"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Mitternacht im Garten von Gut und Böse -

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Jetzt ist es raus: Sie ist verlobt! Stolz zeigt sie ihren Ring, der nach meiner Schätzung ungefähr 50 Faustschläge gekostet hat und den sie selber designt hat, nun gut, aufgrund von Vorlagen von Montblanc, an denen sie dann herum gefeilt hat, dass die Diamanten-Späne nur so geflogen sind, und jetzt wird das Teil auf 500'000 US-Dollar geschätzt.
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11:12 min, 21 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.10.2013 / 11:17

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 22.10.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Sofort bricht auf dem Tea-Party-Fernsehsender Fox News die Diskussion los darüber, ob Brautpaare den Verlobungsring des Weibchens gemeinsam bezahlen sollen oder ob das doch eher die Sache des Herrn im Hause sei. One man, one vote, one engagement ring. Für Fox TV sehe ich hier einen Fortschritt gegenüber früheren Debatten, bei denen es jeweils darum ging, ob die Weltscheibe nun zwölf oder doch vierzehn Kilometer dick sei, wobei die präzise Exegese der Bibel doch eher auf zwölf Kilometer verweist. Was den Ring selber angeht, so wurde er zum ersten Mal in den Studios der Warner Bros. präsentiert, als Hayden Panettiere der Umwelt-Medienpreis für künftige Umweltaktivisten verliehen wurde. Hayden Panettiere mag Tiere, deshalb erhielt sie diese Auszeichnung der Environmental Media Association. Ihr künftiger Gatte Wladimir Klitschko enthielt sich bei dieser Party allerdings der Anwesenheit und wurde vertreten durch Haydens Bruder Jansen.


Ungefähr soviel wie Hayden Panettiere mit Umweltschutz hat Eugene Fama mit Wirtschafts­kompetenz zu tun. Er ist einer der Erfinder der Effizienzmarkttheorie, welche besagt, dass einerseits in den Börsenkursen der Wertschriften sämtliche Marktinformationen vollwertig berücksichtigt seien und dass anderseits die Finanzmärkte das effiziente Mittel dafür seien, das Kapital stets an den jeweils richtigen Ort zu leiten. Diese Orte entstehen und vergehen offenbar innerhalb von Mikrosekunden, so schnell sind nämlich jeweils die Computerprogramme in ihren Reaktionen; und zur Theorie der effizienten Finanzmärkte hat die Praxis des Finanzmarktcrashes vor sechs Jahren einen entscheidenden Kommentar geliefert. Dies hat das Komitee nicht davon abgehalten, ihm für seinen Unsinn den Wirtschaftsnobelpreis zuzuerkennen. Allerdings war es dem Komitee nicht ganz wohl dabei, sodass es einen weiteren Nobelpreis einem direkten Opponenten von Fama, Herrn Robert Shiller verlieh. Das ist schon fast von über-salomonischer Weisheit und erinnert an die ewig währende Neutralität der Schweiz. Die beiden gegensätzlichen Ansätze würden zusammen ein wunderbares Verständnis für die Entwicklung von Aktienkursen bieten, steht irgendwo zu lesen. Eben: Die Erde ist gleichzeitig eine Kugel und eine Scheibe. Hauptsache, es steht in der Bibel oder in sonst einem Sternenkalender.

Das Nobelpreiskomitee hätte fast noch einen weiteren Lapsus begangen und den Friedensnobelpreis an Malala Jusuf Zai verliehen, jene Schülerin, die von den Taliban niedergeschossen wurde, weil sie als Mädchen nach Auffassung der Taliban nichts in der Schule verloren hat, nach dem Motto: Die Erde ist flach, und die Finanzmärkte funktionieren effizient. Gottseidank ist dem Komitee in letzter Minute noch ein anderer Kandidat vor die Flinte geraten. Wäre die Wahl auf Malala gefallen, dann hätte das Komitee nämlich nächstes Jahr den Friedensnobelpreis an Saudiarabien verleihen müssen, weil die nämlich aller Voraussicht nach per 1. Januar den Frauen das Autofahren erlauben. Diesen Beitrag zur Weltgesundheit dürfte man dann nicht einfach so unbeachtet verstreichen lassen. Nein, wie gesagt: Dass der Westen kein Verständnis und keine Sympathien für die Taliban hat, das braucht man nicht weiter auszuführen und schon gar nicht mit der Vergabe eines Nobelpreises zu demonstrieren.

Vor zwei Wochen hatte ich an dieser Stelle an die neueste Medienkampagne von Lidl Schweiz erinnert, in welcher das Unternehmen mit seinem Mindestlohn von 4000 Franken für das Personal prahlt. Die Gewerkschaften haben in der Folge den Einwand erhoben, dass in dieser Firma praktisch niemand zu 100% arbeitet; aber diesen Einwand kann man nicht wirklich ernst nehmen, denn davon haben sie selber in ihren Forderungen auch nichts gesagt, und das wäre mir auch eine schöne Gesellschaft, welche alle Menschen dazu verpflichtet, stets zu 100% arbeitstätig zu sein, wenn das auch für Ökonomen wie Heiner Flassbeck das definitive Grenzerlebnis von wirtschaft­li­chem Glück zu sein scheint. So oder so hat Lidl ihre Werbeaktivitäten mit dem Mindestlohn-Slogan jetzt noch intensiviert und erzeugt damit schon ein halbes oder ein ganzes Jahr vor der Volksabstimmung eine richtige Kampagnen-Stimmung. Das ist, wie ich schon vor zwei Wochen gesagt habe, äußerst geschickt für Lidl, und es ist etwas verwirrend für die Hardcore-Reaktionäre in den Ideologiefabriken; wir haben schon früher deutsche Revolutionäre hier toleriert, von Büchner über August Bebel bis hin zu Bertolt Brecht, aber dass uns jetzt noch die deutschen Discounter so in die Parade fahren, das geht denn doch ziemlich weit, insbesondere deshalb, weil es nicht wirklich verboten ist, seinem Personal tatsächlich 4000 Franken pro Monat auszurichten. Naja, mal sehen, wie das weiter geht, am Schluss wird uns auch diese Initiative noch angenommen.

In der gleichen Sendung hatte ich von einem Jahreslohn von 72 Mio. Franken von Daniel Vasella gesprochen, dem ehemaligen Chef von Novartis, und das war ein erheblicher Fehler. Die 72 Mio. Franken hätte Vasella als Abfindung erhalten sollen, als er sich vor zwei Jahren zurückzog, und er hat in der Folge darauf verzichtet, nicht zuletzt wegen der damals laufenden Abzocker-Initiative, für welche er als echtes schwarzes Schaf herhalten musste. Selber hat er in der Regel nicht mehr als 15 oder 25 Millionen Franken verdient, vielleicht ausnahmsweise mal rund 30 Millionen, aber niemals 72 Millionen. Solche Zahlen kennen wir nur von Ivan Glasenberg, dem Chef von Glencore, der vor einem Jahr dank einer Gesetzesrevision unseres ehemaligen FDP-Bundesrates Rudolf Merz einen Gewinn von 109 Mio. Franken völlig steuerfrei einsacken konnte. Aber das ist wieder ein anderes Kapitel.

In Deutschland steuert die SPD auf Koalitionskurs. Diese Mitteilung hat als solche keinen Informationswert; wie wollte sich die SPD auch gegen das sozialdemokratische Programm von Frau Merkel stemmen? Die Erfahrungen mit dem vermeintlich wirtschaftsfreundlichen Kurs von Gerhard Schröder lassen vor dieser Sorte von Opposition weiten Abstand nehmen. Interessant ist nur das Drumrum, sozusagen der Balztanz oder das Design des Verlobungsringes, für den nicht der Montblanc und auch nicht die Zugspitze, sondern ganz einfach die Erfordernisse eines kommunen politischen Programms die Vorlagen liefern. Die SPD kämpft wie eine Löwin für die Einführung des Mindestlohns, den das Kabinett Merkel bereits beschlossen hat. Nun gut, man kann hier noch gewisse Konzessionen machen, Mindestlohn West 8.50 Euro, Mindestlohn Ost 7.50 Euro und so weiter, aber im Grunde genommen gibt es zwischen den beiden Partnern keine Differenzen, abgesehen vom Wähleranteil. Wie sollte es auch. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, sagte schon Hegel, also wozu sich dagegen sperren.

Daneben habe ich eine Besprechung gelesen eines Nachfolgeromans zu George Orwells «1984» nämlich von «The Circle» von Dave Egger, der einen Roman geschrieben hat über die Auflösung der Privatsphäre durch die lückenlose Überwachung durch The Circle, ein Unternehmen, welches Google, Facebook, Twitter und all die vielen anderen privaten Datensammler in sich vereint. Die Chefs verlangen zum Beispiel die Implantierung von Chips in Kinder, um deren Entführung zu verhindern; das ist bekanntlich eine der großen Menschheitsplagen, die Kindsentführung, wie dies jetzt mit großer Publikumswirkung auch wieder anhand des einen blonden und blauäugigen Mädchen-Kindes in einer griechischen Roma-Familie aufgekocht wird. Die Eltern, welchen das Kind entführt wurde, sind zwar vorderhand noch nicht bekannt, aber die uralten Vorurteile liegen in der ganzen alten Pracht auf dem Tisch. In «The Circle» haben die Unternehmer aber richtig wunderbare Ziele: Sie sehen in der umfassenden Überwachung das geeignete Mittel, um alle Menschen dazu zu bringen beziehungsweise zu zwingen, immer nur die schöne Seite von sich selber zu zeigen, und zu diesem Behuf wird die Privatsphäre abgeschafft. Es gibt also keine blinden Stellen mehr, an welchen wir unseren dunklen Trieben ihren Lauf lassen dürfen, in Zukunft wird auch im Bett nicht mehr gefurzt, und Popeln ist ein für allemal verboten. «Wir stehen vor einem zweiten Zeitalter der Aufklärung», schwärmen die Circle-Leute und gleichen darin tatsächlich den Beschäftigten bei Google. Bei Orwell lautete das Motto: War is Peace, Freedom is Slavery, Ignorance is Strength, zu Deutsch: Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissen ist Stärke – also ein ziemlich satirischer Wahlspruch. Bei The Circle ist es neu: Sharing is Caring, Secrets are Lies, Privacy is Theft, zu Deutsch: Teilen ist Fürsorge, Geheimnisse sind Lügen, Privatsphäre ist Diebstahl. Nun ja, auf diesem breiten Pfad wandern wir alle mit unseren Facebook-Accounts; aber es ist durchaus nicht erhärtet, dass wir am Schluss in der Diktatur einer Datensammel-Internetfirma landen. Dafür sind die Interessen, nicht zuletzt auch wirtschaftlicher Natur, denn doch wieder zu heterogen. Aber als Trend, als Tendenz existiert das durchaus, und die Menschen haben absolut Anlass, sich Gedanken zu machen, nicht einfach darüber, was sie auf Facebook posten, sondern darüber, was ihnen ihre Privat- oder sogar Intimsphäre bedeutet.

Vielleicht brauchen wir das irgendwann mal tatsächlich nicht mehr. Aber vorderhand bildet sie noch einen existenziellen Bestandteil unseres Selbstverständnisses als Personen, Persönlichkeiten und Charaktere.

Sodann kann ich noch melden, dass ich am Fernsehen einen Film von Clint Eastwood gesehen habe mit dem Titel «Mitternacht im Garten von Gut und Böse», einen Südstaaten-Film mit Voodoo und allem Schnickschnack dran, inklusive einem Debütantenball für junge Schwarze mit Mozart und allem, einem schwulen Kevin Spacey oder einem Pensionär, der irgendwelche Insekten an Schuhbändeln so festgezurrt hat, dass sie ihm immer um den Kopf schwirren wie ein Planetengürtel von eigenartigen Gedanken – das ist weiß Gott ein eigenartiger Film, und ich frage mich, wie der Kopf dieses Eastwood beschaffen ist, dass er einerseits derart gute und völlig unkonventionelle Filme dreht und anderseits die Tea-Party-Republikaner begeistert mit einer absurden Theatervorstellung gegen Barack Obama, im letztjährigen Wahlkampf; auf seine Art und Weise passt dieser Clint Eastwood nicht in mein Weltbild, das ist das eine, und das andere ist, dass aus solchen Fehltritten immer wieder wunderbare Überraschungen entstehen. «Mitternacht im Garten von Gut und Böse» aus dem Jahr 1997, von Clint Eastwood, mit John Cusack, Kevin Spacey und einigen weiteren schönen Chargen, z.B. die wunderbare Chablis Deveau – aber geht doch hin, zum Beispiel in die nächste Videothek, und besorgt Euch diesen Streifen. Viel Vergnügen wünsche ich.