„Aus neutraler Sicht“ von Albert Jörimann - Tschetschenien

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Eigentlich habe ich es mir vor langer Zeit abgewöhnt, Romane und zum Teil auch nur Berichte aus Kriegsgebieten zu lesen. Ich ging davon aus, dass ich in etwa weiß, wie es hier zu und her geht, nämlich außerhalb all dessen, was ich in meinem Umfeld voraussetze und auch in mir selber toleriere.
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10:36 min, 17 MB, mp3
mp3, 224 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.03.2014 / 14:22

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.03.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das Knirschen der Amputationssäge bei Opfern von Landminen zum Beispiel wird nicht wesentlich anders tönen als früher, und dass das Quälen von Menschen auch heute noch eine anthropologische Konstante zu sein scheint, nehme ich weitgehend verständnislos zur Kenntnis und erspare mir ansonsten die Details. Sowieso ist mein Einflussbereich beschränkt; allenfalls kann ich mich mit Ansätzen auseinander setzen, welche bestimmte Personengruppen verächtlich machen, egal, ob Juden oder Türken oder Sozialschmarotzer. Es ist zur Genüge beschrieben worden, wie damit den Objekten zunehmend mehr Eigenschaften des Menschen oder mindestens als Mitglied der Gesellschaft abgesprochen werden. Allerdings gibt es solche Bewegungen bei uns im Moment eigentlich nicht, einmal abgesehen von ein paar Neonazis. Was es dagegen gibt, das ist eine öffentliche Meinung, die als Manipuliermasse der Boulevardmedien regelmäßig in kollektive Hysterien ausbricht; früher war dafür als Propagandabezeichnung der Begriff Volksverhetzung gang und gäbe und wurde vor allem von jenen verwendet, die selber darin Spezialisten waren.

Noch aus anderen Gründen enthalte ich mich der genaueren Beschäftigung mit Folter und Gräueln in Kriegsgebieten: Einerseits können die entsprechenden Berichte den Blick auf die wirklichen Motive und Ziele des Kriegs beeinträchtigen, wo nicht sogar völlig überdecken, und zweitens ist schon seit Beginn der Geschichtsschreibung immer auch Propaganda im Spiel. Der Mechanismus ist heute einfach: Wenn es einer Kriegsseite gelingt, die öffentliche Meinung gegen ihre Gegner aufzubringen, dann kann das eine ganze Reihe von Konsequenzen nach sich ziehen, die man direkt als Kriegserfolge bezeichnen kann, von der Erschwerung von Waffenlieferungen bis zu Embargos oder Repressionsmaßnahmen. Die Frage «Wem nützt es?» führt in der Regel viel weiter als das sprachlose Entsetzen über widerwärtige Verstöße gegen die Individuen. Und dann kann eine dritte Beobachtung in den Rang einer Feststellung erhoben werden: Die möglichst schreckliche Berichterstattung über Kriegsereignisse und -verbrechen gehört unterdessen zu unserer eigenen Frühstückskultur, sie hat ihren eigenen Berufsstand hervorgebracht, die Kriegsreporter, und vielleicht dienen diese Reportagen tatsächlich dazu, uns in unserem friedlichen Verhalten zu bestätigen; insofern hätte das sogar eine moralisch sinnvolle Komponente, aber aus Distanz betrachtet, ist sowohl der Berufsstand als auch unser Katastrophenkonsum eher widerwärtig – und insofern natürlich auch wieder moralisch.

Und trotz all diesen Überlegungen tritt hin und wieder die Realität aus der Kriegszone in der Form eben von Artikeln oder von Romanen in mein Bewusstsein. Den Grundstein für die entsprechende Disposition bildet wohl nach wie vor Nazideutschland, sei es wegen des Rückfalls in eine Brutalität, die man eher den Ur- als den Übermensche zutraut oder auch wegen der bürokratischen Organisation dieser Brutalität. Das volle Ausmaß der durchaus unbürokratischen Terrorherrschaft der Roten Khmer haben wir erst im Nachhinein erfahren; den Völkermord in Ruanda dagegen erlebten wir praktisch live mit, und der Ausbruch urtümlichen Hasses in Jugoslawien in den 90-er Jahren war wohl das zeitlich und geografisch am nächsten liegende Gräuelereignis für die europäische Zivilisation, und soviel ich weiß, haben die Jungs in der kurzen Zeit des Bürgerkrieges wirklich nichts ausgelassen. Man könnte einen Simplicissimus darüber schreiben.

Jetzt liegt bei mir aber doch wieder einmal solch ein Stück auf dem Tisch, ein Roman mit dem Titel «Die niedrigen Himmel» eines Anthony Marra. Er spielt im Tschetschenienkrieg, dem ebenfalls nichts an Schrecken mangelt, natürlich gebändigt und kanalisiert in der Form der handelnden Personen beziehungsweise der Identifi­ka­tions­­figuren. Die Hoffnungslosigkeit der gepeinigten Bewohnerinnen zwischen den Kriegsparteien wird noch akzentuiert durch die verschiedenen Restelemente einer früheren Kultur, die hin und wieder durchblitzen. Ein Leitmotiv ist das Verschwinden, das möglichst spurlose Auslöschen von Existenzen, Entführungen und Entsorgung an unbekannten Orten; das zieht sich hin bis zum Umgang der russischen Öffentlichkeit mit diesem Krieg. Der Kampf der malträtierten Menschen um ihre eigene Identität erstreckt sich weit über die körperlichen Misshandlungen hinaus.

Sodann habe ich Interviews mit zwei Personen gelesen, welche die Geschehnisse in den syrischen Foltergefängnissen dokumentieren. Ob es Wut oder Gründlichkeit ist, welche die Militärs, Geheim­dienst­ler und Gefängniswärter dazu bringen, ihren Opfer die Augen auszustechen, die Gesichter mit Säure zu verätzen bis auf die Knochen usw. usf., kann ich nicht beurteilen; ich frage mich bloß nach den Verhältnissen hinter diesen systematischen Menschenzerstörungen. Nehmen wir einmal an, dass unter der Folter in der Regel keine wichtigen Informationen heraus gepresst werden, warum machen die das denn trotzdem? Es muss doch um irgendein Klima der Angst gehen, das mit solchen Methoden geschaffen wird; aber was nützt das einem Land?

Ich habe ja Schwein: Ich muss diese Frage nicht beantworten. Ich kann es gar nicht, weil es mir schlicht unmöglich ist, mich in diese Situation zu versetzen. Und ich schaffe es auch nicht, eine Verbindung herzustellen zwischen Geopolitik, Regionalpolitik und dieser Ebene. Ich bin einfach ratlos.

Ein paar hundert Kilometer westlich von Grosny haben die Bewohner der Halbinsel Krim sich für einen Anschluss an Russland ausgesprochen. Das wundert wohl niemanden. Es bringt auch wirklich nichts, sich über einen allfälligen Verstoß dieser Abstimmung gegen das Völkerrecht zu be­schwe­ren. Gegen das Völkerrecht verstoßen auch unsere Amis, wann immer es ihnen beliebt. Dass sie sich nun doch darauf berufen, ist zwar schizophren, aber trotzdem recht sympathisch; man tut nach wie vor dergleichen, als würde man sich im Ernst daran halten, und das ist sicher schöner, als wenn man das Völkerrecht auch noch in aller Öffentlichkeit mit Füßen treten würde. Trotzdem darf man davon ausgehen, dass all die angedrohten Retorsionsmaßnahmen in absehbarer Zukunft still und heimlich wieder zurück­ge­nom­men werden, dass also die Nato mindestens den Anspruch der Russen auf eine ordentliche Marine­basis im Schwarzmeer anerkennt. Darum ging es hier nämlich, und um nichts anderes. Die Spätfolgen des Zerfalls der Sowjetunion zeigen sich in mannigfaltiger Gestalt, das ist übrigens auch ein Teil des Buchs «Die niedrigen Himmel», und wir tun gut daran, nicht alles mit unseren Maßstäben zu messen und vor allem weder explizit noch implizit Versprechungen zu machen, die wir dann doch nicht einhalten. Die ziemlich ausgedehnten innenpolitischen Span­nun­gen, die in der EU gegenwärtig bestehen wegen des Reichtumsgefälles beziehungsweise wegen der Angst der Bevölkerungen vor dem Verlust eines bescheidenen Wohlstandes an in Massen einwandernde Völkermengen aus dem Osten wie aus dem Süden erlauben es gegenwärtig gar nicht, echte Integrationsprogramme zu fahren. Ich bin ja mal gespannt, ob die neue EU-Kommission nach den Wahlen den Mut haben wird, in der Beziehung Klartext zu sprechen und einen Kurs vorzu­schlagen, der beides schafft: einerseits die diffusen Ängste des so genannten Mittelstandes zu beschwichtigen und anderseits im Hinblick auf eine Zukunft in zwanzig oder dreißig Jahren die richtigen Schwergewichte zu setzen. Das heißt in erster Linie die Stabilisierung der nach wie vor schwachen Länder Rumänien und Bulgarien, wobei ich mir hier einen argumentativen Bogen um Russland erlaube; die Länder des ehemaligen Jugoslawien werden sich zunächst wohl ziemlich angepasst verhalten, nicht zuletzt deshalb, weil schon seit Generationen sehr viele Menschen aus diesen Ländern in der EU leben und die entsprechenden Gepflogenheiten nicht nur bekannt, son­dern auch verwurzelt sind. Dann geht es aber vor allem um den Blick nach Süden, nach Nordafrika. Hier liegen gewisse Potenziale, die man nutzen sollte, vor allem in den französisch­spra­chigen Ländern Tunesien, Algerien und Marokko. Libyen scheint sich dagegen wieder zurückzu­ent­wickeln in eine Stammesgesellschaft. Vielleicht ist dies sowieso der aktuelle Entwicklungskonflikt in unserer Nachbarschaft, vielleicht zielen die scheußlichen Repressionsmaßnahmen in Syrien, die zuvor auch schon von Saddam Hussein im Irak berichtet wurden, tatsächlich auf die Brechung von Clan- und Stammesstrukturen; vielleicht besteht hier sogar eine gewisse Verwandtschaft zum Kaukasus beziehungsweise zu Tschetschenien, während die islamentalistischen Fundamentalisten in Pakistan und Afghanistan eindeutig in diese Entwicklungsepoche einzureihen sind.

Im Süden von Nordafrika, konkret in Uganda ist es dagegen den evangelikalen Fundamentalisten gelungen, ein Gesetz zum Verbot der Homosexualität durchzusetzen. Das erinnert doch stark an entsprechende Ansätze in Russland. Eigentlich sollten diese Fundamentalisten den Kamerad Putin zu ihrem Idol erklären und bei der Tea Party in den Vereinigten Staaten dafür sorgen, dass man den alten Knaben endlich unterstützt. – Aber das sind billige Scherze.

Daneben habe ich, wie wohl die meisten Leute im näheren und weiteren Umkreis, mit einer gewis­sen Verblüffung zur Kenntnis genommen, dass der Chef des FC Bayern die bedingungslose Ge­fäng­nis­strafe, zu der er wegen Steuerhinterziehung verurteilt wurde, schlicht und einfach akzeptiert. Selbstverständlich gab es sofort Spekulationen, wonach seine Vergehen in Tat und Wahrheit noch viel schlimmer gewesen seien, weswegen auch die Staatsanwaltschaft einen höheren Strafantrag gestellt hätte. Aber als erster Eindruck bleibt einfach der, dass da plötzlich einmal einer der Großkopfeten keine Fisimatentchen macht, keine Entschuldigungen sucht und eben die Strafe mehr oder weniger kommentarlos schluckt. Das ist für unsere Zeit absolut bemerkenswert, und ich spreche hier nicht in erster Linie von Berlusconi, sondern von all den anderen reichen Damen und Herren, für die dank den teuersten und gewieftesten Anwälten eben nicht die gleich langen Spieße gelten wie für die DurchschnittsbürgerInnen. Ich möchte sagen: Uli Hoeness war schon vorher nicht eine der größten Hassfiguren, auch wenn man kein Freund des FC Bayern war; mit dieser wirklich fast unerhörten Sorte von Bescheidenheit hinterlässt er mindestens vorderhand einen sehr guten Eindruck. Für einmal steht einer in einem guten Licht da, der ins Gefängnis geht. Kerker als moralischer Akt – das musste man auch erst wieder erfinden, und das wollte ich auch aus neutraler Sicht noch bestätigt haben.