"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Frankarm oder nicht -

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Was ist los mit dem Franzos? Der Präsident komplett desorientiert im eigenen Land, ob tatsächlich oder nur in der Darstellung durch die mehrheitlich bürgerlichen Medien, kann ich nicht einmal genau beurteilen.
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11:24 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.07.2014 / 10:57

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.07.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die sozialistische Partei hat alle erdenklichen Mühen bei der Festlegung einer politischen Linie, welche sowohl die traditionellen sozialen Werte berücksichtigt als auch allfällige Ansprüche einer modernen postkapitalistischen Gesellschaft, von den Interessensvertretern ganz zu schweigen. Aber die bürgerliche Opposition vollends, da hört sich ja jedes Verständnis auf. Sie präsentiert sich nicht einfach zerstritten, wie das immer mal wieder vorkommen kann: Die bürgerliche Opposition zerfleischt sich in einer Intensität, die man sich niemals hätte träumen lassen. Das finde ich wirklich seltsam: dass die politische rechte Mitte, die traditionelle Trägerin der Interessen der französischen Eliten, derart massiv und manifest in die Summe ihrer Teile zerfällt, sodass man sich geradezu fragen muss, ob es diese Elite überhaupt noch gibt in der Form, in der sie bis vor, sagen wir mal zehn Jahren existierte, oder ob die Elite selber ebenso verschwunden ist wie andere ehemaligen tragenden Bestandteile nicht nur der französischen Gesellschaft, z.B. das Prole­tariat, oder aber ob sich diese Elite ganz schlicht und einfach nicht mehr für die Politik interessiert, ob die Politik als solche derart überflüssig geworden ist, dass man sich zuerst den durch und durch korrupten Jacques Chirac mit seiner ebensolchen Madame Chirac und dem Nachfolger als Pariser Bürgermeister Jean Tiberi leisten konnte ebenso wie anschließend die heraufgeschossene Koksnase Louis de Funès, mit bürgerlichem Namen Nicolas Sarkozy. Falls es nämlich nicht so wäre, dass die französische Elite die hohe Politik einfach fahren lassen hat, dann müsste man wohl die Grabenkämpfe in erster Linie auf den kleinen Nicolas zurückführen, welcher es irgendwie geschafft hat, die politische rechte Mitte unheilbar zu vergiften, und zwar nicht mit Drogen, sondern mit Intrigen und Fehl­spe­ku­la­tio­nen mit all jenen Sorten an Bourdieuschem Kapital, die außerhalb von Frankreich wohl nirgends existieren. Politisch profitieren kann nur die nationalistische Rechte, aber die erscheint ebenfalls uneins im Moment ihrer größten Glückssträhne, die Tochter Marine zeigt alle Anzeichen von Versöhnlichkeit, sie gibt sich staatsmännisch oder staatsweiblich, was dem Vater Jean-Marie recht missfällt und mich persönlich erinnert an jenen Moment, an dem in Italien der Neofaschist Gianfranco Fini plötzlich die Rechte der illegalen Immigranten zu verteidigen begann als absolut i-einziger Politiker in ganz Italien, weil nämlich die Linke keine Zeit dafür hatte vor lauter internen Intrigen beziehungsweise überhaupt sich in die Hosen geschissen hatte, mit einem solch heißen Thema möglicherweise noch mehr Wählerinnen-Stimmen zu verlieren, als man dies ohnehin immer wieder tat gegenüber dem Berlusconi-Kasper. Vielleicht befindet sich Marine Le Pen tatsächlich auf einer ähnlichen Laufbahn, von welcher man ihr im eigenen Interesse allerdings abraten sollte, denn die führt mittelfristig ins Verderben, wie uns das Schicksal von Gian-Franco Fini zeigt. Aber wie auch immer: Die Reichen beziehungsweise die Eliten sind vergrätzt durch die Reichensteuer, die Gewerkschaften sind die letzte verbliebene Konstante mit ihren anhaltenden Streiks und Forderungen nach Arbeitsplätzen und Lohnerhöhungen, als hätte es seit 1970 keine Veränderungen gegeben in der Welt, der Mittelstand fürchtet sich vor der unmittelbar bevorstehenden Verarmung, in den Vorstädten herrscht nach wie vor die Hoffnungslosigkeit, was allerdings eine völlig falsche Bezeichnung ist für jene sozialen Beziehungen, die unsereins ans Faustrecht erinnern, weil wir gar nicht in der Lage sind, die Strukturen anders als im Rahmen unserer vorgefassten Raster wahrzunehmen; Hoffnungslosigkeit bezieht sich selbstverständlich nur auf Hoffnung im Rahmen solcher Raster, nicht auf Hoffnung allgemein, und wenn wir Hoffnung im Rahmen unserer Wahrnehmungsraster etwas genauer untersuchen, dann kommen wir ja auch nicht nur auf schöne und ewig währende Gebilde.

Wie auch immer: Die französische Gesellschaft präsentiert sich auf den ersten Blick als ein ordentlich angeschlagenes Gebilde, das zwar nach wie vor funktioniert in seinen zentralstaatlichen Ausrichtungen, dem aber zahlreiche Sicherheiten und Selbstsicherheiten abhanden gekommen sind. Gegen außen vermag man das noch zu kompensieren mit den klassischen Allüren der Großen Nation beziehungsweise mit einer postkolonialistischen Außenpolitik, die zumal in Afrika nicht einmal immer fehl am Platze ist, aber die Fragezeichen bleiben bestehen. Auf der ökonomischen Ebene sind die jüngsten Vorschläge der Regierung zur Belebung von Investitionen und zur Schaffung von Wachstum und Arbeitsplätzen zunächst nichts weiter als ein neuer Versuch, einem generellen Problem aller entwickelten Gesellschaften mit einem landesspezifischen Ansatz entgegen zu treten, und ich bin nicht in der Lage, hierzu eine Prognose abzugeben; insgesamt aber halte ich dieses Land einfach für noch nicht sozialdemokratisch genug, was auch immer das heißen mag. Vielleicht ist übrigens die Verbohrtheit, mit dem die Jungs und Mädels nach wie vor auf die Atomkraft setzen und darin gegenwärtig sogar einen echten Wettbewerbsvorteil sehen, durchaus sinnbildlich für jene Schwächen, die aus der Fixierung auf große Zentralen entstehen.

Immerhin bleibt Frankreich das Mekka für die Touristen aller Welt; über 80 Millionen Gäste strömen jährlich über die Grenzen und konsumieren das Multipack an Gastronomie, Landschaft, Kultur und Geschichte, welches nicht immer und überall, aber doch oft in eindrücklicher Dichte auf die Besucherinnen wartet. Mein persönlicher letzter Abstecher fand auf dem Internet statt, weil ich wissen wollte, was es mit dem Haus Anjou auf sich hatte, das in der Person von Karl dem I. die Staufer besiegt und in der Herrschaft über Sizilien und Neapel abgelöst hatte. Allerdings ist dies nicht in erster Linie ein Kapitel französischer, sondern ganz einfach der Mittelmeergeschichte, das ich hier nicht referieren will, weil es nämlich ziemlich verworren ist. Nur soviel, dass es sich um Kapetinger handelte und dass ein entfernter Vorfahre, Gottfried der Schöne, als Helmzier jeweils einen Ginsterzweig zu tragen pflegte und damit einer ganzen Nachkommensreihe den Namen Plantagenet, nämlich von Planta Ginestra, verliehen hat.

Ich weiß nicht, welche Figur François Hollande als Helmzier trägt, aber im Moment sind Zweifel an seiner geschichtlichen Dimension am Platz. Wie alle Wahlsieger musste er sich nach seinem Erfolg über Nicolas Sarkozy zuerst mit seinen eigenen dummen Versprechungen auseinander setzen, und statt diese ebenso souverän zu ignorieren wie die meisten seiner Vorgänger beziehungsweise die meisten seiner AmtskollegInnen auf der ganzen Welt, versuchte er in einer Art von naiver Aufrichtigkeit, die Ankündigungen mindestens so gut als möglich einzulösen; siehe hierzu eben die Reichensteuer, welche dem Staat vielleicht einige Millionen Euro eingebracht hat, die aber nicht nur bei Gérard Dépardieu Missmut auslösten, sondern auch bei vielen seiner WählerInnen, welche den Unterschied zwischen einer Wahlkampfparole und echter Politik natürlich schon längstens kennen. Bis jetzt kann man nur sagen, dass Hollande zu viel zu gut gemeint hatte und zu gut machen wollte. Aber vielleicht reißt er sich jetzt ja zusammen mit seinem neuen Superpremier Manuel Valls. Die Opposition braucht er jedenfalls gegenwärtig nicht zu fürchten, abgesehen vom Front National, sodass er mindestens im eigenen Lager für einen Ausgleich der Interessen und anschließend möglicherweise sogar für eine kohärente Politik sorgen kann, was auch immer das dann bedeuten mag.

Im Nahen Osten rückt nach der Ausrufung des Kalifats auch Israel wieder in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit mit seinen militärischen Aktionen gegen die Hamas. Von den Auslösern der aktuellen Krise will ich gar nicht sprechen – ob der junge Palästinenser bei lebendigem Leib verbrannt wurde oder nicht und ob die drei jungen Israeli mit Kopfschüssen getötet wurden oder nicht, ist aus der Distanz nicht relevant, relevant ist die Tatsache, dass die Auseinandersetzung nach wie vor mit einem solchen Hass betrieben wird. Und dazu möchte ich nun doch auch noch anfügen: Wenn ich auch immer wieder meiner Kritik an der israelischen Siedlungspolitik und am kolo­nialistischen Selbstverständnis geäußert habe, so muss ich einräumen, dass ich das militärische Vorgehen gegen die Hamas beziehungsweise die Raketenbauer, die ihre Abschussrampen und Waffenlager mitten in der Zivilbevölkerung betreiben, vollumfänglich begreife. Ich hätte mir gedacht, dass die Einsicht unterdessen auch in die verbohrtesten palästinensischen Köpfe eingedrungen sei, dass ein Friede eben nur über einen echten Frieden zu erreichen ist, also nicht über die permanente Vorbereitung und Bewaffnung von Freischärlern, von denen man sich nach Belieben distanzieren kann oder auch nicht, je nach politischer Wetterlage. Solange Israel keine entsprechenden Garantien hat, sind die militärischen Aktionen vollkommen logisch und legitim. Über die Legitimität, den Hass wegen eines vor sechzig Jahren begangenen Unrechts immer weiter und weiter zu züchten, brauche ich mich nicht zu äußern – diese Legitimität gibt es nicht. Man stelle sich bloß einmal vor, wo die Menschen im Gazastreifen und durchaus auch in Cisjordanien wären, wenn sie, sagen wir mal in den achtziger Jahren einen echten Modus Vivendi mit den Israeli gefunden hätten. Friede, Freude, Eierkuchen wären es wohl nicht, aber mit Sicherheit wäre der Wohlstand und wäre die Lebensqualität vor allem der palästinensischen Bevölkerung um ein Millionenfaches höher, als dies jetzt der Fall ist. Und wenn sich die BewohnerInnen dann einmal mehr oder weniger auf Augenhöhe begegnen können und eben das notwendige gegenseitige Vertrauen entwickelt haben, dann kann man durchaus auch wieder diese ursprüngliche Ungerechtigkeit ansprechen. Aber die Perennität des Hasses, das ist unmenschlich. Es gibt nun mal in der Geschichte keinen Fortschritt ohne Versöhnung. Wie hätte es sonst ein Schwarzer an die Spitze der Vereinigten Staaten von Amerika geschafft? Es ist unmenschlich, es ist mit einiger Sicherheit auch unislamisch, und in erster Linie ist es von Grund auf dumm. Es versteht sich von selber, dass die vernünftigen Kräfte in Israel am meisten unter solchen Attacken leiden. Die Verschiebungen in der politischen Landschaft im jüdischen Staat sind nicht nur, aber zur Hauptsache dieser palästinensischen Dummheit geschuldet. Wenn die mal aufhört, ist ziemlich viel gewonnen.

Naja. Zum Schluss noch der Hinweis auf eine Facette der Vielsprachigkeit der Schweiz. Vor Kurzem habe ich in der Supermarktkette Spar einen leckeren Brocken getrocknetes Fleisch entdeckt mit einem grandios großen roten Kleber, auf dem ein Schwein durchgestrichen prangte. Kein Schweinefleisch! – Na wunderbar; und der weitere Titel hieß «Bik – Suho Meso», und angepriesen wurde es als echte Balkanspezialität. «Trockenfleisch», stand auch noch irgendwo auf der Front, und dann auf der Hinterseite kam die Produktedeklaration, die ich leider in keiner Art und Weise zu verstehen vermochte, denn es war auf Rätoromanisch. Erst als meine Lebensgefährtin ein Stück davon in den Händen hielt und fragte: «Ist es auch ganz sicher kein Pferdefleisch?», fiel mir der Groschen. Tatsächlich, soviel Rätoromanisch konnte ich dann doch noch zusammenkratzen, dass tgaval so etwas wie Pferd bedeuten muss, und schließlich kriegten wir zusammen, dass es sich um kanadisches Pferdefleisch handelt, das in der Schweiz abgepackt worden war – kanadisches Pferdefleisch, das ist jene Ware, die die meisten Großhändler aus ihrem Sortiment genommen haben, weil diese Tiere nicht menschenunwürdig, sondern gegen sämtliche Regeln der Tierhaltung gequält und zu Tode gebracht werden. Aber auf Rätoromanisch sieht das dann ganz balkanisch harmlos aus. Lang lebe die Sprachenvielfalt.