"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Schweigen ist Tugend -

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Schweigen ist eine Tugend, die sich nicht besonders eignet fürs Radio, und deshalb halt auch an dieser Stelle ein paar Worte zum Überfall auf die Redaktion des Charlie Hebdo in Paris:
Audio
10:38 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 12.01.2015 / 10:30

Dateizugriffe: 553

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Umwelt, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 12.01.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wenn ich jeweils sage, dass so was nichts mit dem Islam zu tun hat, so ist dies nicht die volle Wahrheit. Auch die Roten Khmer in Kambodscha beriefen sich auf Karl Marx, als sie einen Zehntel der Bevölkerung umbrachten, Leonid Breschnew rief ungefähr 1980 sogar den Kommunismus aus, und man kann in beiden Fällen nur beschränkt sagen, dass so was nichts mit dem Kommunismus zu tun gehabt hätte, obwohl die Aussage in beiden Fällen stimmt: Mit dem richtigen, wahren und einzigen Kommunismus hatte das tatsächlich nichts zu tun. Überhaupt finde ich hier eine eigenartige Parallele: Mir ist in den letzten tausendfünfhundert Jahren nichts geläufig, das sich ähnlich schnell verbreitet hätte wie der Islam im 7. Jahrhundert, als eben der Kommunismus im 19. und 20. Jahrhundert, damit das auch noch erwähnt ist, und die Parallelen fallen mir wohl nicht zufällig im Zusammenhang mit dem Charlie-Hebdo-Attentat auf, sondern weil auch am Rand der kommunistischen Bewegung allerhand Terror ablief, siehe zum Beispiel die Rote Armee Fraktion. Das hatte weniger mit den entsprechenden politischen Strömungen zu tun, als dass sich die kommunistische Bewegung als mächtige Alternative zum Kapitalismus verfasste, welche eben allen Sorten von Unzufriedenen die Möglichkeit bot, sich im kommunistischen Vokabular auszudrücken, ohne dass die Jungs mehr als eine Ahnung davon gehabt hätten, wovon sie überhaupt sprachen. Und so wird es sich wohl auch mit diesen Jihadisten verhalten. Der Islam ist gegenwärtig tatsächlich das globale Gefäß der Empörung, wer heute mit Macht gegen die Strukturen anrennen will, der geht in den IS und längstens nicht mehr zu Occupy Wall Street oder zu attac.

Frankreich und England als ehemalige Kolonialherren über moslemische Länder haben in den letzten fünfzig Jahren Millionen von Einwanderern aus diesen ehemaligen Kolonien aufgenommen, sie sind deshalb von der Radikalisierung am stärksten betroffen, während sich in Deutschland eine Bewegung wie die Pegida letztlich bloß lächerlich macht. In Frankreich hat man schon vor zehn Jahren gesehen, wie sich der Groll der in Vorstädten zusammengepferchten beziehungsweise von den Zentren ausgeschlossenen Immigranten bemerkbar gemacht hat, als diese Städte brannten. Damals hatte man ziemlich viel Verständnis für die unterprivilegierten Bevölkerungsschichten Heute dagegen muss man sie ganz einfach dazu auffordern, sich nicht länger in Groll und Abwehr zu exprimieren, sondern entweder ihre Geschicke selber in die Hände zu nehmen oder aber politische Macht anzustreben. Das ist der einzige Erkenntnisgewinn, den die Attacke auf Charlie Hebdo gebracht hat.

Einen Moment lang sah es in Paris so aus, als würden die Islamerer gleich reihenweise zu den Waffen greifen, und zwar offenbar zu recht schwerem Geschütz, ich hätte fast erwartet, dass sie auch in Paris beginnen, Polizeistationen anzugreifen wie in Kabul und Kandahar. Soweit ist es nun doch nicht gekommen, obwohl ich dem Eindruck selber etwas Positives abgewinne: Als ich mir diese Option kurz durchrechnete, stellte ich fest, wie absolut isoliert diese Kalaschnikow-Jungs in der französischen Gesellschaft sind, wie absolut aussichtslos ihre Wunschvorstellungen eines islamischen Staates in Europa sind. Insofern bin ich versucht, das Charlie-Hebdo-Attentat eher als Akt der Verzweiflung aufzufassen denn als Anfang einer tatsächlichen Offensive, wobei ich mich natürlich täuschen kann. Aber auch wenn weitere Anschläge folgen sollten, sie haben keinerlei gesellschaftliche Dimension, nicht in Paris, nicht in Marseille und auch nicht in den ehemaligen Kolonien. Soviel meine ich in dieser ganzen Angelegenheit erkannt zu haben.

Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, den Charlie Hebdo als Satirezeitschrift zu würdigen. Vielmehr soll sich eine jede und ein jeder am nächsten Mittwoch bemühen, nach Möglichkeit ein Exemplar der nächsten Nummer zu erwerben und so den getöteten Redaktoren die letzte Ehre zu erweisen. Davon abgesehen möchte ich doch eine Beurteilung ihrer Mohammed-Karikaturen zitieren, das im Zürcher Tages-Anzeiger zu lesen war, nämlich dass es sich dabei weder um originelle noch um gute Zeichnungen gehandelt habe; sie seien für ihre schlechtesten Arbeiten gestorben, schreibt Constantin Seibt, und ich fürchte, er hat Recht. Aber darum geht es im Moment natürlich nicht.

Es geht auch nicht darum, dass sich im Windschatten von Charlie Hebdo jetzt einige After-Kabarettisten glorifiziert sehen können, die das ungeheure Wagnis unternommen haben, in den letzten Monaten sich etwa kritisch zum Islam zu äußern, in Deutschland zum Beispiel Dieter Nuhr, der in der Schweiz mit gebührender Verzögerung imitiert wurde vom Hofkabarettisten der Rechtsnationalen, Andreas Thiel. Diese Lorbeeren schmerzen mich fast am meisten; die haben sie einfach nicht verdient.

Und dann erinnert mich das Attentat noch an etwas anderes. Solche Islamisten müssen ja zunächst eine Art von Selbstermächtigung erfahren, das heißt, sie müssen sich ganz sicher sein, dass ihre Tat absolut gerecht und schön und was auch immer ist. Das setzt zunächst schon mal eine Masse von Unverfrorenheit voraus, wie wir sie im normalen Leben eigentlich nur bei Investment Bankern und Devisenspekulanten vermuten. Im religiösen Eifer erlangt man so was offensichtlich auch durch Indoktrination an der richtigen Stelle, und es braucht nicht mal unbedingt immer die Religion zu sein, es kann durchaus auch mal die Weltrevolution sein, zwischendurch. – Ich sehe nun auch eine Parallele zu den so genannten Shit Storms, zu den Beschimpfungsfluten, welche in den sozialen Netzen bei irgendwelchen Anlässen ausgerufen werden von, na ja, letztlich weiß man wohl nicht einmal genau, von wem oder von was. Einfach müssen sehr viele Leute in den Zustand der absoluten und überhöhten Selbstgerechtigkeit versetzt werden, damit sie ohne den Hauch eines Zweifels ihr Urteil fällen und dann auch vollziehen – selbst­ver­ständ­lich ist ein solcher Sturm auf dem Internet in keiner Art und Weise zu vergleichen mit einer Füsillade in der Redaktion des Charlie Hebdo, aber die zugrunde liegende Selbstüberhebung ist ihr zweifellos verwandt.

Und hiermit beschließen wir unsere Berichterstattung zu Charlie Hebdo: es gibt dazu grundsätzlich leider nichts weiter zu sagen, was nicht eine Wiederholung all dessen wäre, was bereits gesagt und gedacht worden ist.

Dafür habe ich eine eigene Selbstermächtigung zu korrigieren. Es ist gerade mal vier Wochen her, dass ich das italienische Web-Magazin Italia News verspottete, weil es einen erstunkenen und erlogenen Bericht der auf Falschmeldungen spezialisierten Seite Huzlers.com für wahr und in seine Berichterstattung übernommen hatte. Falsch, ganz falsch! Ich entschuldige mich in aller Form und hoffe, dass kein Italiener und keine Italienerin, die des Deutschen mächtig wären, sich diesen Beitrag angehört haben. Denn in Tat und Wahrheit war es gar nicht die Italia News! In Tat und Wahrheit handelte es sich um die, ebenfalls Web-Postille Direttanews! Und in Tat und Wahrheit hat die Direttanews den Artikel nur am Anfang als wahr publiziert, um ihn dann in der zweiten Meldung als Fake darzustellen. Der Rest meiner Darstellung entspricht dann wieder meinen Schilderungen, und an meiner Einschätzung, dass es sich hier um eine ganz und gar italienische Erscheinung handle, halte ich ebenfalls fest.

Um mich selber noch weiter zu konterkarieren, verweise ich nach einigen kritischen Hinweisen und Seitenhieben gegen die Zeitung Le Monde Diplomatique auf zwei Artikel aus der neuesten Ausgabe, die mein volles Interesse gefunden haben. Der eine befasste sich mit Italien, nämlich mit dessen Hauptstadt und damit, wie die Mafia beziehungsweise mafiaähnliche Organisationen es unterdessen geschafft haben, das Geschäft mit den Flüchtlingen und den Zigeunern in ihre Gewalt zu bringen. Eine Genossenschaft zum Beispiel hat so lange Beamtinnen und Politiker der Stadtregierung bestochen, bis sie die Oberaufsicht über, ich weiß nicht wie viele Zigeunerlager erhalten hat, welche die Stadt unterdessen führt. 40 Millionen Euro ließen sich damit jährlich erzielen, soll einer der Verantwortlichen sich am Telefon gebrüstet haben. Man kann sich leicht vorstellen, dass das Geschäft mit den Immigranten floriert und ebenso, dass sich die Politiker nicht gerne selber damit beschäftigen, dann das könnte Stimmen kosten, und dementsprechend nützt die Mafia beziehungsweise ihr verwandte Organisationen hier sehr geschickt eine Marktlücke. Was dazu führt, dass die Stadt Rom ein weiteres Mal im schlechten Licht dasteht nach den verschiedenen Skandalen um den ehemaligen Neofaschisten Alemanno, dem Vorgänger des aktuellen Stadtpräsidenten Ignazio Marino, gegen den die Mafia unterdessen schon Morddrohungen ausstößt. – Sagt mindestens Ignazio Marino, und man muss gleich anfügen, dass jeder Stadtpräsident so was sagen würde, vor allem dann, wenn er selber ein leitendes Mitglied der Mafia wäre. Aber Marino hat offenbar tatsächlich eine kleinere Aufräumaktion in Rom vom Stapel laufen lassen.

Und dann steht im Monde Diplomatique noch ein Artikel zu den Paschtunen im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, die seit den Zeiten des Imperialismus immer als Puffer zur Sicherung der Herrschaft dienten, manchmal dementsprechend mit ein paar Privilegien versehen wurden und gegenwärtig offenbar von Afghanistan und Pakistan gegenseitig dazu verwendet werden, im jeweiligen Nachbarland Unruhe zu stiften, und zwar insofern, als die pakistanischen Organisationen ihr Hauptquartier in Afghanistan haben und die afghanischen das ihrige in Pakistan. Hier ist die Zivilisation auf durchaus eigenwillige Art und Weise, nämlich in der Form verschiedener Kriege, in die Stammesgesellschaften eingedrungen, und dementsprechend skurril präsentieren sich immer wieder die Ergebnisse, wie zuletzt Mitte Dezember beim Angriff auf eine Schule in Pakistan mit fast 150 Todesopfern. Man fragt sich, wie man mit solchen Blutsbrüdern überhaupt irgendwie kommunizieren kann – einmal abgesehen davon, dass die ja nicht aus einer dummen Charakterregung heraus so brutal reagieren, sondern weil sie tatsächlich in der Klemme stecken, sei es von Seiten der pakistanischen Armee oder von den amerikanischen Drohnen. Aber trotzdem.

Aber lest doch diesen Bericht selber beziehungsweise erwerbt eben den Le Monde Diplomatique in der deutschsprachigen Ausgabe. In der Regel lohnt sich die Lektüre.