"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Hans Wahl -

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«Die Spaltung in das unbefleckte Weimar und das böse Buchenwald hat sich über die DDR-Zeit hinaus erhalten, der Inszenierungscharakter des wieder aufgebauten Goethehauses bleibt konsequent verborgen», schreiben Paul Kahl und Hendrik Kalvelage in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. Januar in einem Artikel mit dem schönen Titel «Hitler und das Goethehaus».
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12:27 min, 29 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 28.01.2014 / 12:31

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 28.01.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Sie erheben zum Teil verständliche Vorwürfe in Kombination mit unverständlichen Argumenten; wie soll denn ein Museum wie das Goethehaus, egal, ob im Original erhalten oder wieder aufgebaut oder was auch immer, anders denn als Inszenierung verstanden werden? Meinetwegen als Inszenierung einer historischen Wirklichkeit, aber die historische Wirklichkeit selber und als solche ist uns nun mal per Definition immer und ausschließlich nur als Inszenierung zugänglich. – Offenbar hat man dort im Jahr 1949 auch kriegsbeschädigte Wandbilder komplett restauriert, also nach Fotografien wieder aufgebaut, und gibt sie seither wieder als die ursprünglichen Werke aus. Ist das nun para- oder abnormal? Nicht wirklich, auch wenn der Maler, welcher die Wandbilder neu gemalt hat, von den Nazis ganz sicher nicht zu den entarteten Künstlern gezählt wurde. Nein: Hugo Gugg wurde 1945 sogar kurz inhaftiert und entnazifiziert, bevor er mit umfangreichen Restaurierungsarbeiten betraut wurde. Zuvor war er von 1921 bis 1945 Professor gewesen an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste in Weimar, NSDAP-Mitglied schon seit 1925 und sozusagen einer der Chefpinsler der Nazi-Idyllen. Aber das wirft keine gewaltigen Schatten auf das Goethe-Haus; Gugg war wie die gesamte nationalsozialistische Ästhetik konservativer Durchschnitt und Dutzendware und erreichte, künstlerisch gesehen, mit den restauratorischen Arbeiten seinen Zenith. Politisch gesehen war er trotz seiner frühen NSDAP-Mitgliedschaft ein Mitläufer, und davon gab es nun mal in Nazi-Deutschland überwältigend viele, man würde fast sagen, dass es zeitweilig bis zu 90 Prozent der Bevölkerung waren. Das war ja gerade das echte Drama, und wenn nach dem Zweiten Weltkrieg nur echte Mitglieder des deutschen Widerstandes Hand an das Goethe-Erbe hätten legen dürfen, dann wären für die Wandbilder wohl nur Picasso und Miro in Frage gekommen.

Der Museumsdirektor dagegen bietet schon etwas besseren Anschauungsunterricht für die Entwicklung nach der Befreiung Deutschlands. Sein Name war Hans Wahl, ein begeisterter Nationalsozialist, Gründungsmitglied des antisemitischen «Kampfundes für deutsche Kultur» und einer jener nationalsozialistischen Goethe-Verehrer, welche den Dichterfürsten und Fürstenknecht für lange Zeit in ein schlechtes Licht rückten. Er engagierte sich mit allen Mitteln für eine gebührende Beachtung Goethes durch die Nazi-Regierung und blieb dabei durchaus nicht ohne Erfolg. Der Clou ereignete sich aber nach dem Zerfall des tausendjährigen Reiches: Als die Sowjets mehr oder weniger unmittelbar mit dem Wiederaufbau des beschädigten Museums begannen, war der Direktor, zum allgemeinen Erstaunen, der alte, nämlich Hans Wahl, welcher nun eine Abteilung «Goethe und Russland» anfügte. Laut dem schlauen Buch des Fähnleins Fieselschweif wurde er gleichzeitig Vorstandsmitglied der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion. Solche Wunder haben sich in der ehemaligen DDR vermutlich zu Dutzenden ereignet, übrigens ähnlich wie im Westen, bloß dass dort die Leitkultur über vierzig Jahre hinweg die amerikanische war. Lustig am Eintrag im schlauen Buch, also in der Wikipedia ist der Umstand, dass die im Artikel von Kahl und Kalvelage aufgeführte Mitgliedschaft im Kampfbund für deutsche Kultur mit keinem Wort erwähnt wird. Das ist dann wieder sehr schön und zeigt, dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in den neuen Bundesländern durchaus noch nicht jene Gründlichkeit erreicht hat, wie dies im Westen Ende der sechziger Jahre der Fall war, als die Kinder der Nazi-Generation mit ihren Eltern gnadenlos abzurechnen begannen. In Weimar dagegen heißt die Straße am Goethe- und Schiller-Archiv nach wie vor Hans-Wahl-Straße.

Der Hauptvorwurf von Kahl und Kalvelage ist aber von Gewicht, nämlich eben die Schieflage zwischen der Verehrung des Dichterfürsten in Weimar und auf der anderen Seite der ebenso wuchtigen Realität des Konzentrationslagers Buchenwald. Offenbar ist sich mindestens die Klassik-Stiftung Weimar des Verhältnisses bewusst. Ihr Direktor schreibt, die in Weimar entwickelte Idee der Humanität müsse heute im Licht jenes Zivilisationsbruches reformuliert werden, für den der Name Buchenwald steht. Allerdings weiß ich hier wieder nicht, inwiefern die Idee der Humanität in Weimar entwickelt worden wäre; diese Idee ist unendlich viel älter und wurde in der neueren europäischen Kultur dreihundert Jahre vor Goethe wieder belebt, bevor sie dann in der Klassik wieder aufgenommen wurde. Wie auch immer, Hauptsache, wir haben davon gesprochen. Oder war da sonst noch was? – Ja, genau: Kaum beginnen die Fachleute in den Vorständen und im Präsidium, die tatsächlich vorhandenen und leider nicht auflösbaren Spannungen in irgend ein Deutsch zu fassen, das kommunikationstechnisch dann eben doch so abgestimmt sein sollte, dass es politisch korrekt ist, so stolpern sie sofort ins nächste Fetttöpfchen. Es wäre einfacher, wenn sie es einfach bleiben ließen. Allenfalls könnte man sich mit dem Hinweis begnügen, dass wenige Kilometer von der Hochburg der deutschen Klassik entfernt ein Konzentrationslager betrieben wurde, und zwar durchaus auch im Namen dieser Klassik. Und dann könnte man ganz einfach die Hans-Wahl-Straße neu benennen, das wäre auch nicht schlecht.

Seit ein paar Wochen sind die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs entbrannt in der Form eines Feuerwerks an gescheiten Artikeln. Am liebsten mag ich jene, welche sagen, dass der Krieg eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre. An zweiter Stelle folgen jene Autoren, welche die Situation in Europa im Jahr 1913/1914 vergleichen mit der heutigen Situation. Bravo, bravissimo. Dann kommen jene, welche sich überlegen, ob sie den Ersten Weltkrieg von nun an den «Großen Krieg» nennen sollen, weil er von den Engländern und den Französinnen so genannt wird. Ich selber schätze mich glücklich, meine Gemeinplätze zum Thema bereits vor einem Jahr an dieser Stelle präsentiert zu haben. Dementsprechend kann ich mich auch darauf konzentrieren, anstatt den 100. Geburtstag des Ersten den 75. Geburtstag des Zweiten Weltkriegs zu feiern. Auch wenn man sagen kann, dass der Erste Weltkrieg beziehungsweise die Kapitulationsbedingungen der Achsenmächte bereits den Grundstein gelegt haben für den Zweiten, muss man dem Zweiten Weltkrieg doch eindeutig den Vorrang geben vor dem Ersten. Damit ist auch die linguistische Frage geklärt: Der Große Krieg war nicht der Erste, sondern der Zweite Weltkrieg. Keiner hat seither mehr Verheerungen angerichtet, das wollen wir mal nicht vergessen.

Daneben blicken wir voraus auf die Olympischen Winterspiele in Sotschi. Eine wundervolle Meldung jagt die andere. Während der russische Präsident Medwedew laut und deutlich betont, dass Russland keinerlei Diskriminierung von Homosexuellen kenne und, falls es entsprechende Gesetze gebe, die vielleicht sogar in jüngster Zeit beschlossen worden seien, diese in keinem Fall angewendet würden, dass Russland mit anderen Worten ein wahres Paradies für Homosexuelle sei, kontert der Präsident von Sotschi, also nicht der Staats-, sondern der Stadtpräsident mit der Aussage, dass es in Sotschi schlicht und einfach keine Homosexuellen gebe, womit auch keinerlei Probleme mit den entsprechenden Gesetzen bestünden. Schließlich habe die Staatsduma auch ein Gesetz verabschiedet, wonach sich Wilderpel und Wildgänse in Zukunft nur noch außerhalb der Dienstzeiten der staatlichen Überwachungsbehörden paaren dürften, aber auch dieses Gesetz sei in der Praxis noch nie angewendet worden bis auf ein paar chinesische Emigranten, welche die Enten aber vor allem für Speisezwecke fangen würden. – Was für ein bodenständiger Unsinn doch das alles ist! – Weniger unsinnig, mindestens im logischen Sinne, erscheinen dagegen die Drohungen der internationalen Terroristenschar, die olympischen Spiele mit Anschlägen zu dekorieren. Auch hier laufen die politischen Ambitionen unter der Flagge des Islamismus, wobei der kaukasische Islamismus wohl völlig anders aussieht als jener im Hindukusch. Zwar müssten die Terror­kommandos mindestens in Bezug auf die Homosexualität völlig einig sein mit dem organisierenden Staat, aber offenbar besteht hier ein gewisses Differenzierungsvermögen. Und so warten wir mit einiger Spannung auf die Ereignisse; wenn der Bürgermeister von Sotschi noch ein paar intelligente Statements mehr abgibt, dann reisen vielleicht einige Delegationen gar nicht erst an. Bisher deutet allerdings nichts darauf hin.

Und dann flattern den Anlegern die Ohren, nachdem das Jahr 2013 eine Börsenperformance hingelegt hat wie noch selten eines zuvor. Jetzt scheinen die Märkte gesättigt, die Kommentare sind voll von Meldungen über drohende Schrumpfungstendenzen in den Entwick­lungsländern, auch China soll dieses Jahr nur noch um 5% wachsen, Brasilien und Indien und Südafrika zeigen eben­falls gewisse Schwächen, die US-amerikanische Wirtschaft boomt zwar gerade, aber der Dollar macht keinen gesunden Eindruck, ach, überall herrscht Katerstimmung, geprägt von der Hoffnung, dass es sich doch bitte, bitte nur um eine vorübergehende Delle handeln möge und nicht schon jetzt wieder um die nächste Finanzkrise, die ebenso unvermeidlich erscheint wie der nächste Frühling. Gleichzeitig ist die Stimmung in bestimmten Kreisen gar nicht mal so übel, beispielsweise bei den britischen Pensionskassen, welche sich mächtig darüber freuen, dass die BP-Aktie sich vom Erdöl-Unglück im Golf von Mexiko vor vier Jahren einigermaßen erholt hat. Im Moment laufen die Prozesslawinen gegen BP in der zweiten Phase, das heißt in der ersten oder zweiten Revisions­ins­tanz; der Konzern behauptet, dass sich verschiedene Privatpersonen zu Unrecht bereichern wollen an der Erdölkatastrophe, in dem sie Schäden angeben, für welche gar nicht BP verantwortlich sei, und wir sagen hierzu aus der bestehenden Distanz heraus bloß: selbstverständlich, gewiss. Jedenfalls sehen sich die Verantwortlichen der Pensionskassen darin bestätigt, dass sie die gesamte Altersvorsorge des Landes auf die Erdöleinnahmen abstützen, wovon ich wiederum dringend abraten würde; aber wenn im Land einmal eine Mentalität struktureller Dummheit herrscht, wie sie sich zum Beispiel in den aktuellen Anti-Europa-Kampagnen manifestiert, dann muss man halt einfach abwarten, bis sich dieses Fieber wieder legt. Vielleicht würde es helfen, wenn die Schotten in ein paar Monaten ihre definitive Unabhängigkeit beschließen täten und die betroffenen Teile von British Petroleum in Scottish Petroleum ummünzen täten, aber vorderhand gehe ich davon aus, dass es den Schotten rein rechnerisch besser geht, solange sie von England ein paar Pounds heraus pressen können dafür, dass sie sich schon wieder nicht abspalten. Wer weiß.

Trotzdem und zu Ehren des Ersten Weltkriegs noch dieses kurze Gedicht des kanadischen Oberstleutnants John McCrae, geschrieben im Krieg in Ypern in Flandern, dessen erste Strophe ich kürzlich in der Süddeutschen wieder gefunden habe:

In Flanders fields the poppies blow
Between the crosses, row on row,
That mark our place; and in the sky
The larks, still bravely singing, fly
Scarce heard amid the guns below.

We are the Dead. Short days ago
We lived, felt dawn, saw sunset glow,
Loved and were loved, and now we lie
In Flanders fields.

Take up our quarrel with the foe:
To you from failing hands we throw
The torch; be yours to hold it high.
 If ye break faith with us who die
We shall not sleep, though poppies grow
In Flanders fields.