"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Al Kaida -

ID 64978
 
AnhörenDownload
So, jetzt haben wir also endlich wieder einen Kalifen, das hat ja gedauert, bis sich jemand dazu durchgerungen hat, die Verantwortung zu übernehmen.
Audio
09:57 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 08.07.2014 / 09:22

Dateizugriffe: 583

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 08.07.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Für uns klingt eine solche Selbstdeklaration kindisch, es gibt keine dynastischen oder religiösen Begründungen für diesen Anspruch, einmal abgesehen davon, dass er selbstverständlich direkt vom Propheten abstammt, wie verschiedene DNA-Tests bewiesen haben, die an der islamischen Universität von Adhamiya durchgeführt wurden.

Aber schauen wir uns doch mal etwas näher an, wie sich die Welt des fundamentalistischen Islams gegenwärtig präsentiert. Wir haben zunächst dieses Kalifat im Irak und in Syrien, das in diesem Sommer von sich reden gemacht hat durch markante territoriale Gewinne im Irak, welche den Herrn Al Baghdadi oder auf Deutsch Ibrahim Awwad Ibrahim Ali al-Badri al-Symarrai, Doktor aller islamischer Rechte der Universität Adhamiya, dazu veranlasst haben, sich als künftiger Herrscher der Gesamtwelt auszurufen. Rein militärisch-strategisch gesehen erscheint dies ein etwas fragwürdiger Schritt, da nach meiner Einschätzung die Damen und Herren Schiiten im Irak und vor allem im Iran seinen Streitkräften turmhoch überlegen sind, natürlich in erster Linie technologisch; aber die schiitischen Armeen bestehen auch nicht aus Soldaten, welche ihre Waffen beim ersten Wüstenlüftchen in den Sand werfen und die Köpfe ins Korn stecken, sondern die sind mindestens ebenso motiviert wie die Damen und Herren von der Isis. Sollte sich der Herr Kalif dagegen an der türkischen Grenze vergreifen, dann kommen ganz andere historische Dimensionen ins Spiel. Wenn man in letzter Zeit dem türkischen Ministerpräsidenten und heraufkommenden Staatschef Erdogan verschiedene Vorwürfe gemacht hat bezüglich nachlassender Modernität und Ansätzen zu Hirnfraß wegen der Zensur des Internet und der sozialen Medien sowie dem harten Durchgreifen in Istanbul, so betrifft dies doch völlige Nebensächlichkeiten angesichts der tatsächlich säkularen Risiken und Chancen im Osten und im Norden des Landes. Wenn Kamerad Al-Badri Al-Symarrai einen falschen Fehler begeht, dann haben wir es im Nahen Osten nicht mit einem Kalifat zu tun, sondern mit einer um die Hälfte größeren Türkei, und zwar im vollen Einvernehmen mit den Vereinigten Staaten und mit der Nato. Und genau dieser Umstand erlaubt es unsereinem, die Ausrufung des Kalifates tatsächlich als lächerliche Kinderei einzustufen. Der Irak und Syrien mögen schwache Staaten sein, nachdem sie von den Vereinigten Staaten zum Sandkasten ihrer Strategie- und Kriegs­spiele auserwählt wurden; die Türkei dagegen steht in jeder Beziehung auf starken Beinen.

Dabei ist das Gebiet von Isis noch nicht mal das größte unter islamistischer Bearbeitung. In Mali und im Norden von Niger ist die Al Kaida im islamischen Maghreb auf einer mindestens doppelt so großen Fläche aktiv unter der Führung des Algeriers Abu Musab Abdel Wadoud; diese Bewegung arbeitet auch direkt in Richtung Libyen, wo General Gaddhafi ein Land ohne weitere gefestigte Strukturen hinterlassen hat. Zahlenmäßig sind sie im Moment noch nicht besonders stark; man spricht von ein paar Hundert Soldaten. Musab Abdel Wadoud ist nicht Doktor aller islamischen Rechte, sondern Mathematiker, und er hat Erfahrung als Afghanistan-Kämpfer, das ist doch schon mal ein ordentlicher Anfang.

Bekannt wurde in den letzten Monaten Boko Haram, vor allem durch die Entführung von jungen Frauen, noch bekannter durch die behämmerte Kampagne vieler behämmerter Frauen aus der internationalen Polit-Prominenz, welche wie bei einer internationalen Charity-Kampagne Protestknöpfe mit der Aufschrift «Bring Back our Kids» trugen, womit sie offenbar die Kameraden von Boko Haram weich klopfen wollten oder mindestens ihren Tod durch Gelächter billigend in Kauf nahmen. Deren Boss heißt übrigens Abubaker Shekau, und viel mehr weiß ich nicht von ihm; wenn man ihn so in den Videos sieht, hat man den Eindruck, dass es sich um einen postpubertären Scherzkeks handelt, dem man aus Versehen keine Knallerbsen, sondern echten Sprengstoff in die Hände gegeben hat. So richtig Ernst zu nehmen vermag ich den nicht, im Gegensatz zur inter­natio­na­len Promi-Lady-Garnitur.

Im Jemen führt der ehemalige Sekretär von Osama bin Laden Nasir Al Wuhayshi die entspre­chen­den Kampftruppen an, die schon vor 2001 dort aktiv waren, zum Teil mit, zum Teil gegen lokale Stammesverbände. Im Jahr 2009 fusionierte der saudiarabische Al-Kaida-Zweig mit demjenigen aus dem Jemen. In diesem Frühjahr erfolgte eine recht massive Offensive der jemenitischen Armee mit Unterstützung der USA, welche die Al Kaida auf der arabischen Halbinsel in die Defensive versetzte.

In Somalia befindet sich die Wirkungsstätte von Al Shabab, die aber auch im Ausland tätig ist und zuletzt in die Schlagzeilen kam mit dem Attentat auf ein Einkaufszentrum in Kenia. Die Jungs haben viel zu tun, nicht nur im Kampf gegen die Regierung, sondern eben auch gegen die Kenianer und die internationalen Hilfsorganisationen, von denen es in der Region wegen der endemischen Krisen, Hungersnöte und Kriege nur so wimmelt. Ihr Chef ist Ahmed Abdi Godane, ebenfalls ein ehemaliger Afghanistan-Kämpfer. Ihr Haupteinsatzbereich befindet sich rund um die Hauptstadt Mogadischu.

Und schließlich haben wir noch die Mutter aller Kalifen, nämlich die Al Kaida selber, welche sich auf einem vergleichsweise kleinen Gebiet zwischen Afghanistan und Pakistan aufhält und darauf wartet, dass die US-Amerikaner und die Europäer endlich Fersengeld geben und Afghanistan verlassen, worauf sie sich dort wieder ausbreiten wollen. Allerdings scheint mir hier ein Konflikt zwischen Al Kaida und den Taliban vorprogrammiert. Die Taliban sind nämlich keine islamistische Fremdenlegion, sondern bloß ganz einfache Stammeskrieger mit einem sehr engen Bezug zu ihrer engeren Heimat.

Diese sechs Hauptschauplätze sind untereinander einigermaßen vernetzt, aber gerade der neue Kalif scheint sich nicht groß bei seinen fünf Kollegen erkundigt zu haben, bevor er sich selber auf den imaginären Thron setzte. Und insgesamt handelt es sich um Bewegungen aus der Steinzeit: zum einen, weil in ihren Einflussgebieten vor allem Steine wachsen, was immer wieder die Frage nach den Financiers des extremen Islam aufwirft, und zum anderen, weil sie dort, wo zufällig mal Steine ordentlich aufeinander gemauert sein sollten, selbige mit dem Mittel des Dynamits auseinander sprengen.

Was will der extreme Islam? – Nichts, offenbar, mindestens nichts von dieser Welt, aber nicht, weil er die Errungenschaften des globalen Kapitalismus ablehnen würde, sondern weil er davon keine Ahnung hat. Als rein defensive oder je nach Blickwinkel rein offensive Kraft hat er eigentlich kein Programm außer der abstrakten Macht, der Macht an sich. So muss es halt noch eine Zeit lang dauern, bis die Doktoren aller islamischen Rechte begriffen haben, dass es die Macht an sich gar nicht gibt, dass Macht immer nur das ist, was ihre Attribute mit sich bringen. Sobald sich ein Kalif einmal tatsächlich auf den Kalifenstuhl setzt, also tatsächlich eine Regierung bilden muss, ist es vorbei mit der ganzen kriegerischen Herrlichkeit, dann müssen nämlich Untertanen gefüttert und mit Mobil­tele­fonen und Fernsehgeräten versorgt werden.

Insgesamt schauen wir aber nach wie vor mit langen Gesichtern in all diese Weltgegenden, und zwar vielleicht mit etwas weniger Verblüffung nach Afrika, weil hier die Bevölkerung doch in weiten Landstrichen über Jahrhunderte hinweg nicht mit den Errungenschaften der Zivilisation in Kontakt getreten ist, aber mit den arabischen Staaten, zumal mit jenen rund ums Mittelmeer, findet seit Urzeiten ein intensiver Austausch statt. Wie kommt es, dass sich hier nach dem Aufstand gegen despotische Regimes und also mit dem Wegfall rein autoritärer Strukturen ein einfaches Nichts auftut, ein Zustand, in dem weite Teile der EinwohnerInnen nicht willens oder in der Lage ist, einen halbwegs modernen Staat zu betreiben? – Einverstanden: Unter den Bedingungen von Hagel und Granaten kann man das nicht so gut, aber es scheint in diesen Ländern ganz grundlegend das Bewusstsein dafür fehlt, was eine Demokratie ist oder sein könnte. Und nun mag man die westlichen Demokratien noch so sehr kritisieren, weil sie keine echten Demokratien sind, sondern bloß Schauspiele davon – die Prinzipien sind eben doch im Bewusstsein der Bevölkerung verankert, ganz im Gegensatz offenbar zu Arabien. Wobei ich hier eine Ausnahme mache für die Mittelmeer-Anrainerstaaten, und von dieser Ausnahme bildet wiederum Libyen die Ausnahme. Aber sonst? – 

Wenn wir den Bogen um die ganze Welt spannen, stellen wir fest, dass zum Beispiel in China der Demokratiebegriff auch nicht gerade ein fester Bestandteil der Nationalkultur ist, mindestens nicht im westlichen Sinne. Aber China hat vor bald vierzig Jahren mindestens in Sachen Konsum eine moderne Richtung eingeschlagen, deren Ergebnisse wir heute sehen. Massenkonsum ist eine überaus wesentliche Seite von Demokratie: Nur eine in ihren Grundrechten befestigte Stimm­bür­ge­rin ist grundsätzlich zum Konsum fähig. Auch das mag man kritisieren, aber der Zusammenhang besteht nun mal. In dieser Beziehung haben sich die Islamerer noch überhaupt nicht gefunden, indem ihre Politik eben in erster Linie darin besteht, keinen Stein auf dem anderen zu lassen, während sie anderseits den internationalen Warenaustausch im Rahmen der globalisierten Produktion als völlig selbstverständlich voraussetzen. Insofern verhalten sie sich tatsächlich genau wie das saudiarabische Königshaus, das sowieso schon bei der Frage nach den Geldgebern immer wieder oben auf allen Listen auftaucht. Anderseits wissen wir auch, dass die Saudis sich vor der Al Kaida selber fürchten und bei den Vereinigten Staaten grundsätzlich als zuverlässiger Alliierter gelten. Ich bin geneigt zu sagen: Videmus nunc per spectaculum in aenigmate, aber ich sehe leider den dazu notwendigen Spiegel nicht.