"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Der Abgang der FDP -

ID 59155
 
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Der Untergang der F.D.P. ist natürlich primär eine westdeutsche Angelegenheit, aber ich bin trotzdem versucht, ihn als Spätwirkung des Falls der Mauer beziehungsweise des Kollapses der Sowjetunion zu interpretieren.
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10:09 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 07.10.2013 / 15:05

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 07.10.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Mit dem Verschwinden des kommunistischen Blocks haben die Ideologien ihre materielle Basis verloren und sind wieder zu reinen, korrekter: zu mehr oder weniger verunreinigten Ideenkonstrukten geworden. Im Fall der F.D.P. betrifft dies den Liberalismus, allerdings nicht nur die Denkströmung, sondern auch die Umsetzung in die Tagespolitik. Und dabei ist in letzter Zeit nichts Vernünftiges mehr herausgekommen.

Wie hätte es denn anders sein können. Die freie Marktwirtschaft, als deren Herold sich die F.D.P. immer ausgegeben hat, steht am Laufmeter vor schweren und existenziellen Prüfungen, angefangen von der Globalisierung und Vollautomation bis hin zur Finanzkrise, für welche eine Ideologie aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts einfach nicht mehr ausreicht. Als Beweis für die Unfähigkeit, den neueren Entwicklungen zu folgen, zitiere ich einfach den ersten Satz des deutschsprachigen Liberalismus-Portal: «Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat das Versagen des Interventionismus – Eingreifen durch Regierungen in die Marktwirtschaft – offen gelegt.» Ist das nicht wunderbar: In den USA haben die Regierungen von Reagan bis schließlich Wilhelm Busch und in Deutschland die rot-grüne Regierung Schröder die Finanzmarkt-Regulierungen aufgehoben, und prompt schiebt das Liberalismus-Portal die Schuld an der Finanzkrise dem staatlichen Interventionismus in die Schuhe. Genau hier haben wir den Kernpunkt, welcher die Niederlage dieses Vereins begründete: die Unfähigkeit, die Veränderungen in Welt, Wirtschaft und Weltwirtschaft auch nur zu begreifen.

Man muss nicht davon ausgehen, dass die Parteispitze auch noch im neuen Jahrtausend wirklich durchtränkt war von liberalen Ideen. Abgesehen von kleineren Liebesdiensten für ein paar Skat- oder Golfkollegen sind sie mir vor allem durch Klamauk in Erinnerung geblieben, von Möllemann bis zu Westerwelle, der sich in der Opposition während der großen Koalition im ersten Kabinett Merkel zum Höhepunkt steigerte, was denn auch zum Rekordergebnis von fast 15% im Jahr 2009 führte. Nachdem es aber in der Regierung und im Kabinett Merkel II ein Ende hatte mit dem Krakeelen, nachdem unser aller Guido Westerwelle verstummt war, da war die Luft draußen und die historische Mission der F.D.P. wohl ein für allemal beendet.

Ich bin nicht die richtige Person, um die ideologische Position des Liberalismus im Kern zu kritisieren. Mir war die Nähe dieser Denkköpfe zu den Geldtöpfen des Großkapitals, ihre Kumpanei mit den Wirtschaftsführern immer Verdacht genug, um mich von ihnen fern zu halten, und die Beschäftigung mit dem, was sie als Gedankengut feil halten, hielt ich für überflüssig, weil zum Vornherein klar war, dass damit bloß die primitivste Interessenvertretung in den Rang eines geistesgeschichtlichen Ereignisses verklärt werden sollte. Heute und zumal am Tag der möglicherweise endgültigen Niederlage bin ich etwas großzügiger und anerkenne, dass auch das Großkapital ein gewisses Interesse hat an Spielregeln, die rational begründbar und absolut kompatibel sind mit sozialdemokratischen Staats- und Regierungsformen. Den eklatanten Beweis dafür hat Gerd Schröder geliefert. Damit hat sich die Geschichte des Wirtschaftsliberalismus aber witzigerweise gerade in Richtung Sozialdemokratie entwickelt, während die F.D.P. weiterhin mit einer Ideologie der 1920-er Jahre herum wedelte. Dafür gab es jetzt die Höchststrafe.

Die F.D.P. hatte seinerzeit auch noch einen sozialliberalen Flügel, in der Regierung Merkel II noch vertreten durch die Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wenn ich das richtig verstanden habe. Allerdings ist diese Richtung wohl noch vor der Pleite des wirtschaftsliberalen Gedankengutes erlahmt. Vielleicht lag die zentrale Schnittstelle effektiv bei der Steuerfrage. Wenn der Westerwelle mit seinem Steuersenkungs-Programm herum wedelte, so vertrug sich dies eigentlich nicht besonders gut mit den sozialen Anliegen; denn unter den Steuergeschenken der Regierung Schröder und anschließend dem Banken-Schuldenproblem litten vor allem die Sozialausgaben, und ohne Geld kann nun mal auch der sozialste Liberale nicht viel ausrichten. Zwar ging es den Sozialliberalen nie ausschließlich um die Knete, sondern auch um rechtsstaatliche Garantien, welche gerade die Schwachen in der Gesellschaft am dringendsten nötig haben, und in diesem Punkt wird man durchaus Verständnis und sogar gewisse Sympathien aufbringen. Aber eben, angesichts des übrigen Personals und der Grundausrichtung der F.D.P. reichte das zunehmend weniger aus, auch nur für einen Antrittsbonus.

Dabei gäbe es durchaus Anknüpfungspunkte, die ihre Gültigkeit behalten oder sie vielleicht sogar erst erhalten. Auf dem Liberalismus-Portal stehen zum Beispiel schöne Dinge wie die folgenden: «Im Zentrum des Liberalismus steht das Individuum, ihm ist größtmögliche Freiheit zu geben. Die individuelle Freiheit ist nach liberaler Überzeugung die Grundnorm und Basis einer menschlichen Gesellschaft. Die Politik hat mit ihrer politischen und wirtschaftlichen Ordnung nur die Rahmen¬bedingungen zu schaffen. Jede, insbesondere staatliche Gewalt hat dort zu enden, wo die Freiheit des Einzelnen berührt wird», und so weiter, und so fort. Hier könnte eine Diskussion beginnen, gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Überwachung der Individuen durch private Firmen ebenso wie durch den US-amerikanischen, aber auch den deutschen Geheimdienst.

Aber das Liberalismus-Portal kümmert sich lieber um andere Dinge, zum Beispiel, dass der Mensch eigenverantwortlich sein Leben bestimmen müsse. «Nicht nur Bevormundung und Willkür durch Regierungen sind abzulehnen, sondern auch jede Maßnahme, die nicht durch überragendes Gemeinwohl legitimiert ist. Der Mensch, der eine Entscheidung trifft, ist dafür selber verantwortlich, auch wenn sie gegen ihn selber gerichtet ist. Irren ist menschlich, die Freiheit, Fehlentscheidungen treffen zu können, schafft erst den mündigen Bürger.» Gut gesprochen, Liberalismus, aber typisch für die Liberalen ist eben der Umstand, dass sie von der Bedingung des Menschen nie etwas wissen wollen, von Interessensgegensätzen, von sozialem Umfeld, von Macht und so weiter. Die größtmögliche Freiheit des Individuums besteht, wie wir alle wissen, in einem ersten Anlauf in einer möglichst hohen Summe Geldes, mit dem dieses Individuum nicht nur seine eigenen Lebensumstände und sowieso alle Güter, sondern ganz praktisch auch andere Menschen kaufen kann. Nur als Beispiel. Um diesen Punkt, um die Verteilung der Reichtümer in der Gesellschaft und auf der ganzen Welt, haben sich die Liberalen stets und konsequent foutiert. Nicht zuletzt dies fliegt ihnen jetzt um die Ohren.

Wie auch immer: Wenn wir uns jetzt noch halbwegs ergötzen am Untergang jener Clowns, welche die Namen aller ihrer Apostel, namentlich Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek, Milton Friedman und so weiter vor aller Augen lächerlich gemacht haben, sollten wir doch daran denken, dass nicht nur der Liberalismus, sondern fast alle Ideologien gegenwärtig akut gefährdet sind. Auf der Ebene der großen Ideen sind sich so ziemlich alle einig, aus durchaus unterschiedlichen Gründen. Aber heute sind offensichtlich andere Typen von Ideen gefragt. Ich bin selber absolut überfordert damit, ein kohärentes Programm auch nur in Umrissen zu sehen. Einige Elemente liegen klar und offensichtlich zutage, aber nur schon eine politische Einstellung gegenüber der Europäischen Union scheint mir ziemlich schwierig zu definieren, vor allem, wenn sie nicht einfach nationale Interessen vertreten soll, sondern ein Gebilde vor Augen hat, in dem tatsächlich die gleichen Regeln gelten für sämtliche Individuen, also inklusive dem allgemeinen freien Zugang zum Arbeitsmarkt an allen Orten. Aber dies nur als Beispiel.

Vielleicht ist es die wichtigste Aufgabe der heutigen Zeit, dass uns allen endlich definitiv ins Bewusstsein rückt, dass es also endlich mal jemand auch offiziell formuliert, dass wir im Zeitalter der Vollautomation leben, im Zeitalter des Reichtums, des Überflusses, der im Prinzip sämtlichen Menschen ein freies Leben ermöglicht, völlig jenseits von sämtlichen Verpflichtungen zu entfremdeter Arbeit oder was auch immer. Eine Gesellschaft liegt in Reichweite, in welcher tatsächlich ein jeglicher nach seinen Fähigkeiten und einer jeden nach ihren Bedürfnissen zugeteilt werden kann. Diese Gesellschaft ist nun mal nicht unter den Prämissen des Kommunismus oder des Sozialismus heran gereift, aber das kann uns letztlich egal sein; wichtig ist, dass das Potenzial vorhanden ist, dass die Möglichkeiten auf dem Präsentierteller vor uns liegen und dass es nun ausschließlich an uns liegt, sie zu nutzen. Jenseits von Ideologie und all dem Karsumpel, mit Ausnahme eines inneren Kerns von Freiheit und Individualität, den ich durchaus auch im Liberalismus erkenne. Bloß die Folgen, welche der Liberalismus für die aktuelle gesellschaftliche Organisation zieht, sind absolut unbrauchbar. Es kommt mir so vor, als hätten diese Menschen nicht nur Bretter vor dem Kopf, sondern eine geistige Burka übergezogen.

A proposito Burka kann ich vermelden, dass die Stimmbürgerinnen unseres italienischsprachigen Kantons Tessin am letzten Wochenende ein Burkaverbot erlassen haben, das in die Kantonsverfassung aufgenommen wird. Ich bin in dieser Beziehung etwas zwiegespalten. Einerseits regt sich meine liberale Ader, welche sagt, dass man auch den radikalen Moslems ihre Freiheiten lassen soll, vor allem, wenn sich die Frauen selber nicht gegen diese Art der Verhüllung wehren. Anderseits handelt es sich doch um ein mächtiges und eindeutig mittelalterliches Zeichen der Geschlechterunterdrückung, gegen welches man nicht aus religiösen, sondern ganz simpel aus kulturellen Gründen legitime Abwehrkräfte mobilisieren kann. Auch wenn es nur die Verpackung betrifft. Vielleicht verbergen sich unter den Hüllen ebensolche Reibeisen oder auch zarte Täubchen wie in der christlichen Welt. Aber die Symbolkraft ist nicht zu unterschätzen, weder der Burka-Verpackung noch der Volksabstimmung dagegen.