte ich für eine sehr konstruktive Lösung.

Aber selbstverständlich hört wieder kein Schwein auf mich. Die Kraft des höheren Verlaufs hält es offensichtlich für erforderlich, noch eine geraume Zeit lang die verschiedenen, unterschiedlichen und gegensätzlichen Interessensgruppen mit militärischen Mitteln aufeinander prallen zu lassen. Vielleicht liegt es ganz einfach daran, dass sie in den letzten 50 Jahren allzu stark unter der Knute gehalten wurden von sehr stabilen Diktaturen, welche offiziell alle gegen den Erzfeind Israel wetterten, in Tat und Wahrheit aber vor allem die nationalen Reichtümer in ihren Machtzirkeln zirkulieren ließen. Damit hat es nach der US-Intervention im Irak und neuerdings nach dem arabischen Frühling nun plötzlich ein Ende, und in gewissen Gesellschaften breitet sich durch das so entstandene Machtvakuum, das übrigens ebenso sehr in den Köpfen entsteht wie im Land selber, offenbar so etwas wie ein Faustrecht aus. Das hätte ich von dieser Region nicht erwartet, aber vor allem, weil ich schlicht und einfach gar nicht auf den Gedanken gekommen bin angesichts eben der stabilen autoritären Staatsgefüge. Nun müsste man eigentlich vor allem darauf setzen, dass die Menschen auch in diesen Ländern lesen und schreiben können und ungefähr eine Ahnung davon haben, was Freiheit, Wohlstand und Demokratie bedeuten könnten. Es besteht mit anderen Worten Hoffnung.

Was bloß machen dagegen die USA falsch? Auf der einen Seite der Rocky Mountains toben wütende Waldbrände, auf der anderen Seite gibt es massive Überschwemmungen. Ich glaube, die sollten so ne Durchgangskorridore in diesen Gebirgszug sägen, das würde zu einem allgemeinen Ausgleich der Extremlagen führen. An Ingenieurwissen sollte es ihnen eigentlich nicht mangeln da drüben.

Kommentare
02.10.2013 / 21:55 Reda,
gekürzt für zip.fm
gesendet. Danke. Grüße.