Vom Nulltarif zum IWF - Kinder des Neoliberalismus gehen auf die Straße

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Niemand hatte die Proteste, die im Juni in Brasilien begannen und bis heute andauern, erwartet. Wie konnte es dazu kommen? Leonardo Sakamoto von Reporter Brasil, Dozent und Kolumnist aus São Paulo war dabei. Er ist Augenzeuge, Akteur und Interpret der Geschehenisse. Er sprach beim Runden Tisch Brasilien in Weimar vergangenes Wochenende.
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10:41 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 26.11.2013 / 14:08

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Klassifizierung

Beitragsart: Anderes
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Arbeitswelt, in anderen Sprachen, Jugend, Politik/Info
Serie: MoRa3X
Entstehung

AutorInnen: Fabian, die meike
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 26.11.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Niemand hatte diese proteste erwartet. Wie konnte es dazu kommen?
Leonardo sakamoto von reporter brasil, dozent und kolumnist aus sao paolo war dabei. Er ist augenzeuge, akteur und Interpret.

Leornardo: wenn es hier ein funkmikro gibt, würd ich das bevorzugen – ich seh zwar aus wie ein japaner, aber mein onkel war italiener, ich kann nicht im sitzen sprechen. Und entschuldigt auch meinen anzug, ich bin als pinguin angezogen, weil in der einladung kein dresscode stand. Morgen komm ich dann mit schlappen und kurzer hose.
Wenn die leute mich frageN: „was zum henker ist da in sao paulo, in Brasilien im juni passiert?“ dann sag ich : es gibt nicht einen einzigen grund, es gibt mehrere, wenn jemand einen einzigen grund nennt liegt er oder sie falsch. Im juni waren in sao paulo, rio de janeiro, fortaleza und vielen anderen städten bei protesten und Demos mehr als anderthalb millionen leute auf der straße. Das war ein einzigartiger moment. Jetzt diskutiert man, ob im kommenden jahr – jahr der fußballwm der männer, jahr der wahlen – all dies wiederholt werden kann.
Der sprit für all dies war die polizeigewalt. Aber bevor ich darauf zu sprechen kommen, möcht ich zuerst noch auf den leitfaden eingehen: die proteste für bessere öffentliche verkehrsmittel in den großen städten brasiliens und vor allem eine sehr konkrete, objektive und spezifische forderung von der bewegung „Passe Livre“ (freifahrt), die sich vor allem aus jungen linken aus der stadt zusammensetzt, die den preis reduzieren wollen. Eigentlich wollen sie freie fahrt in öffentlichen verkehrsmitteln.
Wenn du jemandem sagst: „kuck mal ich will den preis für den bus um 20 cent senken. Punkt.“ verstehen das alle – ob hausfrau, ingeneur, studentin. Das war eine neuheit.
Das ist anders als bei den studentischen bewegungen – bei allem respekt, ich gehörte da auch einmal dazu – du ein plenum von 14 stunden dauer machst und am ende deine forderungen verkündest und die beginnt mit der verbesserung von studentischem wohnen und endet mit der abschaffung des iwf (des internationalen währungsfonds) so ein großer und weitgehender katalog kann ja gar nicht erfüllt werden!
Passelivre war also die bewegung – sie hatten die erste demo, dann die zweite; sie protestierten, die blockierten die hauptverkehrsstraßen – das war nicht größer als die sozialen bewegungen, die es bereits gibt. Laßt uns mal nachdenken: in brasilien gibt es bereits den slut walk, den Global Marijuana March – seit jahrzehnten gibt es demos der landlosenbewegung, der obdachlosen, der Margeriten zum Tag der frau am 8. März. Die bewegung Passe Livre hat einige Tausend leute jeden tag mobilisiert – bis dann am 13. Juni, das war ein donnerstag, ich erinnere mich gut wegen des Tränengases, die militärpolizei mit maßloser Gewalt eine friedliche demo der bewegung niederschlug. Journalist_innen und demonstrierende wurden schwer verletzt – ein journalist ist fast erblindet an dem tag. Diese demo wurde live in sensationalistischen boulevardsendungen übertragen und alle welt konnte sehen, wie diese jungen leute ungerechtfertigt verprügelt wurden.
Also wurde diese forderung von erschwinglichen oder gratis transportmitteln zu mehr – die leute protestierten für das recht zu protestieren. Meinungsfreiheit und die freiheit einer öffentlichen debatte kommt hier ins spiel. Und an diesem wochenende, am 15. und 16. juni wurde in den sozialen medien viiiiel diskutiert. Und am tag darauf waren – trotz anfänglicher niedrigerer zahlen – allein in sao paulo 200.000 bis 300.000 leute auf der straße. 200 – 300.000 leute! Es war ein meer von leuten, ich wär fast verzweifelt, ich hab mir gedacht, ich kauf mir ein paar schlittschuhe, um von einem ende der demo zum anderen zu gelangen um bericht zu erstatten.
Diese demo vom 17. und 18. juni verändert das verhalten des staates – die regierung kapiert, daß sie mist gebaut hat, versteht, daß die leute unzufrieden sind und zieht die polizei ab – im falle sao paulo, in rio war das anders.
Was passiert aber, wenn du eine flasche limo schüttelst und dann öffnest? Alles, was in der flasche ist, sprudelt raus, schaum usw. zusammen mit dem druck, der in der flasche war.
Dieser druck herrschte auch in der brasilianischen gesellschaft – vor allem unter jungen leuten. Als der deckel hochgeht, gerechtfertigt von der bewegung passe livre und der polizeigewalt, kommen viele andere dinge ans licht – welche?
Unzufriedenheiten, forderungen der jungen leute aus der oberen und unteren und mittleren mittelschicht, was auch immer, die unzufriedenheiten werden auf die straße getragen. Dann fordern die leute nicht nur bessere transportmittel, sonder auch mehr und bessere bildung, mehr gesundheit, weniger korruption.
Was ist das problem?
Wenn du mehr bildung forderst, forderst du was? Absolut nichts. Wenn du mehr gesundheit forderst, forderst du was? Absolut nichts! Wenn du weniger korruption forderst, forderst du nichts – warum? Weil das oberflächlich ist. Dann trägst du nur deine unzufriedenheiten nach draußen.
Diese explosion also brachte viele leute auf die straße, die unzufrieden waren – jugendliche, empörte, die aber nicht so genau wußten, warum sie sich empörten und noch weniger, warum sie unzufrieden waren. Wir hatten das in spanien, bei occupy wall street – sie haben große energie, können sie aber nicht kanalisieren. Sie wissen nur: sie sind unzufrieden und sie sind empört.
Ich erzähle eine kleine anekdote: am 18. juni hab ich in sao paulo bericht erstattet und da sah ich einen jungen – er war vielleicht 15 –mit einem plakat und da stand drauf: „dilma [die präsidentin brasiliens] ist eine kuh“.
Ich hab mich an einen posten gelehnt, hab ihn angekuckt. Und er, total glücklich, aufgeplustert wie eine taube.. dann bin ich auf ihn zugegangen - ich weiß, das nervt, der genießt hier die demo und dann kommt der japaner und geht dir auf den keks – aber ich sagte „junge, wieso ist dilma eine kuh?“ er konnte mir keine antwort geben. Ich sagte ihm: „du kannst sie korrupt nennen, idiotisch, inkompetent, irgendwas, was sie in ihrem amt respektiert, aber nichts, was sich auf sie als frau bezieht! Kuh, schlampe“ dann fing ich an vom machismo in der brasilianischen gesellschaft zu sprechen, 15 minuten lang.. da hat er scih entschuldigt, wurde ganz kleinlaut, „ich hielt es für eine gute idee...“ „das ist es nicht...!“ dann kam sein vater dazu und sagte, tschuldigung, ich bin anderer meinung, mein sohn hat recht – sie ist eine kuh. Ich sagte – ah, jetzt weiß ich woher das kommt, von dort! Ich bin professor an der uni, sagte er mir. Und ich – oh nein...
dann, kurz drauf, ein ähnliches plakat: „carlos minc (gouverneur des staates sao paulo) ist schwul.“ also ich wieder hin „laß uns mal reden, junge...“ wieder 15minuten auf ihn eingeredet, er sah's nicht ein – was ich damit sagen will, diese beiden geschichten sollen euch zeigen, wie sehr diese jugendlichen bock hatten, auf die straße zu gehen, ihre empörung zeigen – aber ein gutteil der leute hatten nicht die politische bildung, die es ihnen erlaubt hätte, die aktuelle lage in brasilien zu bewerten und zu evaluieren. Sie sind zum ersten mal auf der straße. An diesen tagen gingen twitter und facebook auf die straße. Politische waisen. Die linken hatten den horror davor – es gab so viele konservative plakate an diesen tagen. „die rechten haben die straße eingenommen. Es wird einen putsch geben!“ ich mußte meine freunde von der arbeiterpartei beruhigen – nein, ganz ruhig, es wird keinen putsch geben. Diese jugendlichen fassen keine waffen an, höchstens schokoriegel. Das sind kinder! Sie kaufen dir den einfachen diskurs einfach ab. Sie wollen keinen putsch. Sie wollen zärtlichkeit. Sie wollen in den politischen diskurs miteingebunden werden. Der kapitalismus hat gesiegt, es gibt keine debatte mehr fertig – das wird ihnen immer gesagt. Und sie sind kinder von eltern, die während der hochzeit des neoliberalismus großgeworden sind. Es sind kinder des neoliberalismus. Und die kinder der unteren mittelschicht sind kinder der ära lula. Denen wird die staatsbürgerschaft aufgrund von konsum gewährt! In der brasilianischen gesellschaft heißt es mehr und mehr: Sein ist haben und wenn du nichts hast, bist du nichts. Das heißt aber nicht, daß ihre lebensqualität im alltag gut sei.
Wenn du nach deutschland gehst, frankreich ode england, siehst du auf den öffentlichen plätzen immer mal wieder leute picknicken. In brasilien siehst du das nur in grßen parks oder am strand. Das gefühl, zum öffentlichen raum dazuzugehören, ist unter jugendlichen in brasilien nichtexistent.
Wißt ihr, wo die sozialisierung von jungen leuten der mittelklasse vonstatten geht? Im shoppingzenter. In einer hermetisch abgeriegelten blase – auch klimatisch. Die reichen nutzen den öffentlichen raum nicht. Die armen sind dazu gezwungen.

Kommentare
27.11.2013 / 17:45 johanna, Radio Dreyeckland, Freiburg
in focus international
am 27. & 28.(wh.) 11. danke!
 
01.12.2013 / 22:15 Jens, coloRadio, Dresden
Wird gesendet auf coloradio am 2.12. zwischen 21 u. 22 Uhr
Vielen Dank!