"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - N'Djamena -

ID 62803
 
AnhörenDownload
Auf der Liste der Städte mit der höchsten Lebensqualität figurieren drei deutsche Metropolen weit vorne, nämlich München auf Rang 4, Düsseldorf an 6. und Frankfurt an 7. Stelle. Gebaut wird dieses Ranking von der Genfer Beratungsfirma Mercer.
Audio
11:15 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 25.03.2014 / 12:15

Dateizugriffe: 367

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 25.03.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Beim globalen Finanzzentrenindex dagegen ist Deutschland in den Top Ten nicht vertreten, wohl aber vier Städte aus Asien: Hongkong, Singapur, Tokio und Seoul, während die USA mit New York den Spitzenreiter stellen und mit Boston und San Francisco die Ränge 8 und 10 belegen. Aus Europa stehen London auf Platz zwei, Zürich auf Rang 5 und Genf an 9. Stelle. Neben der Lebensqualität misst Mercer auch noch die Kosten, und das ist dann wieder lustig: Die Liste der teuersten Städte im weltweiten Vergleich wird angeführt von, trari trara, Luanda in Angola. Die teure Silbermedaille holt sich Moskau, das hatte man mehr oder weniger gewusst, Bronze geht an Tokio, und auch Rang vier wird von einer afrikanischen Großstadt belegt, nämlich N’Djamena aus dem Tschad. – Man schüttelt kurz den Kopf: N’Djamena? Die Hauptstadt der Republik Tschad? Laut dem CIA Fact Book leben im Tschad mehr als 80% der Bevölkerung von Subsistenzwirtschaft; seit dem Jahr 2004 gibt es einige Erdölexporte, aber das Land ist stark abhängig von Zuflüssen von Geld aus dem Ausland, vor allem Remissen, also Geldzahlungen von ausgewanderten Tschadern; zudem haben die anhaltenden Unruhen im Osten bzw. im Sudan bzw. im Süden, nämlich in der zentralafrikanischen Republik, unangenehme Auswirkungen. Im Tschad selber fand der letzte Bürgerkrieg im Jahr 2008 statt. Daneben schreibt die CIA, dass das Investitionsklima im Tschad weiterhin unfreundlich bleibe wegen fehlender Infrastrukturen, des Mangels an ausgebildeten Arbeitskräften, einer gewaltigen staatlichen Bürokratie sowie wie üblich der Korruption. Zuletzt gespürt hat das die chinesische Erdölgesellschaft CNPC, die vom Staat Ende letzter Woche zur Bezahlung einer Buße von 1.2 Milliarden Dollar verdonnert wurde, und zwar wegen Verstößen gegen Umweltschutzauflagen. Wie auch immer: Das Bruttoinlandprodukt des Tschad betrug 2014 rund 14 Milliarden US-Dollars, pro Kopf 2500 Dollars, womit der Tschad auf Rang 184 der Weltrangliste figuriert, also ziemlich am Schluss. Und da soll N’Djamena die viertteuerste Stadt weltweit sein? – Nun ja, offenbar bilden die ärmeren Schichten nicht die Mehrheit der Konsumentinnen in der tschadischen Hauptstadt; vielleicht sind die Preise auch direkte Auswirkungen der Kriege in den Nachbarländern, vielleicht drängen sich die internationalen Waffenhändler in den Kaufhäusern, wer weiß denn das. Jedenfalls steht N’Djamena auf der Beliebtheitsliste von 67 afrikanischen Großstädten, welche die Zeitschrift La Jeune Afrique seit einiger Zeit anhand von Facebook-Likes erstellt, gerade mal an 57. Stelle, hat damit zwar gegenüber dem Vorjahr 3 Plätze gutgemacht, kann aber noch nicht als eigentliches Hauptreiseziel gelten, weder für Geschäftsleute noch für TouristInnen. – Angeführt wird diese Liste übrigens von Kairo, gefolgt von Casablanca, Tunis und Lagos, dann kommen Alger und Nairobi. Die teuerste Stadt der Welt, eben Luanda, steht hier auf Rang 15.

Daneben beschäftigt sich die Jeune Afrique natürlich mit den Massakern in Zentralafrika, wo man den einjährigen Geburtstag des Sturzes von Präsident François Bozizé feiert. Am 24. März hatte dieser das Land verlassen, nachdem die moslemische Seleka-Gruppe die Hauptstadt Bangui eingenommen hatte. Ihr Anführer Michel Djotodia löste den Verband umgehend nach der Machtergreifung auf; aber die bewaffneten Einheiten nahmen sofort den Kampf auf, vor allem gegen die christlichen Milizen, die sich nun zu bilden begannen. Anfang 2014 wurde die Seleka erneut aufgelöst; Djotodia kündigte seinen Rücktritt an, und seit dem 20. Januar ist Catherine Samba-Panza provisorische Staatschefin des Landes. Unterdessen wurden Truppen der Afrikaunion im Land stationiert, eine Streitmacht von 6'000 Mann, unterstützt von 2000 französischen Soldaten. Die Massen-Abschlachtungen haben seit der französischen Intervention anfangs Dezember aufgehört, aber ein Ende der Gewalt ist noch nicht in Sicht. Jetzt hofft Paris auf die Entsendung europäischer Streitkräfte, wenn auch nur in bescheidenem Umfang, und man hofft auch auf eine Ablösung des europäischen Militärs durch UNO-Truppen. Der Sicherheitsrat soll 12'000 Soldaten entsenden.

Im beliebten Kairo wiederum hat am Montag ein Gericht über 500 Mursi-Anhänger zum Tode verurteilt. Davon befinden sich allerdings nur rund 150 Personen in Haft; die anderen sind flüchtig. Am heutigen Dienstag gehen die Massenprozesse weiter; 700 Personen darunter zahlreiche Kaderangehörige der Muslimbrüderschaft, sind angeklagt, aber auch hier werden nur wenige vor Gericht erscheinen. So oder so: über 1000 Todesurteile, das erinnert ungemütlich an den alten Stalin, hier ist eine Justiz am Werk, die ganz offensichtlich nicht nach den Grundsätzen der Prozessführung vorgeht, wie wir sie kennen. Möglicherweise liegen die Begnadigungsgesuche im gleichen Couvert wie die Urteilsbegründung, aber eine Farce ist es allemal, die sich da vor unseren Augen abspielt und über welche man sich im Westen nur deshalb nicht echauffiert, weil sie sich gegen so genannte Islamisten richtet. Meinerseits gehe ich davon aus, dass so etwas die so genannten Islamisten gerade erst schafft. Dabei ginge es auch anders. Haben wir nicht in Tunesien soeben miterlebt, wie trotz starker muslimischer Präsenz in der Politik eine echt fortschrittliche Verfassung angenommen wurde? Die während langer Zeit tatsächlich islamistisch krakeelende Partei Ennahdha zeigt sich seither ziemlich gemäßigt. Selbstverständlich gibt es auch in Tunesien eine ernstzunehmende jihadistische Präsenz. Im Ministerium für religiöse Angelegenheiten geht man davon aus, dass 150 der insgesamt 5100 Moscheen im Land vom Staat nicht kontrolliert werden können, und ein Drittel davon sei in den Händen der radikalen Moslem. Gemäß der neuen Verfassung obliegt es dem Staat, die Neutralität der Moscheen und anderer Gotteshäuser zu garantieren, und das versucht die Regierung jetzt nach einem mehr oder weniger klaren Plan, und zwar werden dabei die Moscheen jeweils der Oberaufsicht eines gemäßigten Imams unterstellt.

Selbstverständlich ist auch in Nordafrika weiterhin alles in Bewegung, aber es gibt keinen Grund für Pessimismus. Vor allem müssen wir unsere eigenen Vorurteile im Zaum halten. So überschwänglich man den arabischen Frühling begrüßt hat – und übrigens ohne ihn entschlossen zu unterstützen, was mich auch schon wieder stark an das Vorgehen bei der Ukraine erinnert –, so schnell hat man die Flinte ins Korn geworfen, als die Bürgerbewegungen nicht sofort sämtliche Attribute einer europäischen parlamentarischen Bewegung annahmen. Das ist ja auch ziemlich bekloppt. Wie gesagt: Mit der neuen tunesischen Verfassung hat sich die Emanzipation in Nordafrika um ein gewaltiges Stück weiter verbreitet. Mit Rückschlägen ist auch in Zukunft zu rechnen, aber die Chance auf weitere Fortschritte besteht. Bloß ist Europa in seiner Verfassung vor den EU-Wahlen offenbar nicht im Entferntesten in der Lage, diese Chance auch nur wahrzunehmen, geschweige denn sie zu nutzen. Ich sage es an dieser Stelle immer wieder: Im Gegensatz zu den Transformationsgesellschaften in Osteuropa sind mindestens im frankophonen Teil Nordafrikas die Grundlagen für eine Zusammenarbeit mit der EU im gegenseitigen Nutzen vorhanden.

Im Süden von Nordafrika dagegen liegen die Dinge anders. Ich sehe keinerlei Möglichkeit, hier irgendwelche Diagnosen, Prognosen oder Ratschläge abzugeben. Umso spannender ist es, die Entwicklungen zu verfolgen, eben zum Beispiel mit der Präsenz der chinesischen Erdölfirmen. Die CNPC hat soeben eine zweite Bohrlizenz im Niger erhalten, und auch in Nigeria sind die Jungs schon längstens aktiv. Ein gleiches gilt für Luanda beziehungsweise Angola, und hier begreife ich die hohen Preise sowieso. Wirklich, hier werden ganz große Spiele gespielt, allerdings ohne Einbezug der Bevölkerung, wobei zu dieser Bevölkerung zu sagen ist, dass sie organisatorisch halt in der Regel einfach noch einen gewaltigen Weg zu gehen hat. Und auch das ist spannend; man darf es bloß nicht mit unseren Maßstäben messen.

Was damit gemeint sein könnte, kann vielleicht folgende Beobachtung illustrieren, die ich an mir selber getätigt habe: In irgend einer Schicht meines Bewusstseins verspürte ich eine gewisse Beruhigung, als ich vernahm, dass im Konflikt in der Zentralafrikanischen Republik auch christliche Milizen mit der gesamten Grausamkeit vorgingen, die sich halt nun mal bei den einfachsten Waffen am schönsten entwickelt, sozusagen am sinnlichsten. Seit dem Attentat auf die Zwillingstürme vom 9. September 2001 habe ich eigentlich immer nur islamische Fundamentalisten solch barbarischer Akte für fähig gehalten. Und schließlich wissen auch wir zivilisierten Christen­menschen, dass sich in Steinzeitgesellschaften halt jeweils die stärkeren Steinzeitschichten durchsetzen, was unsere Vorfahren bekanntlicherweise auf der ganzen Welt sehr effizient in Christianisierungs- und Kolonialgeschichte umgesetzt haben. Also war ich auf dieser erwähnten Bewusstseinsebene durchaus zufrieden damit, dass die Christen nicht auf der ganzen Welt und auf der ganzen Linie dem Islam immer nur die andere Backe hinhalten. – Sobald ich aber eine andere Bewusstseinsebene erklimme, sieht die Sache völlig anders aus, angefangen eben mit der gesamten blutigen Christianisierung mit dem Schwert bis hin zur vollständigen Weltherrschaft des christlich geprägten Kapitalismus, als dessen kleinfingrige Tentakel vielleicht die US-amerikanischen Drohnenangriffe erscheinen mögen auf Ziele, welche militärisch gefährlicher aussehen als eben die Macheten im afrikanischen Urwald. Und noch in der zentralafrikanischen Republik sieht es so aus, als wäre mindestens die Führungsspitze der muslimischen Seleka-Rebellen noch einigermaßen vernünftig geblieben, auch wenn sie ihre Truppen nicht mehr unter Kontrolle hatte. Und so habe ich halt an jedem Tag meinen persönlichen Kampf mit mir selber auszutragen, um die verworrenen Verhältnisse nicht in meinem Kopf noch stärker zu verwirren.