IRAK: Wenig am Hut mit einer islamischen Republik (Kurzversion)

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Wenn jemand - sagen wir mal in den USA - die bundesdeutsche Presseberichterstattung verfolgte - sagen wir mal zum Kopftuchstreit - dann könnte er oder sie bei etwas Naivität doch den Eindruck gewinnen, unsere Gesellschaft sei geprägt und bestimmt von tiefgehenden ethnischen und religiösen Konflikten - stehe vielleicht sogar kurz vor einem Bürgerkrieg.

Soviel Naivität freilich wird man selten vorfinden. Jeder weiss ja, dass solche Themen nur Vehikel sind für die Politiker, um ihrer ideologischen Richtung Geltung zu verschaffen. Trotz Kopftuch steht Bayern wohl kaum vor der Übernahme durch den katholischen Klerus oder einem Guerillakrieg der moslemisch geprägten Minderheit.

Anders war das im Fall Irak. Hätte Präsident Bush unser Interview, das wir im Sommer mit Sabah Alnasseri, einem Politologen und in Frankfurt lebenden Exiliraker gehört, hätte er vielleicht eine bessere Vorstellung von der irakischen Gesellschaft gewonnen, und säße jetzt nicht in einer überaus verzwickten Lage.
Denn die Politik, die iraksiche Gesellschaft in ethnische und religiöse Gruppen aufteilen zu wollen, beruht, das meint Sabah Alnasseri, auf einer verheerenden Fehleinschätzung, und im jetzigen militärischen Vorgehen wiederholt sich diese Fehleinschätzung aufs Neue.
Michael Liebler im Gespräch mit Sabah Alnasseri über das Vorgehen der USA, die Ziele und Perspektiven des irakischen Widerstands...
Audio
07:19 min, 3428 kB, mp3
mp3, 64 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 20.04.2004 / 00:56

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Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Michael Liebler
Radio: RadioZ, Nürnberg im www
Produktionsdatum: 20.04.2004
keine Linzenz
Skript
(Entspricht nicht 100% dem Inhalt des Radiobeitrages)

Warum mißbilligt der von den Besatzungsmächten eingesetzte Regierungsrat derartig deutlich deren Strafaktion gegen den Widerstand?

Sie fürchten, daß sie selber als politischer Arm der Besatzungsmächte diskreditiert und in diese Gemengelage hineingezogen werden. Sie vermitteln den USA damit eine Botschaft: Verhaltet euch anders, damit wir weiter zusammenarbeiten und euere Politik im Irak auch vertreten können.
Die Iraker lehnen die Besatzung nach wie vor ab und sehen den Zerfall der Gesellschaft als die Folge der Besatzung. Denn nicht der Abzug der Besatzungstruppen würde zum Chaos und zur Gewalt führen, wie behauptet, sondern umgekehrt hat die Besatzung zwangsläufig zu einer Ausbreitung der Konflikte geführt.

Erstaunt es Sie, dass Sunniten und Schiiten plötzlich gemeinsam Widerstand leisten?

Nein. Die Darstellung der westlichen Medien trennt den Irak zwar in Schiiten, Sunniten, Araber und Kurden, aber die Konflikte im Irak sind nicht primär ethnisch oder religiös, sondern politisch. Daß zunehmend Geistliche als politische Akteuere auftreten ist nichts anderes, als die kulturelle Artikulation konservativer Interessen im Irak.
Es spiegelt auch wider, wie der konservativ-liberale Teil des provsiorischen Regierungsrates durch die Aufwertung konservativer schiitischer und sunnitischer Institutionen versucht, die von ihm gewünschte politische Kultur zu verankern.

Bedeutet dies, daß eine islamische Republik nach dem Muster des Iran gewünscht ist?

Keinenfalls. Es stellt die politische Strategie konservativer Kräfte gegen die Linke und linker Vorstellungen von einer irakischen Gesellschaft dar.
So ist zum Beispiel die Gewerkschaft der Arbeitslosen im Irak UUI politisch wirksam und richtig. Weil die Mehrheit der Iraker arbeitslos ist und das auch mittelfristig bleiben wird, gewinnt die UUI an politischer Bedeutung. Desto mehr wird sie von den Konservativen gefürchtet. Also stärken diese die religiösen Ausdrucksformen von Politik, um in ihre eigenen Interessen unter dem Deckmantel der Sunniten und Schiiten durchzusetzen.
Sie versuchen, die linken und säkularen Bewegungen als unislamisch, unschiitisch, unsunnitisch zu diskreditieren. Aber auch die Konservativen sind nicht auf einen "Gottestaat" aus, sondern verfolgen neoliberale Politik. Die Mehrheit der Iraker hat mit einer islamischen Republik wenig am Hut.

Provozieren die USA eine Tendenz zur islamischen Republik die sie fürchten nicht selbst?

Ja! Aufgrund falscher Beratung, falscher Information und ihrer eigenen Arroganz war ihre Vorstellung vom Irak grundsätzlich falsch. Sie nehmen auch Randereignisse als die grundlegenden Konflikte wahr und gehen gewaltförmig dagegen vor, weil sie sich darüber täuschen, was die schiitische Mehrheit des Irak bestrebt. Insofern ist ihre falsche Wahrnehmung der irakischen Konflikte selbst Teil des Problems.

Wie bewerten Sie die Anwesenheit der GSG-9 im Irak.

Ich denke das ist Vorfühltaktik. Man will man schon im Vorfeld bestimmte Kenntnisse gesammelt haben, falls man sich doch entscheidet, im Irak auch militärisch mitzumachen.
Das betrifft nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich, Russland, die Türkei, Israel... alle sind dort anwesend.
Übrigens sind es nicht nur staatliche Akteure, sondern auch private Sicherheitskräfte, vor alle aus den USA, nehmen jetzt zunehmend bestimmte Aufgaben wahr.

Die beiden Männer, die durch Falludscha geschleift wurden, waren Angehörige einer Söldneragentur...

Genau. Und die Iraker wissen wer da agiert und warum. So versuchen sie sich eben zu wehren, wobei ich mit bestimmten Formen nicht einverstanden bin. Nicht etwa weil ich den bewaffneten Widerstand an sich ablehne, sondern man angesichts der Kräfteverhältnisse erst politische, organisatorische und soziale Infrastrukturen schaffen muss, damit überhaupt eine Wiederaneignung des politischen Raums gelingen kann.

Es gibt ja eine Kampagne, die den Widerstand im Irak mit Geld unterstützt.

Man muss klar offenlegen, was da mit Widerstand gemeint ist: Welche Kräfte mit welchen Zielen stecken dahinter, für welche Zwecke wird das Geld verwendet.
Dann kann man entscheiden, ob man das unterstützen will. Die Unterstellung, Widerstand sei per se positiv oder von progressiven Kräften getragen, finde ich sehr problematisch.