"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ukraine & Demokratie -

ID 62303
 
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Ein seltsames Gewirr präsentiert sich seltsamen Geistern, wenn die vom Medienkonsens zuge­richteten Menschen in der EU auf die Ukraine gucken. Zunächst einmal haben sie den Eindruck, hier spiele sich etwas ab, auf das sie überhaupt keinen Einfluss haben.
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10:50 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.03.2014 / 20:43

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 03.03.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Dabei ist die EU seit mehr als zehn Jahren die verantwortliche Kraft, welche in der Ukraine die Orientierung nach dem Westen vorantreibt. Zwar wird nie ein EU-Beitritt in Aussicht gestellt, aber mit Assoziierungsverträgen und ähnlichen Zückerchen versucht das atlantisch orientierte Europa mit aller Kraft, das Land aus seiner traditionellen Orientierung nach Russland heraus zu reißen. Das zeigt einerseits die Vorteile davon, dass die EU nach wie vor ein vergleichsweise lockeres Gebilde ist: Die einzelnen Länder können den schwarzen Peter untereinander herum schieben oder an die EU höchstselber weiter reichen, das ist ausgesprochen kommod, vor allem, wenn man Russland nicht gleich direkt ins Gesicht spucken will. Ein weiterer Vorteil liegt eben darin, dass die Bevölkerung wegen der nach wie vor unge­heu­ren Entfernung zu den zentralen EU-Instanzen gar kein Bewusstsein für diese Dynamik entwickelt hat. Es wäre wirklich hübsch, wenn sich dies demnächst mal ändern würde, und vielleicht kann der deutsche Hauptkommissar Martin Schulz da einen Beitrag leisten, wenn er es tatsächlich an die Spitze der Europäischen Kommission schafft. Seine Kandidatur angekündigt hat er jedenfalls; aber ob die Mitgliedstaaten ausgerechnet einen Deutschen zum Nachfolger von Barroso wählen, das ist alles andere als sicher. Immerhin halte ich seinen voraussichtlichen Haupt-Gegner Jean-Claude Juncker für praktisch unwählbar. Mit ihm würde sozusagen die personifizierte EU-Bürokratie in den Sattel gehoben. Das wäre ein Affront des EU-Parlamentes gegen sich selber.

An der Haltung gegenüber der Ukraine wird dies nicht viel ändern. Wir erinnern uns daran, dass der wichtigste Förderer eines EU-Beitritts, Viktor Juschtschenko, bei den Wahlen im Jahr 2010 nur noch rund 5% der Wählerinnen-Stimmen auf sich vereinigte, und 2012 schaffte seine Partei Unsere Ukraine mit 1.11% nicht mal mehr den Einzug ins Parlament. Seine frühere und zweimalige und zwei Mal nur kurzzeitige politische Partnerin Julia Timoschenko war nicht so eindeutig für die EU wie Juschtschenko, sondern nur in dem Maße, wie es gerade ihren politischen und vor allem per­sön­li­chen Interessen entsprach; man geht allgemein davon aus, dass sie sich in der Politik massiv bereichert hat, unter anderem bei den verschiedenen Verhandlungen über die Erdgas-Liefer- und -Durchlieferverträge mit Russland. Davon abgesehen sind die Wechselspiele im ukrainischen Par­la­ment in den letzten 10 Jahren absolut unüberschaubar. Jedenfalls verlor Timoschenko die letzte Wahl im Jahr 2010, und seither heißt der demokratisch gewählte Präsident nun mal Viktor Janu­ko­witsch; dies bloß zur Erinnerung, weil man gegenwärtig ein so ungeheures Gewicht auf die De­mo­kra­tie in der Ukraine legt. – Übrigens bestätigte auch Janukowitsch regelmäßig, dass die Ukraine sich in Richtung EU bewegen wolle, wobei er offensichtlich auf Druck von Russland hin dann doch nicht so richtig vorwärts machte und im Dezember letzten Jahres die Unterzeichnung des EU-Asso­zi­ie­rungs­abkommens verweigerte, welches zuvor von der EU ausgesetzt worden war wegen der Haft­bedingungen von Madame Timoschenko; all das ist wirklich sehr unübersichtlich. Auch die Pro­teste auf dem Maidan, welche von den Medien nach dem arabischen Frühling erneut als Höhen­feuer der Demokratie dargestellt wurden, zeigten ein eigenartiges Gemisch von nationalistischen Kräften mit verschiedenen Fraktionen von prowestlichen Strömungen, unter denen natürlich vor allem der boxende Doktor Klitschko hervor stach, der unterdessen zur Gänze in der Bedeutungs­lo­sig­keit verschwunden ist. Vielleicht taucht er wieder auf.

Bei uns nennt man so was ein Puff, und es braucht mir niemand einzureden, dass all das aus­schließ­lich auf die dunklen Machenschaften der Oligarchen beziehungsweise der Industrieelite im Osten des Landes oder gar des russischen Geheimdienstes zurückzuführen ist. Umgekehrt steht eindeutig fest, dass wir hier nicht etwa der Auseinandersetzung zwischen einer Demokratiebewegung und einer Diktatur gegenüber stehen. Die Ukraine besitzt seit zirka zwanzig Jahren die ihr angemessene Form einer Demokratie. Darum geht es hier nicht, sondern um den Kampf um territoriale Einflussbereiche, den man in früheren Zivilisationsstufen noch mit der Armee aus­ge­foch­ten hat. Dass die Armee immer noch vorhanden ist, zeigt die russische Regierung auf der Krim, wo eben auch direkt militärische Interessen im Spiel sind; aber im Rest der Ukraine walten vorderhand noch die friedlichen Mittel der Diplomatie, des Posten­scha­chers, der Versprechungen und der privaten Bereicherung, kurz, es herrscht Gold­gräber­stim­mung für eine schmale Elite, die sich einen Deut darum schert, ob die Knete von Moskau kommt oder aus Brüssel beziehungsweise aus Warschau und Berlin. Dertweil befindet sich die EU ungebrochen auf Expansionskurs, obwohl dies ein weiteres Element dabei ist, die innere Struktur des Gebildes zu schwächen. Aber man kennt das ja aus der Physik: Manchmal sind labile Gebilde deutlich widerstandsfähiger als wohl gefügte, aber starre Systeme. Dass aber die EU für die Ukraine eine bessere Zukunft zu bieten hätte als zum Beispiel für Rumänien oder Bulgarien, das glaubt wohl kein Mensch, zu allerletzt die EU-Verantwortlichen selber. Aber eben, unter dem Banner der Demokratie ist Expansion ja geradezu ein Selbstzweck.

Der «Economist» hat in seiner jüngsten Ausgabe einen Essay über die Demokratie als Staatsform abgedruckt, der allerdings nicht allzu viel Neues bringt. Insonderheit geht er nicht näher auf das Problem ein, wie sich die repräsentative Demokratie in Richtung direkte Demokratie entwickeln soll und in diesem Zusammenhang, wie die Subjekte der direkten Demokratie die zur Ausübung ihrer Rechte notwendigen Voraussetzungen zusammen klauben sollen, also insonderheit die Fähigkeit zu denken, also Abstand zu nehmen von den Gegenständen, über welche sie sich äußert beziehungsweise zu welchen sie Beschlüsse fasst, sowie die Möglichkeiten oder die Grenzen, sich die notwendigen Informationen zu beschaffen. Hier schafft die hemmungslose PR und die Ersäufung konziser Darstellungen in einem Strom von sinnlosen und verdrehten Informationen echte Probleme. Korrekt ist dagegen auf jeden Fall die Feststellung, dass Demokratie nicht bei den Wahlen aufhört, sondern dort beginnt sie eigentlich erst. Wichtig sind daneben die angemessenen Institutionen, zum Beispiel die Gewaltentrennung, die garantierten Grundfreiheiten, aber auch der Respekt von Minderheiten. Der «Economist» beschreibt daneben die Demokratie als die Erfolgsstory der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die heute akut bedroht ist vor allem durch das Gegenmodell China, das laufend beweist, dass eine relativ straff geführte zentrale Verwaltung bei der Lösung von Problemen gewaltige Vorsprünge hat vor demokratischen Systemen, zumal, wenn sie sich wie in den USA laufend selber paralysieren. Trotzdem stellt er der Demokratie eine gute Prognose, sofern es gelingt, die Gewaltenteilung, die Kompetenzenverteilung und die Kontrolle zu gewährleisten und die Tendenz des Staatsapparates, sich immer weiter aufzublähen, in Schach zu halten. Er zitiert dafür einige gelungene Experimente, zum Beispiel in Finnland, welche mit unabhängigen Fachkommissionen Lösungsvorschläge für anstehende Probleme erarbeiten, vor allem bezüglich der Staatsfinanzen im weiteren Sinn und ganz prominent im Zusammenhang mit der Sozial- und Altersversicherung, wo die demografische Entwicklung die Finanzie­rungs­grund­lagen zu unterminieren beginnt. Aber eben, dem Kern des Problems, nämlich der Frage, wie weit sich ein Individuum in einem Staat demokratisch realisieren kann, dem geht der Economist gar nicht nach. Dabei entstehen immer wieder neue Vorschläge, zum Teil durchaus radikal, die unter dem globalen Titel «Demokratie 2.0» ganz unterschiedliche Formen des Zusammenlebens propagieren, zum Beispiel auf autarken neuen Wohninseln auf dem Meer und solche Späße. Diese Ideen weisen deutlich weiter in die Zukunft als der erwähnte Artikel im Economist.

Daneben haben wir den Freispruch für Euren ehemaligen Staatspräsidenten Christian Wulff zu vermelden, der nicht völlig überraschend kam, wie mir scheinen will; der vorsitzende Richter äußerte sich recht verärgert zur Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hannover. Es handelt sich übrigens um die gleiche Staatsanwaltschaft, welche für den Fall des öffentlich längst verurteilten und zurückgetretenen Bundestagsabgeordneten Edathy zuständig ist. Aber über Pädophilie darf man im Moment ja nicht einmal im Witz sprechen; es ist durchaus eigenartig, wie die famose öffentliche Meinung sich immer wieder neue Tabuzonen schafft. Tabuzonen heißt hier, dass es absolut unmöglich ist, in diesen Bereichen mit dem Mittel der Vernunft zu operieren; im Gegenteil wird hier die rationale Distanz zum Vornherein als Rechtfertigungsmittel für den Tabuverstoß diffamiert. – Aber insgesamt wird sich die Weltgeschichte auch von dieser Episode in Hannover nicht aufhalten lassen. Ebenso wenig wie von den Europawahlen; hier hat sich die Weitergabe von eigentlich gar nicht so super vertraulichen Informationen zum erstklassigen Kristallisationspunkt für Krach in der großen Koalition entwickelt, und wie ich vorausgesagt habe, brüllen die Medien jetzt um die Wette über die riesigen Zwistigkeiten zwischen den Partnern, ungefähr gleich laut, wie sie sich zuvor über den furchtbar langweiligen Frieden in dieser explizit super-sozial­demo­kra­ti­schen Regierung aufgeregt haben. Die Medien halt. Vermutlich muss ich mir einfach abgewöhnen, diese Instanz überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen. Vor ungefähr zehn Jahren begann jede durchschnittliche Kabarettnummer mit irgendeinem Quatsch im Fernsehen, mit Vorliebe aus der Werbung; heute ist es einfach etwas breiter, also kein Grund, sich aufzuregen.

Gerne hätte ich an dieser Stelle einen ersten Ausblick auf das Wirken von Kollege Renzi in unserem südlichen Nachbarstaat gegeben; aber er legt seine Reformprojekte in einer derartigen Geschwindigkeit auf, dass es mir unmöglich ist, ihren realen Gehalt zu beurteilen. Was ich immerhin sagen kann, ist, dass er mit dieser Geschwindigkeit möglicherweise auch die italienischen Seilschaften überrascht und mindestens ein paar Erfolge erzielen kann. Das wäre so oder so schon mal erfreulich. Die Italienerinnen würden es ihm danken, mindestens so lange, bis der Tatter­greisen-Clown Berlusconi wieder Dampf und Feuer macht in seinen Fernsehkanälen. Aber den hat Renzi im Moment offenbar kalt gestellt, und irgendwann einmal muss der dann ja auch seinen Hausarrest antreten. Was im Zeitalter des Internets nicht mehr allzu viel heißen muss, zugegeben, aber immerhin.