"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - HWWI

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Für einmal gehen die Meinungen am Hamburger Weltwirtschaftsinstitut, das bekanntlich auch einen Ableger in Erfurt hat, etwas auseinander. Der ehemalige Leiter Thomas Straubhaar gibt den Zusatz-Investitionsbedarf in die Verkehrsinfrastrukturen, also Straße, Schiene und Wasser, mit mindestens 7 Milliarden Euro pro Jahr an und beruft sich dabei auf die Kommission «Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung».
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10:29 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.06.2014 / 10:38

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.06.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sind mindestens 10 Mia. Euro pro Jahr notwendig für die Erneuerung und den Ausbau des Netzes. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln berechnet die notwendige Summe für die Auflösung des Investitionsstaus bei der Infrastruktur auf 120 Mia. Euro in den nächsten 10 Jahren, und zwar zu je einem Drittel für Straßen und Brücken, für die Modernisierung der IT-Netze sowie für den Ausbau der Stromnetze. Straubhaar beklagt sich, dass die große Koalition für die Legislaturperiode nur gerade 5 Milliarden Euro zusätzlich eingeplant habe und stattdessen die reichlichen Mehr­ein­nah­men für den Gegenwartskonsum verplane, namentlich für die Rente mit 63 Jahren für all jene, die 45 Jahre und mehr gearbeitet haben, was pro Jahr 10 Mia. Euro zusätzlich koste.

Dem gegenüber spricht der aktuelle Forschungsdirektor des HWWI Michael Bräuninger von einem zusätzlichen Investitionsbedarf für die Infrastruktur von 50 Milliarden Euro, der aber über die nächs­ten zehn bis zwanzig Jahre verteilt werden müsste. Damit lägen die notwendigen zusätzlichen Mittel bei unter 5 Mia. Euro im Jahr, und dies könne ohne weiteres mit einer Umschichtung im Bundeshaushalt abgedeckt werden.

Man sieht hier innerhalb des HWWI den Konflikt in seiner ganzen Pracht: Einerseits der ehemalige Direktor, dessen Beitrag in der zweifellos nicht linkslastigen Zeitung «Die Welt» erschienen ist unter dem Titel «Weniger Sozialstaat, dafür bessere Straßen», anderseits der Forschungsdirektor, welcher die Forderung nach einem Ausbau der staatlichen Investitionstätigkeit mindestens nicht direkt verbindet mit einer Attacke auf die Sozialleistungen. Dabei sind solche Verbalattacken von bürgerlichen Ideologen durchaus an der Tagesordnung. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat natürlich nicht zufällig das Höchstgebot von 120 Milliarden für den vermuteten Infrastruktur-Investitionsbedarf eingereicht; die 5 Mia. Euro jährlich, wie sie Professor Bräuninger errechnet, erscheinen bei einem Bundeshaushalt von 300 Milliarden Euro tatsächlich als Seitenposten, während 120 Milliarden da doch ganz anders tönen, auch wenn sich das ganze dann etwas kleinlaut auf 10 Jahre verteilt. So geht nun mal Ideologie. Angesichts der per Saldo doch eher geringfügigen Differenzen zwischen 5 Milliarden, 7 Milliarden und der offensichtlich übertriebenen 12 Milliarden stellt sich die Frage, was das Gerangel soll beziehungsweise ob hier noch eine andere Kraft am Werk ist als der ewige Schauprozess, den sich die Arbeitgeber, die Gewerkschaften und die politischen Parteien und Institutionen täglich gegenseitig machen. Und die Antwort lautet: nein. Es geht tatsächlich überall um ein paar hundert Millionen oder um eine oder zwei Milliarden pro Jahr, die mit einer gewaltigen Ideologie-Perücke dramatisiert werden.

Geschätzte Hörerinnen und Hörer, in einer Zeit, in welcher das klassische Theater seine Legiti­ma­tions­­probleme gegenüber Film, Funk und Fernsehen schon so weit ausgereizt hat, dass sich nie­mand mehr darum kümmert beziehungsweise dass die zuständigen Länder und Kommunen die Sub­ven­tionen kommentarlos abdrücken, in einer Zeit sodann, in welcher das freie Theater seit nunmehr fünfzig Jahren damit beschäftigt ist, auf neue gültige Formen zu hoffen aus der anhaltenden Nega­tion der bestehenden Formen, in einer Zeit also der vollendeten und endgültigen Krise des Theater­schaf­fens in seiner bekannten Form möchte ich euch dazu ermuntern, eure Aufmerksamkeit vermehrt auf die Gratisvorstellungen der Ideologieschleudern zu richten. Nicht etwa mit dem Zweck, die Inhalte ernst zu nehmen, davon möchte ich im Gegenteil strikt abraten, aber ich glaube, die Öffentlichkeit hat noch nicht den richtigen ästhetischen Sinn entwickelt für die rituellen Ein­sätze von bewusst entstellten oder bewusst parteiisch hergestellten wissenschaftlichen Ergebnissen im Interesse einer Sache, von der nicht mal mehr die prominentesten Vertreter selber eine Ahnung haben. Die Protagonisten auf der bürgerlichen Seite beklagen sich schreiend und brüllend über die viel zu hohen Sozialausgaben, und die Protagonisten auf der linken Seite beschwören mit vor Betroffenheit zitternder Stimme die Szenarien von Armut, Hunger und Elend, wie wir sie nicht einmal von Hartz IV her kennen. Allerdings ist es leider ein fester Bestandteil dieses Staats­theaters, dass die Eck- und Grundsteine der ideologischen Auseinandersetzung tatsächlich bei Hartz IV zu finden sind; nirgendwo ist der Widerstand gegen Sozialausgaben verbissener als dort, wo es darum geht, Hartz IV um 5 Euro pro Monat zu erhöhen. Das zeigt einerseits den massiv symbolischen Gehalt sowohl von Hartz IV als auch der entsprechenden Auseinandersetzung; anderseits wäre es ja auch denkbar, dass auch die linke Seite mal ihre Rolle in diesem Armutstheater einfach streicht und sagt, fertig jetzt, unter einem Regelsatz von 600 Euro ist Hartz IV mit uns nicht mehr zu machen. Aber das geht ja nicht, denn die Linke ist auf diese Auseinandersetzung ebenso angewiesen wie die Rechte. Diese interpretiert ihre Rolle durchaus frei und stellt zum Beilspiel die Webseite arm-und-reich.de ins Internet, auf welcher laut und deutlich der Beweis erbracht wird, dass die Starken die Schwachen stützen. Subtext: Die Armen beuten die Reichen aus! Oder auch: Die Armen müssen den Reichen die Schuhe küssen. Im Original heißt dies so: «Mit steigendem Einkommen nehmen die bezogenen staatlichen Leistungen ab, während auf der anderen Seite die Abgabenlast kontinuierlich wächst.» Solche Torheiten lassen sogar bei mir meine alten Theaterreflexe erwachen und darauf hinweisen, dass nach wie vor gilt, dass Armut und Reichtum nicht die Früchte der jeweils eigenen wirtschaftlichen oder ideologischen oder Theater-Leistung sind, sondern das Ergebnis der Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft.

Lars Peter Feld zum Beispiel, der am 5. Juni 2014 dem Infodienst des Instituts der deutschen Wirtschaft ein Interview mit dem schönen Titel «Das geht an den Fakten völlig vorbei» gegeben hat, dessen Inhalt sich mir nicht erschließt, weil ich kein registrierter Nutzer dieser Infodienste bin und damit keinen Zugriff auf den Volltext habe, was ich aber dankbar hinnehme, weil ich damit den Interviewtitel in seiner ganzen Aussagekraft allein hier strahlen lassen kann, und zum Beweis dieser Strahlkraft wiederhole ich ihn nochmals: Das Interview lautet also: «Das geht an den Fakten völlig vorbei!» – Da wissen wir doch gleich, was beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln Sache ist. Interviewt wurde also Lars Peter Feld, der im Jahr 2011 vom damaligen FDP-Wirtschaftsminister Rainer Brüderle in den Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Ent­wick­lung berufen wurde, was mit Sicherheit ein Gremium von absolut exzellierender unkender Bra­mar­ba­siererei ist. Feld dürfte für seine Tätigkeit für diesen Rat und für seine Tätigkeit als Professor für die Wirt­schaftspolitik an der Universität Freiburg und als Leiter des Walter Eucken Instituts daselbst sowie als stellvertretender Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium zu jenen gehören, die relativ viel Geld an den Staat ab­drüc­ken müssen, weil er nämlich als mehr­heit­lich vom Staat angestellter und bezahlter Unkologe keine echten Möglichkeiten zur Steuerflucht und Steuerhinterziehung oder auch nur zur Steuer­opti­mie­rung besitzt. Immerhin kann man sagen, dass trotz steigender Abgabenlast bei ihm die bezogenen staatlichen Leistungen mit steigendem Einkommen nicht abnehmen, sondern konstant bei 100 Prozent bleiben, und zwar in der Höhe von, sagen wir mal einer halben Million Euro brutto im Jahr, von welcher er dann eben einer Hälfte verlustig geht, die er an die Armen abgibt.

Was für ein Theater! – Übrigens, aber dies nur am Rande, gehört Lars Peter Feld zu den so genannten Ordoliberalen aus einer der Werkstätten der Universität St. Gallen – in anderen Manufakturen dieser Universität werden nach wie vor Investment Banker hergestellt, welche sich mit anderen Fragen beschäftigen als jener nach der Höhe der Abgaben an den Staat, wie man weiß –, und er hat mit anderen St. Gallern wie z.B. dem emeritierten Gebhard Kirchgässner publiziert, hat Auftritte im Vorzeigemagazin der Schweizer Ordoliberalen mit dem Titel «Schweizer Monat» und schon vor über 10 Jahren einen Preis des Münchner International Institute of Public Finance erhalten, in welchem heute unter anderem die St. Galler Professorin Monika Büttler im Vorstand wirkt. Der Schweizer Monat wiederum wird geprägt vom Liberalen Institut, in dessen Umfeld der ehemalige Wirtschaftsguru der Neuen Zürcher Zeitung Gerhard Schwarz wirkte, der heute den Denkleoparden der Schweizer Wirtschaft, nämlich Avenir Suisse, leitet oder überhaupt darstellt, mindestens aber repräsentiert, und vor fünf Jahren hielt Gerhard Schwarz in Erfurt die Wilhelm-Röpke-Vorlsung Nummer 3 auf Einladung, na ja, eben des organisierenden Hamburger Weltwirtschaftsinstituts bzw. dessen Zweigstelle in Thüringen bzw. des damaligen Leiters Thomas Straubhaars, an den man sich im Zusammenhang mit dem Solidarischen Bürgergeld eures ehemaligen Ministerpräsidenten Dieter Althaus erinnert und der jetzt eben findet, man würde gescheiter die Infrastrukturen reparieren als den Armen Geld in den Arsch zu stopfen.

Alles Theater, also, und wenn ich dem anderen HWWI-Professor Bräuninger Glauben schenken soll, wozu ich durchaus bereit bin, dann sind die beiden Bereiche Infrastrukturen und Sozialpolitik durchaus nicht so unvereinbar, wie dies dem Thomas Straubhaar und den anderen haarsträubend liberalen Ideologieprofessoren erscheint. 5 Milliarden Euro jährlich, das werdet Ihr ja doch noch zusammen kriegen, und wenn dafür schließlich trotz allem noch die Maut aktiviert werden müsste, welche der bayerische Möchtegern-Despot und Ministerpräsident Seehofer vor nicht allzu langer Zeit einmal ausschließlich für Ausländer einführen wollte. Infrastrukturen sind nun mal ziemlich wichtig für einen funktionierenden Staat, das könnte Frau Merkel übrigens mal in ihr Handy sprechen, und zwar auf Englisch, sofern das nach wie vor abgehört wird, denn die US-Amerikaner sind besonders stark im Vernachlässigen ebendieser Infrastrukturen. Und strikt besehen, bestehen Infrastrukturen natürlich nicht nur aus Straßen- und Schienenverbindungen und aus Strom- und Internet-Netzwerken, sondern auch aus den entsprechenden Institutionen für den sozialen Ausgleich, und zwar im allerbesten sozialdemokratischen Sinne gemäß der Politik von Herrn Dr. Helmuth Kohl, die seit 1982 mehr oder weniger kontinuierlich fortgesetzt wird mit einem kleinen neoliberalen Intermezzo unter Gerhard Schröder 1998 bis 2005.

Kommentare
17.06.2014 / 15:31 Kurt, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
gespielt im Di Sonar 17.6
Danke !!!