"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Österreich

ID 59156
 
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Ich weiß nicht, wie weit es mir bisher gelungen ist, die Gesundheit als neues Betätigungsfeld für Moraldoktoren zu umreißen. Es geht dabei vom Impfzwang für Masern bis zur Pflicht, einen Helm zu tragen beim Radfahren, und zwar nicht zuletzt, ja geradeaus zuerst bei kleinen Kindern.
Audio
11:21 min, 21 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 07.10.2013 / 15:17

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 07.10.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Oder aber die Entdeckung immer neuer, aufs Schwerste gesundheitsgefährdender Lebensbereiche. Am Wochenende war irgendwo die Rede von den Gefahren in Wasserleitungen. Sollte irgend jemand irgendwann mal mehr als zwei Wochen in den Urlaub fahren, so tut er gut daran, bei der Rückkehr die eigene Wohnung nur unter Polizeischutz zu betreten, denn in der Zwischenzeit könnten sich in den nicht benutzten Leitungen Faulgas gebildet haben. Bloß nicht rauchen unter der Dusche! Umgekehrt sollte man sich, falls man in eine Ferienwohnung fährt, ebenfalls vor dem Wasser in Acht nehmen, denn wenn dieses Wasser da längere Zeit in einem Boiler oder gar einem Wassertank gestanden hat, dann kommt es zur Ablagerung verschiedenster feinstofflicher, aber eben doch schwerer Schwermetalle, und wenn man also dieses Wasser nicht abkocht, stirbt man sofort innerhalb von 200 Jahren. Nein, wirklich: Die medizinisch-naturwissenschaftliche Forschung bringt es mit sich, dass wir von immer neuen Ursachen, Erregern und Krankheiten umzingelt sind, ganz abgesehen von der ökologischen Seite eines Menschenlebens, die ich unterdessen von der Gesundheit auch fast nicht mehr unterscheiden kann: Offenbar muss ich demnächst beginnen, zwecks Rettung des Planeten Maden und Ameisen zu essen. Nun ja, wenn’s halt für einen guten Zweck ist. Vielleicht kann man noch etwas herausholen mit einer feinen Algen-Bergmoos-Soße. Und sonst beim Schnaps. Den macht der Mexikaner ja schon längstens aus Würmern.

Ich weiß ja, dass der Zivilisationsprozess zu schönen Teilen darin besteht, dass man äußere Zwänge verinnerlicht, und da mag ja meinetwegen dazu gehören, dass jetzt alle Kinder gegen Masern geimpft werden, statt dass sie diese Krankheit wie früher einfach haben. Vielleicht haben die Masern ja auch mutiert? Früher gab es die Bevölkerungsexplosion, heute gibt es die sklerosierende Panenzephalitis? Oder dann habe ich einfach nicht wahrgenommen, welche tiefen Lücken in die Bevölkerungsbestände das Fehlen von Schutzhelmen bei 5-jährigen Kindern gerissen hat. Heute, wo die 1-Kind-Familie eher die Regel ist als die 5-Kind-Familie, muss man halt auch besser Acht geben auf das Kindergut. Auch Zucker ist schädlich, und überhaupt, all die Konservierungsmittel, welche die KonsumentInnen einerseits vergiften und anderseits halt eben in vergiftetem Zustand konservieren, sodass sie per Saldo doch immer älter werden! – Oder gar das Fleisch. Das Fleisch ist sowieso schuld an der Klimaerwärmung, abgesehen davon, dass die Fleischproduktion die Ursache für die sozialen Ungerechtigkeiten auf dem Erdball ist. Oder mindestens so ähnlich. Wenn das so weiter geht, muss ich mich an meinen Hausarzt wenden, damit mir der meine Würste per Rezept verschreibt, und falls sich dies als Tendenz festschreibt, so migrieren die Wurstabteilungen von den Metzgereien und den großen Warenhäusern in die Apotheken. Damit folgen wir dann den USA, wo die Einkaufszentren schon heute Drug Stores heißen. Und eure prachtvollen Rostbratwürste wird es nur noch auf dem Schwarzmarkt geben bei Untergrund-Grillständen, und eben, vermutlich ist das Fleisch dann gepanscht mit Fliegenlarven und Heuschreckenmus. Und das nennt sich also Zivilisationsprozess!

Dabei geht mir eigentlich noch weniger die Antifleisch-Kampagne auf den Keks als vielmehr die Tendenz, den Menschen zunehmend auch dort Vorschriften machen zu wollen, wo gar keine nötig sind. Von den Geheimdiensten, welche schon längstens nicht mehr geheim sind, werden wir ausgehorcht oder bespitzelt oder mindestens umfassend registriert, es geht nicht mehr lange, bis die auch Zugriff haben auf unsere elektronischen Krankendossiers, all dies natürlich aus Furcht vor Pandemien und im Interesse der öffentlichen Sicherheit, welche noch nie so bedroht war wie heute seit dem Auftauchen des Cro Magnon vor 60'000 Jahren, und von den Gesundheitsbehörden werden wir gegängelt und bemuttert, dass es eine Art hat. Diese beiden Verästelungen des Weltgeistes zusammen weisen in eine einzige Richtung: in Richtung auf die völlige Uniformiertheit sämtlicher Erdenbewohner. Wir befinden uns in einem rasanten Prozess der Gleichschaltung, wie man das früher mal genannt hat, ohne auch nur zu ahnen, wie sich das konkret organisieren würde. Wir transformieren uns selber in eine Ameisen-Gesellschaft, welche aus lauter identischen Individuen besteht, was den kleinen Nebeneffekt hat, dass es sich dann nicht mehr um Individuen handelt, sondern um Exemplare. Und das stört mich deutlich mehr als eine Reißzwecke in den Badelatschen.

Wie gesagt, ich weiß, dass der Zivilisationsprozess zu gewissen Teilen in der allgemeinen Integration von äußeren Zwängen besteht, und gegen die Zivilisation habe ich nichts, auch wenn sich bald mal das Wortspiel mit der Zuvielisation aufdrängt. Trotzdem bin ich auch nicht der Ansicht, dass sich die Individuen zwanghaft in allen Aspekten voneinander unterscheiden müssten. Vor der Mathematik, zum Beispiel, sind alle gleich. Und trotzdem hange ich geradezu vital an der Vorstellung beziehungsweise meine persönliche Identität hängt von dieser Vorstellung ab, dass sich eine jede Person in zentralen Elementen ihres Seins, ihres Wesens, ihres Wirkens von allen anderen Menschen auf dem Planeten unterscheide. Wenn ich diese Vorstellung preisgeben muss, dann gebe ich mein Selbstverständnis als Mensch preis. Und je mehr ich geimpft, überwacht und unter Helme gezwungen werde, desto mehr wird diese Individualität in Frage gestellt. Einverstanden – Helm, Impfzwang, Telefonabhören, das sind zunächst noch äußere Aspekte, aber in Kombination mit der Uniformierung der Öffentlichkeit greift das über auf die Kerngebiete des Ich.

Möglich ist dabei, dass mein Selbstverständnis immer einer Täuschung unterlag. Vielleicht sind wir tatsächlich gar keine derart großen Helden vor der Geschichte, wie wir dies kindlich oder kindisch meinen. Diese Möglichkeit habe ich an dieser Stelle auch schon formuliert. Vielleicht sind wir in unserem Denken, also eben im Kernbereich ebenfalls zu 95%, 96%, 97%, 98%, 99% identisch mit praktisch allen anderen. Bezüglich des Wissens ist mit der Wikipedia auf dem Internet ein Ort entstanden, auf den alle normalen Personen Bezug nehmen können. Auch vor der Wikipedia sind wir alle gleich. Unterscheiden wir uns somit bloß noch in Bezug auf unsere Neurosen? – Und auch die sind bekanntlich von der WHO längstens katalogisiert, womit wieder der Beweis geführt wäre, dass das Gesundheitsministerium letztlich doch der zuständige Ort ist für unser Wohlbefinden.

Sprechen wir von etwas anderem. Nach Deutschland hat auch Österreich gewählt. Bemerkenswert dabei war zum Beispiel der Wahlspruch des Haider-Nachfolgers Heinz-Christian Strache: «Liebe deinen Nächsten», hieß der nämlich, ergänzt durch: «für mich sind das unsere Österreicher». Die FPÖ steht schon wieder über 20% der Wählerstimmen; auch dies scheint eine mögliche Variante in der allgemeinen sozialdemokratischen Staatsform, dass 20%–30% der Wählerinnen und Wähler rechtskonservativ, nationalsozial oder nationalsozialistisch wählen. In Griechenland haben sie die Führungsspitze der Faschisten von der Goldenen Morgenröte jetzt endlich verhaftet, während die Nationalisten in Kerneuropa mit dem SA-Terror erst in Anspielungen flirten. Daneben wird in Österreich aber die große Koalition, bekannt auch unter dem Namen die große Verfilzung fortgesetzt. Dabei verbirgt sich unter all diesen Filz- und Korruptionsgeschichten durchaus eine Kulturnation, die nicht zuletzt eine starke Wirtschaft ihr eigen nennt und vor allem mit Wien ein irreversibel bunt gemischtes Zentrum aufweist, wie es kaum ein anderes gibt. Die historische und geografische Nähe zur Slowakei, zur Tschechei und zu Ungarn, aber auch zu Slowenien und Kroatien bestimmt Österreich viel stärker, als man das annehmen könnte, wenn man eben dem Strache zuhört. Sodann hat sich eine nicht besonders klar definierte Jungpartei ins Parlament geschlichen, die Neos, welche man vermutlich liberal in einem durchaus positiven Sinne nennen könnte. Die Grünen als authentische Antikorruptionspartei haben sich dagegen kaum verbessert. Seit die Österreicher ihren direkten Meerzugang in Triest verloren haben, sind sie nicht mehr so sensibel für Dinge wie Anstieg des Meerespegels und Klimaerwärmung. Dafür haben sie bei aller Vetternwirtschaft im Staatsapparat doch einigermaßen anständig funktionierende Institutionen. Und insgesamt habe ich den Eindruck, als wären die Österreicherinnen und Österreicher im deutschen Sprachraum am anfälligsten für Kultur. Mit Josef Hader verfügen sie zum Beispiel über den gegenwärtig weltbesten Kabarettisten deutscher Sprache, wobei das ein seltsames Kompliment ist; Hader ist nämlich nicht sehr spezifisch politisch, sondern eher grundsätzlich pessimistisch, aber er bringt seine Stücke natürlich schon in höchster Perfektion. Und dann verfügen die auch im österreichischen Fernsehen bzw. rund drum herum um eine nicht versiegende Quelle an Drehbuch¬autoren und Regisseurinnen, welche kontinuierlich neue Auseinandersetzungen mit Form und Inhalten ins Bild fassen, und ich brauche hier nicht auf Ulrich Seidl zu verweisen; die Lust am Spiel ist bis in gewisse Krimiserien hinein zu spüren. Sie weisen wohl auch die höchste Dichte von Kleinverlagen pro Bevölkerung auf; diese sprießen neben einer etablierten Kultur, quasi einer Staatskultur, welche dann wieder extrem traditionell ausgerichtet ist mit all den bekannten Institutionen wie dem Burgtheater und dem Lippizaner Reitstall. Für mich bemerkenswert ist gegenwärtig der Versuch der grünen Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou, den Verkehr in Wien einigermaßen zu zähmen, vor allem durch die Förderung des öffentlichen Verkehrs und des Fußgängertums, was sie inzwischen zur wohl meistgehassten Figur in der Stadt Wien gemacht hat. Das ist auch so eine eigenartige Sache, die wir in der neutralen Schweiz bzw. in Zürich aus den 1980-er Jahren kennen, als ein unbescholtener Stadtrat plötzlich auf die Idee kam, den motorisierten Individualverkehr zu drosseln. Zwar fanden seine Ansätze weltweit Beachtung, aber er selber wurde ein paar Jahre nach den ersten Maßnahmen abgewählt, und am stärksten auf ihn geschossen haben damals die Rechtspopulisten, ganz wie dies heute in Wien der Fall ist. In der Schweiz existierte damals eine kurze Zeit lang eine eigene Autopartei, die unter dem Slogan «Freie Fahrt für freie Bürger» Politik machte; ein anderer Slogan dürfte auch bei Euch bekannt sein, er heißt «Mein Auto fährt auch ohne Wald». Ich weiß nicht, wieso das so ist, aber auf jedem Fall sind diese Autofahrer offenbar immer gleichzeitig auch Fremdenfresser und Befürworter der Todesstrafe und natürlich auch Anti-Etatisten, bis sie selber Zugriff haben auf die staatlichen Gelder; sobald dies der Fall ist, dann treiben sie es bald noch bunter als die etablierten Parteien mit ihren Seilschaften, sodass sich das Stimmvolk dann ein paar Jahre später eben wieder die alten Parteien und im Fall von Österreich eine große Koalition zusammen wählt.