"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ein Existenzbeweis -

ID 64800
 
AnhörenDownload
Eigentlich werde ich beim Grenzübertritt, der bei einem Schweizer wegen der Kleinheit des Landes nun mal per Definition schneller eintritt als z.B. bei einer deutschen Staatsangehörigen, seit Jahren nicht mehr kontrolliert, das heißt, erstens mal kommt schon gar niemand mehr vorbei, und wenn es dann zweitens doch mal der Fall ist, dann geht der Blick des Grenzwachtkorps über mich hinweg wie über das Polster der Bänke, auf denen ich sitze.
Audio
13:00 min, 30 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 01.07.2014 / 14:20

Dateizugriffe: 560

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 01.07.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Manchmal kommen mir Erinnerungen an die Vergangenheit hoch, die tatsächlich an Wehmut grenzen; was wurde man noch Ernst genommen vor der Einführung der Personenfreizügigkeit! Heutzutage muss man schon ein arabisches oder min­des­tens bulgarisches Aussehen haben, um auf dem Radar der ZollbeamtInnen aufzutauchen, eben: wenn sie überhaupt aufkreuzen. In solchen Fällen allerdings ergießt sich über die paar weni­gen so Aussehenden oder überhaupt über diese Aussehenden, denn die anderen und eben unter ihnen auch ich haben offenbar nicht einmal mehr ein Aussehen, derart umfassend wird man igno­riert heutzutage, auf die paar Aussehenden dagegen ergießt sich der ganze Verdacht, der sich früher ungefähr gleichmäßig auf so ziemlich eintausend Passagiere eines internationalen Zuges verteilt hatte. – Aber das ist ein anderes Kapitel. Anfangs des Jahres beziehungsweise genauer im schönen Monat Februar, welcher nur deswegen schön ist, weil alle Monate per Definition schön sind, indem sie einfach sind; was ist, ist, und das Seiende ist per pure Existenz schön, capito? – Also: Im Februar trat bei mir also wieder so ein Grenzübertritt ein, und zwar auf einer Zugfahrt, bei der ich einer Frau gegenüber saß, wel­che das Buch „Der Wolken-Atlas“ las, das ich nur in der Film-Version kenne, die mir ausgezeichnet gefallen hat, während die Frau laut eigenen Angaben mit dem Buch Mühe hatte, u.a. wegen der gestelzten Sprache in jenen Teilen, die im 18. oder 19. Jahr­hun­dert handeln, was auch mir nicht einleuchtet, weil eine solche Sprach-Fiktion dann ja auch in jenen Teilen aufgerichtet werden müsste, die im Jahr dreitausendfünfhundert herrschen, und, unter uns, eine solche Sprache kann man sich nun einfach nicht zusammenrauchen oder sonstwie herbei halluzinieren, dafür ist unsere Vorstellungskraft einfach unrettbar zu stark in der Gegenwart verankert, also warum denn die Macke für die Fiktion aus der jüngeren Vergangenheit?

Aber Schwamm oder Schwammerl auch darüber. Jedenfalls befand ich mich auf einem sehr kurzen Stück Eisenbahn zwischen dem österreichischen Bregenz und dem bayerischen Lindau, als eine Zweierpatrouille der bayerischen Grenzwacht durch den Gang schritt auf der Suche nach Aus­sehenden, und, meiner Treu, der Blick des einen blieb auf mir haften. Vielmehr erinnerte er sich offenbar an irgend ein Detail, nachdem er mich bereits passiert hatte, ein Haar im Ohr vielleicht oder die etwas schief sitzende Lesebrille, weil mir bei der Reise-Lesebrille schon vor einiger Zeit der linke Nasen-Aufsetzsattel abgebrochen ist, auf jeden Fall war der Zöllner bereits an mir vorbei geströmt und sein Begleiter auch, als er sich umdrehte und mich fixierte und zurückruderte. Ich überlegte kurz: Habe ich Schwarzgeld in den Unterhosen? Waffen trage ich eh keine mit Ausnahme eines spanischen Klappmessers, das hoffentlich nicht unter irgendein Produktions- oder Ausführ-Embargo fällt. Gut, ich hatte eine Wochen­ra­tion Marihuana auf mir, aber in der Form von, meiner Ansicht nach höchst unauffälligen Keksen, die wir zuhause einmal im Monat mit großer Liebe und Fachkenntnis zubereiten, und da die beiden keinen Wach-, Spür- und Schließhund dabei hatten, hielt ich die Wahrscheinlichkeit, dass sie diese Kekse in der Form von Wiener Kringeln als Drogenträger identifizieren könnten, für minimal. Da­ne­ben führte ich in erster Linie Unter- und sonstige Ersatzwäsche mit mir, das Gefahren- bzw. Gefährdungspotenzial erschien also auf Anhieb sowohl für den deutschen Staat als auch für mich gering. Der Grenzwächter fragte mich nach der Fahrkarte und nach dem Personalausweis, die ich ihm anstandslos überreichte. Was ich in München vorhätte, wollte er wissen. Was kann man in Mün­chen Gefährliches vorhaben, fragte nun ich mich selber. Da war doch mal was mit einem Paläs­ti­nen­ser-Anschlag auf die israelische Sportler-Delegation an den Olympischen Sommerspielen, aber das ist bei Gott über 40 Jahre her. Der OPEC-Anschlag erfolgte etwas später, und das war meines Wissens sowieso in Wien. Hoeness? Meint der den Hoeness? Mir erschloss sich schon wieder kein Gefahrenpotenzial, sodass ich wahrheitsgetreu antwortete: «Ich verbringe dort ein paar Tage Urlaub.» Jetzt mischte sich auch sein Kollege ein und wollte wissen, wie viel Geld ich dabei hätte. Meine Antwort, vierhundert Euro, schien ihn zu überzeugen. In der Zwischenzeit hatte der erste Verbindung mit der Zentrale aufgenommen und gab telefonisch meine Personalien und Nummer der Identitätskarte durch, zwecks Abgleich mit Interpol und Intergrenz und was weiß ich noch alles. Es trat ein Moment des Schweigens ein, den ich benutzte, um meiner Befriedigung Ausdruck zu ver­lei­hen: «Bei so einer Kontrolle fühlt man sich doch immer gleich besser. Die Welt nimmt einen wahr, beziehungsweise: Man wird Ernst genommen, sozusagen.» – «Wie meinen sie das?», fuhr mich der Wortführer an. «Na, so, wie ich's sage, wie so häufig», gab ich zur Antwort. «Ein Schriftsteller hat schon vor zweihundert Jahren mal geschrieben: Wie viele Königreiche wissen von uns nichts!, und so ergeht es dem modernen Menschen doch häufig, wenn er nicht gerade aus- und auffällig wird. Da tut eine solche Kontrolle zwischendurch mal richtig gut. Es ist so etwas wie ein Existenzbeweis, wenn auch nicht direkt von einem fernen Königsreich geliefert, aber doch immerhin von der bayri­schen Grenzpolizei.» Seine Miene verdüsterte sich. «Wissen Sie, wir tun hier unsere Pflicht, und dazu gehört es nicht, uns veräppeln zu lassen von ein paar Klugscheißern, die meinen, bloß weil sie den „Komet“ von Jean Paul gelesen haben, seien sie etwas Besseres als unsereins!» – Ich saß da mit offenem Maul, fing mich aber bald wieder und beeilte mich um eine Korrektur: «Ich wollte Sie in keiner Art und Weise beleidigen und muss vielmehr sagen, dass ich nicht damit rechnete, hier von einem von vielleicht insgesamt fünftausend Menschen auf der ganzen Welt, die nur schon wissen, dass Jean Paul einen Roman mit dem Titel „Der Komet“ geschrieben hat, vom Lesen ganz zu schweigen, zollkontrolliert zu werden!» – «Wenn Sie so weiter machen, nehme ich Sie in Lindau aus dem Zug und übergebe Sie der Polizei!» – «Weswegen denn? Etwa Gewalt und Drohung gegen Beamte?» – «Halten Sie den Mund!» – Er begann zu schäumen, aber sein Kollege beschwichtigte ihn, es sah ganz nach der klassischen Rollenverteilung Good Cop – Bad Cop aus, wobei ich keine Ahnung davon hatte, wozu das nütze hätte sein sollen. Da piepste sein Funkgerät, und es war wohl für niemanden eine echte Über­ra­schung, dass kein Verdacht und keine Fahndung gegen mich am Laufen war, wobei ich exakt in diesem Moment ganz kurz an Franz Kafka denken musste – weniger wegen Interpol, da ist die Wahrscheinlichkeit einer Verwechslung wohl eher gering, aber es hätte ja sein können, dass der Grenzwächter seinen Jean-Paul-Kursus an der Grenzwächter-Schule ge­schwänzt hätte oder dass an den Grenzwächter-Schulen ohnehin nur noch Günter-Grass-Kurse angeboten werden. Was dann? Möglicherweise wäre ich in den Verliesen der Festung Obersalzburg verschwunden, denn in solchen Dingen versteht der Zoll keinen Spaß und arbeiten Deutsche und Österreicher sowieso eng zusammen, insonderheit, wenn es um einen Schweizer geht.

Kurz: Ich hatte saumäßiges Glück, Schwein vom Schwein, dass ich ungeschoren aus dieser Kon­trolle heraus kam. Die Miene des Jean-Paul-Spezialisten glättete sich innerhalb von Mikro­se­kun­den, er gab mir meine Identität zurück, bedankte sich sogar, tippte mit zwei Fingern grüßend an die Stirn und entfernte sich, während sein Kollege mir ein um Verständnis werbendes, sozusagen achselzuckendes Lächeln widmete und dann dem Vorfahnder nachdackelte.

Ja, so ist das eben: Heute nimmt man schon eine einfache Grenzkontrolle als herausragendes Ereignis in der eigenen Biografie wahr und schreibt sie in sein Tagebuch oder eben in eine Radio­sendung, und meiner Treu, das ist doch ein schlagender Beweis dafür, dass die EU doch etwas gebracht hat.

Fährt man in die andere Richtung, also aus Schweizer Sicht, nämlich nach Italien, so kann an einem gewöhnlichen Tag wie zum Beispiel am Mittwoch, 25. Juni, in der Rom-Ausgabe der Zeitung Repubblica stehen, dass Rebekka Brooks im Tabloidgate freigesprochen wurde im Gegensatz zu ihrem Redaktionskollegen und Bettgenossen Andy Coulson, mit dem sie offenbar weder auf der Redaktion noch im Bett über die illegalen Praktiken der News of the World gesprochen hat, wogegen die Schweinereien der Boulevardpresse als solche offenbar nicht justiziabel sind, ach, wer will da etwas verstehen. Daneben erfahren wir, dass in Sarajewo der 100. Jahrestag des Attentats auf Franz Ferdinand am selben 25. Juni gefeiert wird statt am tatsächlichen Ausführungsdatum vom 28. Juni. Was Rom selber angeht, so lesen wir, dass die Stadt für den von ihr bezogenen Strom 29 Cent pro Kilowattstunde bezahlt anstatt des Richtwerts der Energiebehörde von 18 Cent, dass eine Straßenlampe in Rom 223 Euro kostet anstatt 120 Euro wie im Durchschnitt von ganz Italien, dass für einen PC in der städtischen Administration 4037 Euro verrechnet werden, während der nationale Mittelwert bei 555 Euro liegt, dass die Ausgaben für Büromaterial in Rom 643 Euro betragen im Vergleich zum nationalen Referenzwert von 307 Euro, wogegen wir begreifen, dass die Mietkosten in der Hauptstadt mit 474 Euro pro Quadratmeter deutlich höher liegen als anderswo bzw. im Durchschnitt von 181 Euro pro Quadratmeter. Und wir lesen, dass die neue Stadtregierung in der Form der für das Budget zuständigen Stadträtin Silvia Scozzese innerhalb von 3 Jahren 444 Millionen Euro einsparen will durch entsprechende Preisanpassungen.

Tatsächlich hat bis vor kurzem der ehemalige Neofaschist Giovanni Alemanno die Stadt regiert nach verschiedenen sozialdemokratischen oder Mitte-Politikern wie Walter Veltroni oder dem Margherita-Weichspüler Rutelli. Alemanno steht jetzt unter Anklage, und zwar wegen illegaler Parteienfinanzierung, welche er vermittels von fingierten Rechnungen der nicht ganz unbekannten Consultingfirma Accenture organisiert haben soll. Accenture konnte sich zuvor den Auftrag für ein neues Informatiksystem für die Stadt sichern, das den Namen „Territorio“ trug und einen Gesamtwert von gerade mal 10 Mio. Euro hat.

Außerhalb der Rom-Abteilung lesen wir den ixten Beitrag zu den Bestechungen rund um die Hochwasser-Schutzanlage für Venedig mit dem schönen Namen Mose und einem Gesamtwert von 15 Milliarden Euro; in diesem Zusammenhang tauchen auch regelmäßig Namen aus dem Mitte-Links-Parteienspektrum auf, unter anderem der Bürgermeister von Venedig, Orlandini, der sich offenbar nicht entblödet hat, 100'000 Euro für seine Partei entgegenzunehmen. Zwar steht das Korruptions­verhältnis parteitechnisch immer noch ungefähr eintausend zu fünfzig zugunsten von Berlusconi und Konsorten, also eben Neofaschisten, Lega und Forza Italia beziehungsweise Popolo della Libertà, aber die öffentliche Meinung schert sich um solche Nuancen schon längstens nicht mehr, und gerade in Venedig hat die Sozialdemokratie unter anderen mit den Coop-Genossenschaften tüchtig aufgeholt. In Mailand stehen dagegen wieder eher die Vögel rund um Berlusconi und sowieso die Lega im Vordergrund bei den Bestechungen rund um die Weltausstellung 2016.

Weiter lesen wir, dass ein Beamter der sizilianischen Regionalverwaltung ein Salär von über 600'000 Euro brutto jährlich bezieht, wobei sich die sizilianische Regionalverwaltung konsequent weigert, eine Lohnobergrenze von 180'000 Euro jährlich einzurichten, wie sie der neue Präsident der Region Rosario Crocetta verlangt. Und schließlich nehmen wir zur Kenntnis, dass in der ebenfalls sizilianischen Stadt Trapani der Leiter der dortigen Caritas, Herr Pfarrer Sergio Librizzi, von ein paar asylsuchenden Männern Sex verlangt hat als Gegenleistung dafür, dass er ihnen Papiere als registrierter Flüchtling ausstellte, wozu er als Mitglied des entsprechenden regionalen Gremiums autorisiert war. Am 24. Juni hat ihn das Schicksal in der Form der Polizia Forestale, also der Waldpolizei erreicht, welche ihn verhaftete.

Ist die Welt nun schlecht wegen der Massierung solcher Vorfälle, oder besteht Hoffnung, weil sie doch immer wieder mal ans Licht kommen und manchmal sogar vor Gericht, auch wenn die Verurteilung dann nicht immer so ganz sicher ist?