"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Flüchtlingsökonomie -

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Noch im Untergang ist Silvio Berlusconi nicht größer, aber umfassender als die Titanic; er zieht noch einmal sämtliche Register, behauptet wie eh und je heute dies und morgen das Gegenteil, winkt mit Checks und droht mit dem Entzug seiner Gunst, er vollzieht absurde Manöver wie die Entmachtung der eigenen Partei durch Auflösung und Neugründung in einer früheren Existenzform, er geht also über von der Karikatur eines antiken Caesaren zum Rinascimento, Hauptsache, man sieht, dass er nach wie vor einen Steifen hat, kurz: Er gurgelt an allen möglichen Orten bei seinem politischen Untergang, und es nützt doch nichts, der Senat wird ihn in ein paar Tagen rauswerfen, und was dann kommt, wissen wir alle nicht so recht.
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10:47 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 29.10.2013 / 11:52

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 29.10.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wenn das Leben beziehungsweise die Welt ein Theaterstück eines anständigen Autors wäre, dann müsste nun die umfassende Liquidation dieses Clowns folgen, also vor allem der Verlust des Medienimperiums und der Entzug des ganzen Milliardenvermögens, vielleicht in Kombination mit dramatischen persönlichen Missgeschicken der beiden Kinder und Erben Marina und Piersilvio, aber da der Stückeschreiber bloß Allah heißt oder Vater unser oder wie auch immer, ist darauf kein Verlass. Und so dürfte die Familie Berlusconi auf ein paar Jahre, wo nicht Generationen hinaus ein Bestandteil der italienischen Wirtschaftselite bleiben mit ihrem Einfluss und Reichtum, der auf seriellen Verstößen gegen das Gesetz und weitere Spielregeln des freien Äquivalententausches beruht; eine Enkelin von Silvio Priap Berlusconi wird vielleicht mal Präsidentin der Confindustria, und überhaupt weiß man eben nicht, was die Zukunft bringt.

Eines steht fest: Der Berlusconi hat auch anderen Menschen mit Mäusen und Macken Lust gemacht auf die Politik als einem Spielfeld, auf dem man es durchaus mal mit seinen eigenen Regeln versuchen kann. Es gibt zwar keine Garantie dafür, dass man damit durchkommt, solange man nicht in Italien spielt, aber ein Versuch ist es wert. Wir haben den Frank Stronach gesehen in Österreich, allerdings hat man den Eindruck, der hätte sich eher an der senilen Seite von Berlusconi orientiert. In Georgien brachte die Partei des Milliardärs Iwanischwili am letzten Wochenende ihren Präsidentschaftskandidaten durch nach dem Erfolg bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr; Iwanischwili macht allerdings einen vernünftigen Eindruck, was überhaupt die Frage aufwirft, ob so ein Milliardär überhaupt so dumm sein kann, wie er sich darstellt, zum Beispiel eben der Berlusconi oder der Stronach. Die Antwort ist: Nein. Der Reichtumsquotient ist noch immer um ein Vielfaches mächtiger als der Intelligenzquotient. Das heißt auch, dass all jene, die sich in der Öffentlichkeit dumm und dreist und wie auch immer gebärden, im Hintergrund in der Regel durchaus rationale Motive haben, vielleicht liegt hier der Unterschied, es ist wohl weniger der Intelligenz- als vielmehr der Rationalitätskoeffizient.

Ein weiterer politisierender Milliardär ist in Tschechien aufgetaucht, ein gewisser Andrej Babis, der einer Partei vorsteht mit einem Namen wie eine Schönheitskönigin: Aktion unzufriedener Bürger. Soweit der Name Programm ist, müsste ihr Wähleranteil bei 99% liegen. Wenn man die Tschechei vielleicht in Sachen Korruption mit Italien durchaus vergleichen kann, so hat aber Babis nicht so richtig aufgepasst: Berlusconi nannte seine Partei nicht etwa «Die Unzufriedenen», sondern ganz einfach «Forza Italia», er verwendete also einen positiven Begriff. Die Unzufriedenen sind nämlich bei den nächsten Wahlen immer noch unzufrieden, dann aber mit der eigenen Partei, und so etwas verzieht sich wie Tau in der Morgensonne.

Trotzdem ist das Phänomen der Politik spielenden Milliardäre ein lustiges. In den vermeintlich weiter entwickelten Gesellschaften hat es sich eingespielt, dass die Reichen aus einem gewissen Ehr- oder Schamgefühl heraus nicht direkt Einfluss nehmen auf die Gesetzgebung, weil sie mit ihrem Reichtum ja eh schon über Konsum- und Einflusspotenziale verfügen, von denen andere im ganzen Leben nicht mal träumen können. Vielmehr lassen sie dies von Parteien erledigen, welche ihre Interessen vertreten, und von Anwälten oder sonstigen Zulieferern und Hofschranzen in der hohen Politik. Zum Teil erfolgt dies ganz offiziell, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, während es in Skandinavien und in Deutschland doch etwas diskreter vonstatten geht; in Frankreich spricht man schon gar nicht darüber, und in den übrigen Ländern muss sich das angemessene Verhältnis zwischen Reichtum und politischem Einfluss erst noch so richtig herausbilden. Dass sich die reichen Säcke als Vertreter der Besitzlosen aufspielen, hat aber doch seinen besonderen Reiz, und insofern wollen wir dieses Wahl-Wochenende mit einem dezenten Applaus beschließen. Gleichzeitig erinnere ich mich noch einmal daran, dass die Wahlsendungen in Deutschland nun und in Zukunft von Stefan Raab gestaltet und moderiert werden. Ich gehe davon aus, dass er in absehbarer Zukunft auch eine Partei gründet, und zwar vermutlich etwas professioneller, als dies die vorauseilende Titanic bereits getan hat.

Gibt es eine größere Fallhöhe als vom Lächerlichen zum Leid? Kaum, und deshalb lassen wir uns halt eben fallen: Fast täglich ertrinken vor Lampedusa und Malta Menschen beim Versuch, illegal nach Europa einzuwandern. Legal ist das bekanntlich seit Jahren nicht mehr möglich, außer für Fachkräfte und Menschen mit Mäusen, und das ist selbstverständlich der Hauptgrund für die anhaltende Tragödie. Es gibt aber auch eine Ökonomie darin, und die besagt, dass in Äthiopien und Eritrea oder in Afrika südlich der Sahara pro potenziellen Flüchtling Summen im Umfang von 500 bis 5000 Euro bereitgestellt werden als Risikokapital. Wer es nach Europa schafft, der erbringt eine langfristige Rendite von 10 bis 50 Prozent. So ungefähr lautet nach meinen Informationen die Wirtschaftlichkeitsrechnung oder der Business Plan, dem die entwickelten Länder im Wesentlichen bloß Entwicklungshilfe-Projekte entgegen zu halten haben, im Rahmen derer zum Beispiel die Wasserversorgung verbessert oder die Ertragskraft pro Krume Ackerland um dreißig Prozent gesteigert wird. Mit anderen Worten: Es gibt keine Alternative.

Die Menschen in den Auswanderungsländern sind unterdessen nicht nur voll gesogen mit dem ganzen Bildgut des Reichtums westlicher Gesellschaften, sondern mit der Zeit auch mit zunehmenden Geldmitteln, wenn auch noch in kleinem Ausmaß. Wir würden uns natürlich wünschen, dass sie diese Geldmittel bei sich zuhause investieren. Das findet übrigens zum Teil auch statt, zum Beispiel in den großen Städten; aber grundsätzlich ist es eben ökonomischer, auf die Emigration einiger Familienmitglieder zu setzen. Dies ist nichts als die ökonomische Unterfütterung eines generellen Trends, gegen den sich Europa nicht komplett abschotten kann. Der entsprechende Druck wird auf absehbare Zeit nicht nachlassen, sondern zunehmen.

Es gibt aus europäischer Sicht keine korrekte Haltung in dieser Situation. Die Grenzen völlig öffnen kommt nicht in Frage, da die physikalischen und die sozialen Infrastrukturen unter dem absehbaren Andrang bald zusammen brechen würden. – Das ist mindestens die Hypothese, die ich vorderhand unbesehen übernehme; vielleicht stimmt sie nicht einmal, aber auf jeden Fall würde so etwas in Europa für gewaltige rassistische Spannungen sorgen. – Anderseits sollte Europa klar machen, dass es auf pragmatische Art und Weise eine gewisse Anzahl an EinwandererInnen aus Afrika pro Jahr aufnimmt – vom Nahen und Mittleren Osten und allenfalls aus Russland spreche ich hier nicht, hier ist die Ausgangslage anders.

Man könnte sich vorstellen: Ganz Europa erteilt pro Jahr so etwas wie Green Cards für rund eine Million AfrikanerInnen. Die andere Möglichkeit besteht darin, diese Million weiterhin in der Illegalität zu halten, eben als Bootsflüchtlinge und dann als Asylsuchende, die nach Ablehnung ihres Asylantrags wieder auszuschaffen sind; von ihnen verschwindet ein ansehnlicher Anteil in die Klandestinität, was ebenfalls eine Form der Integration darstellt, bloß einfach ohne den mindesten Schutz des Gesetzes und der Institutionen, ohne Versicherungen und so weiter; per Saldo kommt es aber aufs selbe heraus und entspricht den heutigen Zuständen, mit der Ausnahme, dass es sich vermutlich insgesamt nicht um eine Million pro Jahr handelt.

Aber eine Million wäre möglich, allerdings nicht zur direkten Platzierung auf dem Arbeitsmarkt, sondern verteilt auf die europäischen Länder und zur Kanalisierung in bestimmte Projekte, wo diese Menschen für anständige Entschädigung tätig werden und Dinge herstellen, die man sonst nicht machen täte. Im Prinzip ist es egal, worum es sich konkret handelt; die Projekte sollten normalerweise die laufende Wirtschaftstätigkeit in den betreffenden Ländern nicht beeinträchtigen und gleichzeitig den Werktätigen gewisse Grund­kennt­nisse einer Berufstätigkeit vermitteln, sofern sie nicht bereits welche haben; und dann spielt hier natürlich auch so etwas wie ein arbeitstherapeutischer Ansatz eine Rolle.

Zu den Projekten kann man sich einfach was einfallen lassen. Mein Favorit ist nach wie vor ein Infrastrukturgegenstand, den wir alle noch halbwegs in Erinnerung haben, nämlich eine Mauer. Nicht eine Trennmauer, sondern eher so etwas wie ein gewaltiger Windfang, den man zum Beispiel in Erfurt ein paar Kilometer außerhalb der Wohnzonen errichten könnte in einer Länge von einem bis zwei Kilometern, leicht geschwungen, und mit einer Breite an der Basis von etwa dreißig Metern, einer Höhe von ebenfalls gut dreißig Metern und einer Breite oben von gut zehn Metern. Die Mauer müsste natürlich nicht nur stabil sein, sondern auch weitgehend hohl, sodass drin alles eingerichtet werden könnte, was man grad möchte, Kinos, Restaurants, Wohnungen, was weiß ich denn, und oben hätte es einen wunderbaren Spazierweg, auf zehn Meter Breite kann man auch noch den einen oder anderen Busch oder Baum pflanzen. Und vorne dran, na, da könnte man ein neues Fußballstadion hin bauen. Wenn man wollte. Oder auch ganz einfach eine normale Spielwiese. Einen fest eingerichteten Zirkus. Eine Eisenschmiede. Was auch immer. Der Punkt ist einfach der, dass man sich etwas einfallen lassen sollte. Und was das Geld angeht, so steht eines fest: Das ganze Nord–Süd-Gefälle, das kostet uns so oder so erhebliche Beträge. Da ist es wohl intelligenter, wenn wir die Sache gleich kreativ nutzen, vielleicht unter Aktivierung eines EU-Födertopfes, was weiß denn ich. Aber Geld ist in dieser Beziehung sicher nicht das Problem.

Ich weiß, das ist jetzt eine ziemlich steile Kurve vom Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer zu wunderbaren Aufbauprojekten in Erfurt und anderswo. Aber eine richtig tolle Alternative sehe ich eben nicht auf die Schnelle.

Kommentare
29.10.2013 / 18:01 Redaktion Freitags-sonar, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
Danke !!!
Dienstag, 29.10.2013