"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Mauerbau

ID 60630
 
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Der Mauerbau geht weiter! 50 Jahre nach Walter Ulbricht sind jetzt die Bulgaren dran und errichten einen Zaun an der Grenze zur Türkei, weil da die syrischen Flüchtlinge jetzt massenweise einfallen.
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10:26 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.12.2013 / 18:14

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 10.12.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Platz hätten die Bulgaren eigentlich schon, aber es ist kein Geld da, um die Flüchtlinge durchzu­füttern, das benötigen die verschiedenen Partei- und Wirtschaftskader leider selber. In der Bevölkerung breitet sich dertweil der Fremdenhass aus, und gegen diese Krankheit hat die Welt­ge–sundheitsorganisation noch keinen Wirkstoff entwickelt, während ich selber zugeben muss, dass es für mich in der schönen und reichen Alpenfestung Schweiz ziemlich wohlfeil ist, den Bulgaren Lektionen in Mitmenschentum zu erteilen; vermutlich werden in 60 Jahren in Bulgarien jene Helden und Heldinnen der Nächstenliebe gefeiert und posthum mit Orden behängt, welche heute den armen Flüchtlingsschweinen einen Teller Suppe ausschenken und vielleicht die bekannte Herberge in einem Stall gewähren. Aber heute fühlt sich die Mehrheit offenbar bedroht in jenem prekären kleinen Wohlstand, von dem ich selber nicht wirklich eine Ahnung habe. Ich nehme mal an, dass es dort ungefähr so aussieht wie bei uns zu Großmutters Zeiten. So oder so kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, es stehe mir gar nicht zu, die Jungs und Mädels für ihre allergische Reaktion gegen die Einwanderer zu kritisieren jenseits des, allerdings grundlegenden Satzes, wonach alle Menschen gleich seien. Aber das könnte man auch der Fremden- und Grenzpolizei in unseren Zentralstaaten vorhalten; die Fremdenfeindlichkeit hat in den weiß Gott besser begabten reichen Ländern Europas ebenfalls ihre eigene Realität.

Lustig ist, dass man aus der Bulgarien migrationstechnisch vorgelagerten und unmittelbar an Syrien angrenzenden Türkei keinen Papp hört von einer fremdenfeindlichen Grundstimmung in der Bevöl­kerung. Das will noch nicht heißen, dass es sie nicht gibt, aber sie bestimmt nicht das Gesamtbild. Als direkte Nachbarn haben die Türkinnen und die Türken vermutlich nicht nur einen besseren Einblick und somit ein größeres Verständnis, sondern auch mehr oder weniger natürliche Beziehungen zu den Syrerinnen und Syrern. Vor allem aber ist die türkische Gesellschaft noch viel stärker eine Durchzugs-Gesellschaft als die Staaten im ehemaligen Ostblock, welche offenbar doch ganze Arbeit geleistet haben im Bereich des Internationalismus, will sagen der Konstruktion des Nationalstaates mit den entsprechenden, ans Territorium gebundenen Privilegien, von den reichen EU-Ländern ganz zu schweigen. Die Türken haben zwar verschiedene Türkisierungsprogramme und -pogrome hinter sich, gegen die Griechen und in jüngerer Geschichte gegen die Kurden, aber im Volkskörper hat sich wohl vor allem die Jahrtausende alte Tradition der permanenten Wanderung und Mischung erhalten, zumal in Kleinasien, und die Weltmetropole dieser Dauermigration ist unterdessen sowieso Istanbul. Wenn man absieht von San Diego, Tucson und El Paso bzw. Juarez. Die Nordamerikaner haben übrigens auch die viel schönere und längere Mauer als jetzt neuerdings die Bulgaren.

Mauern gegen die Völkerwanderung, das kennen wir doch schon von den alten Römern mit dem Limes oder dem Hadrianwall, und die berühmteste und größte steht nach wie vor in China herum. Ihr Nutzen über längere Zeit hinaus ist umstritten, aber kurzfristig hilft die Abdichtung durchaus, sonst würde man sie ja gar nicht erstellen. Weitere Schlüsse lassen sich aus der Geschichte nicht ziehen, obwohl dies ein Lieblingssport und die Hauptlegitimation der ganzen Historiker-Vereinigung ist, aber den Zerfall des römischen Reiches nach dem Einfall der germanischen Horden in den römischen Kulturkreis wollen wir explizit nicht in Zusammenhang bringen mit der Einwanderung ansehnlicher Mengen an Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika in die reichen Länder der nördlichen Hemisphäre. Höchstens können wir darin so etwas wie eine Retourkutsche sehen dafür, dass wir seit dem Kolonialismus immer mehr Rohstoffe im Süden beschaffen, neuerdings auch immer mehr Waren plus/minus gratis dort produzieren lassen und es uns dort in der kalten Jahreszeit wohl sein lassen, im Urlaub. Aber auch das bringt nichts, mit Retourkutschen kommt man nicht vorwärts, und vorwärts heißt einfach immer wieder: Wohlstand und Gesundheit für alle Menschen auf der ganzen Welt und nicht nur für die reichen Säcke in Europa und Nordamerika. Ganz konfliktfrei lässt sich dieses Ziel nicht erreichen, soviel steht fest, und der Konflikt produziert zwangsläufig Fremdenhass bei jenen, welche ihre Lebensgrundlagen gefährdet sehen. Die Lebensgrundlagen umfassen dabei weit mehr als die Subsistenz, also die elemen­taren Nahrungsmittel und ein Dach über dem Kopf, sondern sie verwandeln sich zunehmend das an bzw. verleiben es sich ein, was die Vorfahren, Großmütter und so, als puren Luxus erlebt haben. Deshalb ist der Fremdenhass nicht an den Kampf um die Subsistenz gebunden, im Gegen­teil, je näher man dran ist am Elend, desto weniger hat man Zeit, solche Gefühle überhaupt auszu­bilden.

Aber eben, es spielen noch andere Faktoren eine Rolle, hauptsächlich im Bereich des Nationalbe­wusstseins, der Beziehung zum eigenen Staat. Eine gute Sozialversicherung zum Beispiel kenn­zeichnet einen modernen sozialdemokratischen Staat. Gleichzeitig wirkt sie extrem konservierend, das heißt, sie erlaubt es ganzen Bevölkerungsschichten, auch bei einer radikalen Strukturver­än­de­rung am gleichen Ort sesshaft zu bleiben und zum Beispiel zu warten, bis sich die Strukturver­änderung auch wieder dort ansiedelt. Ich weiß ja nicht, was in Detroit im Moment gerade abgeht, aber nach den letzten Berichten handelt es sich unterdessen zur Hälfte um eine Geisterstadt, Got­ham City oder ähnlich, wo ein Gutteil der verbliebenen Menschen von Stütze abhängig sind. Früher zogen die Menschen zwangsläufig den Erwerbsquellen nach, heute bleiben sie dank dem intakten Sozialstaat relativ lange dort, wo sie sich verwurzelt fühlen, auch wenn die wirtschaft­lichen Grund­lagen in der Gestalt von Arbeitsplätzen bzw. Erwerbsmöglichkeiten gar nicht mehr vor­han­den sind. Dabei weiß ich nicht, ob die Wurzeln bei den weniger qualifizierten Arbeitskräften tiefer reichen als bei den Fach- und Kopfarbeiterinnen, ganz abgesehen davon, dass das Internet gewisse Arbeits­typen weitgehend ortsunabhängig macht. Tendenziell gibt es in den entwickelten Ländern weniger einfache Arbeiten, tendenziell drängen einwandernde Arbeitskräfte eher in die schlechter bezahlten Jobs, tendenziell ist somit sowohl die Sesshaftigkeit als auch die Fremden­feindlichkeit bei den weniger gebildeten Schichten stärker. Und selbstverständlich werden die Befürchtungen, welche dem Fremdenhass zugrunde liegen, auch sehr gerne und sehr einfach instrumentalisiert von politi­schen Bewegungen, die in der Regel gar nicht wissen, was eine richtige Fremdenfresserei ist, son­dern die einfach die daraus entstehende oder die bereits vorhandene Dynamik für völlig andere Zwecke ausnützen wollen.

Für den Nationalismus braucht es jedenfalls keine Mauern, es reicht schon die Einrichtung eines halbwegs funktionierenden Sozialstaates. Das ist eine ebenso konstituierende wie konservierende Kraft der heutigen Gesell­schaften, und nicht zuletzt an dieser Kraft beißt sich die Europäische Union seit längerer Zeit die Zähne aus. Nicht zufällig ist eine der brisantesten offenen Fragen, wie weit die Sozialversicherung auch den Zuzügern aus anderen EU-Staaten in das jeweilige Land offen stehen muss. In diesem konkreten Fall spielen die Asylmigranten noch keine Rolle, das beschränkt sich auf den Binnen­verkehr, auf die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU.

All dies sind keine besonders neuen Einsichten, aber in der Regel lamentiert man mindestens in den aufgeklärten Kreisen über den Fremdenfeindlichkeits-Virus, eben, im Volkskörper, ohne ihn den objektiven Migrationstendenzen gegenüber zu stellen. Auch ich selber begnüge mich generell damit, dass ich sage, wenn man die Lebensbedingungen in den Ursprungsländern verbessert, dann haben die Menschen auch keinen Grund mehr zur massenhaften Auswanderung. Wenn sie ihr Glück im eigenen Land suchen können, um für einmal die US-amerikanische Verfassung etwas abzu­wandeln, dann müssen sie zu diesem Behuf nicht ihr Leben aufs Spiel setzen durch unsichere und teure Migrationsabenteuer unter dem Arbeitstitel Flüchtling beziehungsweise Asylantrag. Aber erstens dauert es sowieso seine Zeit, bis die entsprechenden Grundlagen in den Ursprungsländern geschaffen sind, und zweitens verschärft sich das Problem in dem Maße, in dem immer mehr Men­schen in armen Ländern den ungeheuren Reichtum realisieren, der an anderen Orten auf der Welt bereit steht, sogar noch für arme Schlucker wie die Asylsuchenden. Da kann man mit Grundsätzen und Moral einfach nichts ausrichten. Hier helfen bloß pragmatische Lösungen, wobei die Verant­wortlichen ebenso wie die Mehrheit der Bevölkerung gut daran tun, sich hin und wieder die Grund­sätze in Erinnerung zu rufen von wegen Menschenrechte und so. Und dass eigentlich genug da ist für alle. Bloß reicht das nicht aus, solange man keinen praktikablen Weg kennt, um das auch so einzurichten, und solange wir den Weg nicht kennen, sind wir mehr oder weniger dazu gezwungen, auf Sicht zu navigieren und halt einfach das zu tun, zu unterstützen oder zu untersuchen, was am richtigsten erscheint.

Mauern bauen! Warum nicht. Ich spreche nicht von jenen in den Köpfen, das ist sowieso ein heikles Unterfangen. Aber echte Mauern bauen, das ist doch mal ein gutes Projekt, und zwar eben nicht solche, welche trennen oder abwehren, sondern Mauern als solche, ohne Funktion, aber mit einem Rest von Symbolgehalt. Mir gefällt die Idee einer drei Kilometer langen Mauer im Norden von Erfurt von Tag zu Tag besser. Eigentlich wäre es ja eher ein Damm als eine Mauer, auf deren Südhang man zum Beispiel Wein anbauen könnte. Und wenn man von den drei Kilometern die Hälfte in 30 Meter lange Abschnitte unterteilen und diese den ansässigen Vereinen oder der Dorfjugend zur Verfügung stellen täte, hätte man 50 solcher Lokalitäten, in welchen die Jungen und die Alten ausgiebig werkeln könnten. Jeden Tag gäbe es mindestens drei Mauer-Konzerte. Und selbstverständlich müsste auf der Krete neben einem schönen Jogging- und Spazierweg eine Trambahn hin und her verkehren. Zum Beispiel bei Schwerborn. Ach, wäre das schön! – Und wie gesagt, zu errichten wäre sie im Rahmen eines Einsatzprojektes für, na ja, für Leute eben, welche sonst nichts Gescheites zu tun haben.