"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Harmonie -

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Das Stück ist uralt. Erste Versionen gab es schon in der Antike, und bei Euch wird es seit 1945 ununterbrochen gespielt, in wechselnder Besetzung natürlich und unter wechselnden Regisseuren. Der hartnäckigste hat es volle 16 Jahre ausgehalten, und die aktuelle Bundeskanzlerin hat kürzlich auch schon ihre dritte Legislaturperiode angetreten im Schauspiel der Demokratie.
Audio
11:51 min, 22 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.02.2014 / 16:43

Dateizugriffe: 522

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.02.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Und schon wird gemeckert, vor allem von den Medien, weil die unter den Rahmenbedingungen einer großen Koalition mit sozialdemokratischem, man könnte auch sagen: skandinavischem Programm ihre Alltags-Routinen nicht mehr bedienen können. Tatsächlich: In gewisser Art und Weise leben wir beziehungsweise lebt ihr in Deutschland zu Beginn des Jahres 2014 im Zustand vollendeter und himmlischer Harmonie, also eigentlich in der absoluten Steigerung des skandinavischen Verhältnisses, nämlich in China. Nur die große Mauer fehlt.

Nun wird dies nicht lange dauern; im Mai werdet ihr zu den Europawahlen schreiten, deshalb beginnen die großen und die kleinen Parteien schon bald mit aller Kraft, euch aufzuzeigen, wie so sehr unterschiedlich sie doch alle sind. Aus ästhetischer Sicht, also aus der Warte des Theater­kri­ti­kers, dürfte dies zum Höhepunkt des laufenden Jahres werden. Wie werden sich die idyllisch har­mo­nierenden Koalitionspartner im Hinblick auf die Europawahl bekämpfen? Welche unüber­wind­li­chen Grundsatzdifferenzen werden ins Feld geführt, um dem Koalitionspartner eine vernichtende europäische Niederlage beizubringen? Auf der SPD-Web­seite gibt der EU-Abgeordnete Matthias Groote Auskunft: «Es geht um eine Richtungs­ent­schei­dung», sagt er, «Wollen wir den Kurs der Sparpolitik ohne wirtschaftliche Impulse fortführen oder wollen wir neue Arbeitsplätze schaffen und alte sichern? Die SPD steht für Letzteres.» Da haben wir’s. Aha und Oho.

Haupt­säch­lich aber will die SPD ihren Spitzenkandidaten Martin Schulz, den aktuellen Präsidenten des Europäischen Parlaments, zum Präsidenten der EU-Kommission machen. Dagegen erhebt die CDU zunächst in der Form ihres Generalsekretärs Peter Tauber vorsorglich mal Einspruch; da sich ab­zeich­net, dass die konservative EVP-Gruppe im EU-Parlament stärker vertreten sein wird als die Gruppe der Sozialisten und Sozialdemokratinnen, werde dieser Posten wohl auch von einem Kan­di­daten aus dieser Allianz besetzt werden. Allerdings wird es kaum der CDU-Spitzenkandidat bei den Europawahlen sein; David McAllister bleibt zwar trotz seiner Niederlage in der Landtagswahl in Niedersachsen im Februar 2013 in der CDU-Führungsriege, aber in Brüssel ist der Mann weit­ge­hend unbekannt, ganz im Gegensatz zu Martin Schulz, dem Silvio Berlusconi höchst­per­sönlich die Steigbügel gehalten hat, als er ihn in einem seiner berühmten Scherze mit einem Nazi-Lager-Kapo verglichen hat. Als Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im EU-Parlament und eben als Parlamentspräsident seit bald zwei Jahren ist dieser mit allen Brüsseler Bieren getauft, und das will etwas heißen. Ich gehe mal davon aus, dass sich auch die deutsche Koalitionsregierung der Tat­sa­che bewusst ist, dass Schulz ein nicht zu verachtender Trumpf in der deutschen Europa-Politik ist, und zwar längstens nicht mehr der SPD alleine, sondern des gesamten deutschen Gebildes. Dem­ent­spre­chend werden sich die Angriffe auf Schulz in engen Grenzen halten. Anderseits weiß das koa­gu­lierte deutsche Polit-Establishment auch, dass es nicht besonders einfach werden dürfte, die ein­fluss­reichste Position in der EU einem Vertreter des stärksten Mitgliedlandes zuzuhalten, und zwar nicht nur wegen des Jobs selber, der zunächst vor allem aus Zuhören und Synthetisieren besteht, erst dahinter folgen dann die relevanten Informationen und Beziehungen, die aber wie­der­um nicht rein exklusiv für den Kommissionspräsidenten bestimmt sind; vielmehr dürfte Martin Schulz schon heute über einen recht hohen Anteil dieser Informationskapitalien verfügen. Nein, das Haupt­argu­ment gegen einen Kommissionspräsidenten Schulz ist ganz einfach die Symbolik. Wenn in abseh­barer Zeit in Griechenland, Zypern, Spanien und Portugal und vielleicht demnächst auch noch in Italien ein deutscher EU-Hauptkommissar weitere Sparrunden ankündigt, dann schafft dies doppelt und dreifach böses Blut, und insofern würde ein EU-Kommissar Schulz sogar den Handlungs­spielraum eurer Regierung auf europäischer Ebene ein­schränken. Umgekehrt lassen sich solche Aspekte durchaus bewältigen, zum Beispiel mit einer schönen Theater-Inszenierung, bei welcher sich der deutsche EU-Kommissar der deutschen Bundes­regierung entschlossen entgegen stellt.
Wie auch immer: Solche Berechnungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Abstim­mungs­kampagne für das EU-Parlament, das man im übrigen trotz allem nicht unterschätzen sollte, denn genau dieses Parlament versucht seit einiger Zeit mit allen Kräften, seine Position gegenüber der Kommission zu stärken und eigene legislative Instrumente zu schaffen. Das ist eines der zentralen Anliegen des Parlamentspräsidenten Schulz; er hat kürzlich kritisiert, dass die häufigen Gipfel­tref­fen des Europäischen Rates im Prinzip die Arbeit des Parlamentes sabotieren würden. Ich bin mir aber sicher, dass sich die Parlamentsmitglieder in nächster Zeit ein Herz fassen und versuchen werden, die Macht ihres Gremiums entscheidend zu stärken; schließlich liegt dies partei­über­grei­fend im Interesse sämtlicher EU-Abgeordneter, soweit sie nicht gerade AntieuropäerInnen sind. Deshalb wird ihnen diese Stärkung auch gelingen, und vielleicht ist dies das entscheidende Argument, welches Martin Schulz an die spitze der Kommission verhelfen wird.

Die EU steht sowieso unter einem immer stärkeren Legitimierungsdruck, was eben nicht nur mit den antieuropäischen Bewegungen, sondern mit den objektiv bestehenden Mängeln des Konstrukts zu tun hat. Seit zwei Jahren verfügt sie über einen eigenen Petitionsmechanismus, den sie euro­päi­sche BürgerInnen-Initiative nennt. Ich meine mich zu entsinnen, dass ich euch bereits einmal erzählt habe von einer solchen Initiative, der EBI für ein bedingungsloses Grund­einkommen. Sie wurde vor eineinhalb Jahren lanciert, von der Kommission im ersten Anlauf gar nicht akzeptiert, in einer revidierten Form nochmals eingereicht und dann von der Kommission in einem derartigen Karacho genehmigt, dass es nach dem Startschuss nochmals zwei Monate dauerte, bis nur schon die entsprechenden Instrumente eingerichtet waren, das heißt, die InitiantInnen hatten eigentlich nicht 12 Monate Zeit, um die erforderliche 1 Million Unterschriften in mindestens 7 Ländern der EU zu sammeln, sondern in der Praxis bloß 10 Monate. Vor zwei Wochen ist die Sammelfrist abgelaufen, und statt der erforderlichen Million erreichte man nur 250'000 Unterschriften. Die Initiative ist also nicht zustande gekommen. Für die InitiantInnen sicher positiv war der Umstand, dass man in vollen 29 EU-Staaten sammeln konnte; das bedeutet, dass die europäische Grund­ein­kom­mens­be­we­gung doch einen großen Schritt nach vorn getan hat und von dieser ersten gemeinsamen Erfahrung profitieren wird. Besonders erfreulich waren natürlich all jene Länder, welche ihr Soll erfüllt haben. Eine spezielle Erwähnung verdient Bulgarien, das sein Quorum deutlich übertroffen hat, obwohl die Unterschriftensammlung erst relativ spät einsetzte, dann aber auch Unterstützung erhielt von den bulgarischen Gewerk­schaf­ten. Ebenfalls ihr Ziel erfüllt haben Slowenien, Kroatien, Belgien, Estland und die Niederlande, während die Nachbarländer Estlands Litauen und Lettland am Schluss der Rangliste liegen. In Deutschland kamen etwas über 40'000 Unterschriften zusammen, was ebenso überraschend wie enttäuschend ist; schließlich war allein die Grundeinkommens-Petition von Susanne Wiest an den Bundestag im Jahr 2010 von über 50'000 Menschen unterzeichnet worden. Offensichtlich ist es den InitiantInnen der Europäischen BürgerInnen-Initiative nicht gelungen, die bestehenden Differenzen innerhalb der Grundeinkommens-BefürworterInnen zu überwinden, namentlich die Kluft zwischen dem populären dm-Besitzer Goetz Werner zum einen und den AktivistInnen bei attac und bei der Linken zum anderen, die halt innerhalb ihres eigenen Lagers durchaus nicht unumstritten sind und deshalb den Umgang mit Goetz Werner nur mit Samthandschuhen und dem darunter versteckten Finger­spitzengefühl pflegen können. Und da die EBI in Deutschland von der politischen Linken getragen wurde, zeigten Goetz Werner und die seinen, von Benediktus Hardorp bis zu Sascha Liebermann, nicht die Spur eines Engagements für die angeblich gemeinsame Sache.

Aber dies sind Details; die BürgerInnen-Initiative als politisches Instrument der Europäischen Union steckt sowieso noch in den Kinderschuhen der allerkleinsten Größe. Sie ist völlig unver­bindlich, und vor allem sind die Themen, welche auf EU-Ebene überhaupt angegangen werden können, ziemlich beschränkt. Auch das Grundeinkommen betrifft an und für sich die Sozialpolitik, welche im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten liegt; die EU hat dazu zunächst mal gar nichts zu sagen. Und das illustriert recht treffend, wie lange der Weg noch ist bis zu einem wirklich demokratischen Europa. Im Gegensatz zur Organisation auf Ebene der Nationalstaaten muss man hier tatsächlich den Parlamentarismus bereits als einen Fortschritt bezeichnen, und insofern wün­sche ich dem Genossen Schulz viel Glück bei seiner Kampagne, zunächst bei den Wahlen und anschließend in Richtung Kommissionsvorsitz – mit diesem Vertreter hätte Europa wirklich etwas gewonnen.

Zum Schluss noch ein Bericht über zwei Film-Erlebnisse der letzten Tage: Erstens habe ich «Inception» zum zweiten Mal gesehen, diesmal am Fernsehen, und ich kann meine Lobhudeleien nach der ersten Sichtung, die ich auch an dieser Stelle vorgetragen habe, nur bestätigen. Das ist definitiv der beste Film, den ich in den letzten Jahren gesehen habe, und dass ich in der Zwischenzeit auch «Memento» vom gleichen Regisseur Chris Nolan gesehen habe, tut meiner Bewunderung für ihn keinen Abbruch. – Einen echten Gegenpol bildete der Streifen «Les garçons et Guillaume, à table!» Nach fünf Minuten begann ich zu gähnen, nach sieben Minuten zu weinen, und nach 11 Minuten startete ich einen Countdown über 4 Minuten, nach denen ich dann doch nicht zum Kinosaal hinaus rannte, sei es, weil ich mich an den Quatsch gewöhnt hatte oder weil es im subatomaren Bereich doch etwas besser wurde. Es geht hier um den Knaben Wilhelm oder eben, auf Französisch Guillaume, gespielt von einem 43-jährigen französischen Staatsschauspieler, der gemäß der offiziellen Version meint, er sei ein Mädchen, was zu enormen Verwirrungen führt in seiner Familie, in den Ferien und natürlich vor allem in all den Internaten, wo er gesömmert beziehungsweise überwintert wird. Dies alles natürlich vor dem Hintergrund eines französischen Haushaltes mit einer Hausfrauen-Mutter und einer Hausbediensteten und neben zwei Jungs, die eben Jungs sind, während der Guillaume stets als Schwuchtel diffamiert wird, obwohl er doch bloß ein Mädchen ist, das am Schluss sein wahres männliches Geschlecht entdeckt und glücklich seine Amandine heiratet, übrigens heißt mindestens bei uns eine Kartoffelsorte Amandine – Also wer solche Geschichten mag, dem kann ich nur gratulieren für seine wohl ausgebildete Sensibilität. Ich selber bin da einfach schockiert, wie man Vorurteile von vorgestern in einer Kulisse der 1950-er Jahre abhandeln kann unter dem Vorwand, es handle sich um eine Komödie. «Bundesrat, so nicht», pflegten wir früher jeweils unsere politischen Stellungnahmen zu übertiteln, und ich glaube, für diesen Film muss ich wieder auf diesen Kampfsatz zurückgreifen.

Kommentare
01.04.2014 / 12:37 die meike, Radio Dreyeckland, Freiburg
ausschnitte verwendet
danke! --> https://www.freie-radios.net/62926