"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Europawahlen -

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Die Europawahlen bilden für die EuropäerInnen die einzige Gelegenheit innerhalb von vier Jahren, sich direkt zur EU zu äußern, na ja, halt über die Wahl der ParteienvertreterInnen ins europäische Parlament, das tra­di­tio­nellerweise nicht allzu viel zu sagen hat gegenüber den verschiedenen Gre­mien der Regierungs­chefs und Fachminister der Mitgliedländer sowie vor allem natürlich gegen­über der Europäischen Kommission.
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10:57 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 27.05.2014 / 10:15

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 27.05.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Während der übrigen Zeit, also drei Komma neunund­neun­zig Jahre lang, ist Europa ein Tummelfeld von Lobbyisten aller Art, von den Anhängern der Kunst des Rauchens bis hin zu Umweltfanatikern, ganz abgesehen von den VertreterInnen der jeweiligen In­dustriesektoren mit den respektiven Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Verbänden, welche oft ins glei­che Horn stoßen, tuten und blasen, denn es geht ja in Brüssel wie überall in erster Linie um Arbeits­plät­ze. Arbeitsplätze, die alle Mitgliedländer lieber im eigenen Staat haben möchten als beim Nachbarn. Das ist nicht ganz einfach, respektive die entsprechenden Beschlüsse sind hoch sensibel, und darum will sich auch niemand hinstellen und etwa die Verantwortung übernehmen für was auch immer. Und das ist mit ein Grund dafür, dass das Herz der europäischen Idee so etwas wie eine okkulte Sphäre bildet. Oder etwas populärer ausgedrückt: einen Saustall, den man dringend mal ausmisten müsste. Wobei der Stall des Augias, welcher diesem geflügelten Mistwort als Vorbild dient, ja gar kein Saustall war. Aber das ist den Politikerinnen und Politikern in Brüssel wieder mal so was von egal! Die machen ja eh, was sie wollen!

Nennen wir die Dinge beim Namen: Es geht ja gar nicht. Einen europäischen Plan mit Händen und Füßen vorzulegen unter Benennung konkreter Maßnahmen und Schwerpunkte, das wäre gleich­be­deu­tend mit dem politischen Selbstmord einer Einzelmaske. Denn die Abgeordneten in ihren Frak­tio­nen und Parteien sind ja angewiesen auf ihre demokratische Legitimation, eben bei den Europa­wah­len und durch das jeweilige Stimmvolk, und dieses Stimmvolk, oder, um auf das Augias-Bild zurückzukommen, dieses Stimmvieh wird nun mal mit nationalem Stoff gefuttert und nicht etwa eben mit einer tief verankerten europäischen Überzeugung. Ganz im Gegenteil: Je konkreter die Sache mit der Europäischen Union wird, desto weiter entfernen sich die Ein­woh­nerIn­nen der Mitgliedländer von der europäischen Idee und desto klarer tritt hervor, dass man die EU in erster Linie für einen Markt hält, auf dem man das Beste für sich und für die jeweiligen Interessengruppen und Länder herausschlagen muss. Von einem echten europäischen Gemeinschaftssinn kann keine Rede sein.

Insofern sind die Gewinne der nationalistischen Parteien vom Wochenende recht logisch, inklusive des Länderprofils: Von den drei großen Mitgründer-Ländern Frankreich, England und Deutschland leisten sich Frankreich und England gewaltige antieuropäische Sprünge, während Deutschland brav EU-treu wählte. Das zeigt in der hinreichenden Deutlichkeit auf, wie die Menschen die Gleich­ge­wich­te in der EU einschätzen. Deutschland gilt als der Gewinner innerhalb der EU zulasten vor allem eben von Frankreich und England. Wladimir Iljitsch Lenin hat einmal gesagt, dass Wahlen der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse seien; hier sind sie nun der Gradmesser für die Einschätzung der innereuropäischen Entwicklung. Sowohl die Briten als auch die Franzosen haben den Eindruck, dass sie von Deutschland zunehmend aus dem Rennen gedrängt werden. Allerdings sind die effektiven wirtschaftlichen Prozesse komplexer als das Verständnis der Bevölkerung, das ist ja klar; gerade Großbritannien ist mit seinem Finanzsektor absolut erfolgreich, und wenn es halt dabei die anderen Wirtschaftszweige vernachlässigt, ist das nicht Deutschland anzulasten.

Trotzdem ist das Stimmungsbild eindeutig: Die Entwicklung von Deutschland in den Jahren seit der Finanzkrise hat zu Verstimmungen und Misstrauen geführt, vor allem bei jenen Ländern, die sich traditionell als Partner oder als Gegner, aber in jedem Fall als gleichrangig mit Deutschland empfin­den. In den Niederlanden, deren Nationalismus sich aus anderen Quellen speist, haben die Rechtspopulisten dagegen eine Niederlage erlitten. Dänemark wiederum folgt dem französisch-englischen antideutschen Reflex. Die anderen Mitgliedländer dagegen kümmern sich weniger um die Konflikte in der Führungsgruppe; im Osten ist man froh um die Lokomotive Deutschland, und im Süden hängt man allzu stark an den EU-Kanülen, die Empörung über das deutsche Diktat in der EU hat sich schon wieder abgekühlt, wobei für Italien immerhin zu vermelden ist, dass die Sozialdemokraten mit 40% der Stimmen einen eher unerwarteten Erfolg einfuhren gegenüber dem EU-Kritiker Beppe Grillo, der es nur auf etwas mehr als die Hälfte schaffte, während die Langnase Berlusconi noch auf 17% kam.

Unter diesen Voraussetzungen ist auch die Kandidatur von Martin Schulz für das Kommissions­präsidium zu sehen. Zwar hat sich in Berlin die CDU für seinen Konkurrenten Jean-Claude Juncker ausgesprochen, aber es versteht sich von selber, dass Martin Schulz einen direkten Draht in die große Koalition hat und auch einen direkten Zugang zu einer alleinigen CDU-Regierung hätte, wenn er denn gewählt würde, und das werden die Französinnen und Britinnen mit aller Macht zu hintertreiben versuchen, während die deutsche Deputation offen, was die Sozialdemokraten angeht, sowie insgeheim, was die CSU angeht, den Schulz unterstützen wird. Jean-Claude Juncker dagegen erscheint mir als schlicht unwählbar; wenn die Bürokratie einen Vorzeige-Bürokraten braucht, dann ist es Juncker, und für das Affentheater einer Europa-Demokratie wäre die Besetzung des Kom­mis­sions­prä­sidentenpostens mit Juncker der höchstmögliche Störfall. Der war einfach schon zu lange da, und zwar überall, und deshalb geht der jetzt nicht auch noch als Chef der EU-Kommission. Die Wahl wird spannend, und das Ergebnis muss in erster Linie als Aussage zum Kräftedreieck Deutsch­land–England–Frankreich interpretiert werden.

In der Ukraine dagegen hat man offenbar erste Lehren aus der Geschichte gezogen. Nachdem sich Julia Timoschenko während ihrer Amtszeit ein paar hundert Millionen Euro zusammen re­giert hat, wählten die Menschen nun zum Vornherein einen Milliardär zum Präsidenten, der wird sie wenigs­tens nicht noch weiter abzocken, der hat seinen Klotz schon. Nun gut, ukrainische Schokolade ist mir kein Begriff, aber Geld hat ja bekanntlich keinen Geruch. Der Russe scheint mit Poroschenko leben zu können, nachdem er zu Beginn gefunden hatte, dass die Schokolade aus seinen Werken nicht nur fad schmec­ke, sondern gerade heraus Krebs erregend sei; vorübergehend wurde auch die Produktion in Poroschenkos Schokoladefabrik in Russland gestört. Aber mit Blick auf die Wahlen hat Towarisch Putin den Ton gemildert, die Schokolade gerade heraus als essbar bezeichnet und sowieso angegeben, dass man mit der ukrainischen Regierung zusammenarbeiten werde, auch wenn man nach wie vor der Ansicht ist, dass der Sturz von Viktor Janukowitsch illegal war. Aber damit beginnt man sich offenbar einzurichten. Und dann ein weiteres Ergebnis der ukrainischen Wahlen: Hayden Pannettiere ist jetzt Schwägerin des Stadtpräsidenten von Kiew, das ist ja auch schon mal etwas.

Übrigens habe ich bei meinen Bemerkungen zu den indischen Wahlen vergessen, einen ziemlich wichtigen Parameter anzugeben, den uns wie stets zuverlässig das CIA World Fact Book liefert, nämlich den Energieverbrauch. Indien weist für seine rund 1.2 Mia. Menschen folgende Werte aus für Produktion und Verbrauch: Elektrizität 985 Milliarden kWh bzw. aufgerundet 1 Milliarde Giga­watt­stun­den, Verbrauch 700 Mia. kWh bzw. 0.7 Mia. Gigawattsunden; Rohölproduktion knapp 1 Mio. Fass pro Tag, Rohölimporte etwa 3.3 Mio. Fass pro Tag; Erdgas Produktion 40 Mia. Kubik­me­ter, Verbrauch 65 Mia. Kubikmeter. Im Vergleich dazu China: Elektrizitätsproduktion 5.4 Bil­lionen kWh bzw. 5.4 Milliarden Gigawattstunden, Verbrauch 5.3 Milliarden Gigawattstunden; Rohölproduktion 4.2 Mia. Fass pro Tag, Rohölimporte 5.6 Mio. Fass pro Tag; Erdgas Produktion 117 Mia. Kubikmeter, Verbrauch 150 Mia. Kubikmeter. Für die Vereinigten Staaten lauten die Zahlen Elektrizitätsproduktion 5 Billiarden kWh bzw. 5.4 Milliarden Gigawatt, Verbrauch 3.9 Milliarden Gigawatt, Rohölproduktion 11 Mio. Fass pro Tag, Rohölimporte 9.2 Mio. Fass pro Tag, wobei diese Zahl für das Jahr 2010 gilt und heute tiefer liegen dürfte; die Produktion von Erdgas steht in den USA bei 681 Mia. Kubikmeter und der Verbrauch bei 690 Mia. Kubikmeter. Die USA verbrauchen also nach wie vor drei Mal so viel Erdöl und Erdgas wie China, obwohl ihre Bevölkerung nur einen Drittel der chinesischen ausmacht; Indien dagegen konsumiert weniger als die Hälfte der Energie von China bei einer vergleichbaren Einwohnerzahl. Energie ist nicht erst seit vorgestern ein treibendes Element der Weltpolitik; man erinnert sich an die Erdölkriege der Erdöl-Unternehmerfamilie Busch, und gegenwärtig befindet sich China diesbezüglich auf offenem Aggressionskurs gegenüber seinen direkten Nachbarn, nachdem das Land enorme Anstrengungen unternommen hat, seinen Nachschub auch anderweitig auf der Erde zu sichern, namentlich in den noch nicht definitiv abgesteckten Claims in Afrika. Dies gilt für Indien offensichtlich nicht.

Sodann scheint Pfizer von seinem Angebot für AstraZeneca zurückzukrebsen. Das bedeutet allerdings nicht, dass damit die Welle an Übernahmen bereits wieder abgeflaut wäre, aber mindestens die Attacke auf AstraZeneca kommt nicht zustande.

Dafür hat der türkische Ministerpräsident Erdogan Euer Fernseh- und Fasnacht-Epizentrum Köln besucht. Man weiß nicht mehr so recht, was man von ihm halten soll. Nach einem Jahrzehnt mit echten Reformen und Modernisierungen hängt er seit einiger Zeit jetzt den autoritären Staatenlenker heraus. Die Verbote der sozialen Medien sind als solche bloß lachhaft, was die Fragestellung noch verschärft. Immerhin kann man zu seinen Gunsten vorbringen, dass im Nachbarland ein Bürgerkrieg tobt, was möglicherweise tatsächlich einen Bedarf nach schärferen Kontrollen schafft, denn die Türkei besteht bekanntlich nicht nur aus Istanbul. Trotzdem fällt es schwer, seine Haltung nachzuvollziehen, und zwar nicht zuletzt wegen der Korruptionsvorwürfe, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einfach eine Propaganda-Erfindung seiner Gegner sind. Insgesamt aber ist mindestens im Moment schlicht und einfach keine Alternative zu Erdogan in Sicht. Den alten Filz möchte man bitte nicht wieder zurück haben, da riecht der neue, so, wie er sich im Moment abzeichnet, doch einfach noch ein Stück besser.