"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Krakau -

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Letzte Woche war ich ein paar Tage in Krakau, weil ich mir einmal persönlich ein Bild davon machen wollte, was er so treibt, der Pole in seinem Polen. Vielleicht wäre Warschau repräsentativer gewesen, aber die Stadt Krakau hat nun mal einen größeren historischen Tiefgang, und auf so etwas springe ich zuverlässig an, und da wird man auch nicht enttäuscht.
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13:19 min, 15 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.04.2015 / 10:02

Dateizugriffe: 619

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 14.04.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich mag mich nicht erinnern, dass ich schon jemals eine derart kompakte Altstadt gesehen habe mit den erhaltenen Befes­ti­gungs­mauern und davor rund herum einen grünen Gürtel mit Parkanlagen, bevor es dann in den neueren Stadtteilen weitergeht, und die stammen mehrheitlich aus dem 19. und vom Beginn des 20. Jahr­hunderts; die neueren Wohnviertel wurden rund herum in Plattenbauten angelegt, und selbst­ver­ständ­lich errichtet man jetzt zwar nicht in der Altstadt, aber doch im Zentrum moderne Dienst­leis­tungsgebäude an der Stelle der mehr oder weniger historischen Vorgängerbauten, namentlich den Hauptbahnhof haben sie einer totalen Renovation unterzogen und daneben ein gewaltiges Einkaufszentrum hingehauen.

Die Altstadt ist rund um einen großen zentralen Platz aufgebaut, der mich stark an italienische Städte erinnert, und dann wird sie im Süden abgeschlossen vom Hügel mit dem Wawel drauf, einer gewaltigen Schlossanlage, die zeitweise die Hauptstadt Polens war und vor allem die Königsgräber beherbergt. Angeblich wurde sie über einer Drachenhöhle errichtet, nachdem der Stadtgründer, ein gewisser Herr Krak, den bisherigen Bewohner, also eben den Hügeldrachen, getötet hatte, und übrigens heißt Drachen auf Polnisch Smok, und wenn sich alle Leute darüber streiten, woher das jiddische Wort Schmock stammen könnte, dann habe ich für mich hier meine Antwort gefunden. – Übrigens hat mich noch eine Bezeichnung überrascht, nämlich jene für die kleinste Währungs­einheit, den Grosz. Ein Groschen, schau her, den gibt es tatsächlich im Original, und zwar auch heute noch!

Der Wawel wird von der Weichsel umzüngelt beziehungsweise eher träge umflossen, wobei diese Weichsel eher daran vorbei als drum herum fließt und auf Polnisch sowieso Wisla heißt. Auch hier ziehen sich Grünflächen dem Fluss entlang, ein neues Kongresszentrum steht schräg gegenüber, unter dem Wawel spuckt ein eiserner Drachen hin und wieder echtes Feuer, und wer will, kann auf einem Boot auf dem Wasser herum schippern. Überhaupt hat es in dieser ziemlich flachen Gegend sehr viel Wasser, was ein bisschen an Berlin erinnern mag.

Es ist eine Boom-Stadt. Die Straßen sind verstopft, die Straßenbahnen und Busse überfüllt, überall wird renoviert oder neu gebaut, und die Menschen auf den Straßen unterscheiden sich in Krakau in keiner Art und Weise von jenen in einer anderen europäischen Stadt, was uns bei genauer Über­le­gung eigentlich nicht besonders erstaunen sollte, aber nachdem man gegenüber Polen recht lange recht viele Vorurteile gehätschelt hat, ist dieser Eindruck doch eine erfreuliche Bestätigung davon, wie falsch diese Vorurteile waren – oder aber wie sehr sich die Lage in Polen inzwischen verändert hat. Ich kann nur sagen: freundliche und zuvorkommende Menschen, gute Unterkünfte, was das Essen angeht, muss man sich halt nach der Decke strecken – einmal habe ich ein Gericht mit dem Namen Kumpir erstanden, das bestand aus Kartoffelklöße-Masse und weiteren Elementen aus dem Herbarium der Küchenkunst, drapiert in einem Kartong auf zwei entzwei geschnittenen großen Backkartoffeln, und eines ist sicher: nahrhaft wars. Und heißt die Nahrung nicht eben gerade deshalb Nahrung? Die Ernährung Ernährung? Dochdoch, tut sie.

Etwas verblüffend ist die Tatsache, dass sich der Krakauer Tourismus offenbar zu guten Teilen von Auschwitz und Birkenau ernährt. An jeder Straßenecke kann man Ausflugstickets dorthin erwerben, und auch das Judenviertel ist eine beliebte Attraktion in der Altstadt, obwohl der Anteil an dort tatsächlich lebenden Juden seit den 40-er Jahren des letzten Jahrhunderts wohl ungefähr gleich groß oder klein ist wie im übrigen Polen. Früher dagegen war Krakau ein Zufluchtsort für die Juden, schon im 14. Jahrhundert, aber eben, die Neuzeit hat durch diese Glaubensgemeinschaft einen dicken deutschen Strich gemacht. – Übrigens mit einer polnischen Randnotiz, wie ich dem entsprechenden Eintrag im schlauen Buch des Fähnleins Fieselschweif entnehme; in Polen kam es unmittelbar nach Kriegsende zu mindestens zwei kleineren antisemitischen Aktionen, eine in Krakau und eine in Kielce; kaum waren die Juden aus den KZs draußen, wurden sie von der lokalen Bevölkerung schon wieder des Kindsraubs und des Ritualmordes beschuldigt, in Krakau wurde eine KZ-Überlebende vom Mob erschossen, in Kielce waren es gar 40 jüdische Todesopfer, und es dauerte 60 Jahre, bis 2006 der damalige Staatspräsident Lech Kaczynski sich am Ort der Tat dafür entschuldigte. Diese historische Information passt dann wieder eher in die Vorurteils-Landschaft, die man gegenüber dem allerkatholischsten und eben dementsprechend katholisch antijüdischen Land pflegt.

Aber davon spürt man natürlich heute nichts mehr; wie gesagt, bietet der KZ- und Holocaust-Tou­ris­mus eine schöne Einnahmenquelle, und ansonsten geht das Leben seinen normalen Gang wie anderswo auch. Die Stadt ist voll gestopft mit Kultur, nicht nur historischer; soviel ich weiß, sind Dienstleistungen und Industrie in der Region ziemlich modern, es gibt tonnenweise Universitäten, und abgesehen vom Verkehrsaufkommen finde ich hier nichts, was mich daran hindern könnte, einen Aufenthalt in Krakau zu empfehlen. Und falls man gerne Konditoreiwaren isst, dann ist eine Reise nach Krakau sogar ein Muss, denn an jeder Ecke gibt es ein solches Lokal mit sehr guten Produkten.

Noch gar nicht gesprochen habe ich vom Preisniveau. Der Zloty ist einen Viertel Euro wert, und mir kam es fast so vor, als wären alle Preise wie im Euro-Land angeschrieben, also um drei Viertel billiger als bei uns. Ich weiß nicht, ob diese Beobachtung einer empirischen Überprüfung standhalten würde, aber die Frage stellt sich trotzdem, ob Polen nicht davon profitiert, dass es vorderhand auf die Einführung des Euro verzichtet hat. Ihr erinnert euch vielleicht an die Abhandlungen zu diesem Thema anhand von Italien, wo die ganze Welt immer wieder behauptet, dass das Land so lange mithalten konnte auf den Weltmärkten, wie die italienische Regierung die Lira immer wieder abwerten konnte und die Produkte so quasi künstlich verbilligte. Der Punkt ist nur, dass dieses vermeintlich Künstliche für die italienische Wirtschaft offenbar ziemlich produktiv war im Gegensatz zu jenem vermeintlich Natürlichen, nämlich dem Euro, mit dem nun niemand mehr Schindluder beziehungsweise auf Deutsch Währungspolitik betreiben kann mit Ausnahme derjenigen, die in der Europäischen Zentralbank den größten Einfluss haben, und das wird wohl doch nicht Italien sein, auch wenn Mario Draghi einen italienischen Pass besitzt, sondern Deutschland. Vielleicht war es eine richtige Einschätzung, dass Polen den Euro nicht eingeführt hat, um nicht unter die Räder des großen Nachbarn zu kommen.

Man sagt ja generell von Polen, dass viele qualifizierte Arbeitskräfte das Land verlassen, zum Bei­spiel in Richtung England, wo Literaturprofessorinnen offenbar begehrte Reinigungskräfte sind, und das ist per Saldo auch die Ursache dafür, dass England kurz davor steht, aus der EU auszutreten, und hier zeigt sich wieder mal die wirtschaftshistorische Bedeutung der Literatur­wis­sen­schaf­ten. Oder aber dann geht es nach Deutschland, wo das polnische Pflegepersonal in den Spitälern die Plätze auffüllt jener Fachleute, die in die Schweiz abgewandert sind. Ich war nun zwar nicht in einem Spital, aber der Augenschein in Krakau bestätigt solche Aussagen keineswegs. Hier ist richtig was los, und wenn man alles aufrechnet, also in erster Linie die Löhne mit den Lebens­hal­tungs­kosten vergleicht, dann kommt man hier auf ein richtig angenehmes Leben. Jedenfalls rechne ich mir das so zusammen nach meiner Stippvisite. – Nicht dass ich im Übrigen nicht auch arme Leute gesehen hätte, bewahre, die gibt es natürlich auch; aber sie prägen in keiner Art und Weise das Stadtbild, und zwar auch nicht in den Außenquartieren, denen ich bei meinen Stadt­be­su­chen jeweils ebenfalls einen Besuch abstatte. Es ist da nicht alles so sauber ausgepflästert wie an der Place Pigalle, die Marktstände bestehen zum Teil aus Blechverschlägen, aber im Großen und Ganzen ist es eben doch sauber und normal.

Und wenn man dann zurückreist, vernimmt man die schönen Nachrichten, dass Raul Castro und Barack Obama in Panama-Stadt sich die Hände geschüttelt haben. Die erste Jahreshälfte hat es somit definitiv in sich für den abtretenden US-Präsidenten: Zuerst der Iran, dann Kuba. Na gut, die Kuba-Initiative, um nicht zu sagen: die Kuba-Offensive wurde schon im letzten Jahr eingeleitet, aber in Panama wurde sie von Raul Castro offensichtlich definitiv abgesegnet mit den Worten, dass Obama für die Politik der Vorgängerregierungen nicht verantwortlich sei. Umgekehrt soll nun Kuba neben verschiedenen anderen Dingen von der Liste der Terrorstaaten genommen werden. Man weiß nicht mal, ob man sich über diese Art von Belohnung durch die Supermacht wirklich freuen soll oder ob es nicht vielleicht doch ein Hinweis darauf ist, dass die Kubaner im Begriff sind, ihre Souveränität aufzugeben. Aber das wird man ja dann sehen.

Und zum Abschluss der Vollständigkeit halber noch ein paar Angaben zu Polen, wie die CIA das Land sieht: Die Bevölkerung beträgt rund 38 Millionen, die zu fast 90% katholisch sind. Die Lebenserwartung bei der Geburt steht bei 77 Jahren, die Reproduktionsrate bei 1.33 Kindern pro Frau. Das Bruttoinlandprodukt machte 2013 nach Kaufkraftparität 815 Milliarden US-Dollar aus, nach offiziellen Wechselkursen allerdings nur 514 Milliarden. Die Bruttosparquote lag bei 16.8% des BIP, die Arbeitslosigkeit bei 10.3%, und der Anteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze betrug 10.6%. Die Bruttoverschuldung stand bei 48.2% des BIP. Haupt­han­dels­part­ner ist Deutschland, gefolgt von der Tschechei, Russland und Frankreich.

Kommentare
16.04.2015 / 22:55 Georg, unabhängige redaktionsgruppen bei radio ZUSA
Falscher Beitrag – aber auch spannend
Hallo, leider ist es der falsche Beitrag. Könnt Ihr den Jörimann noch hochladen? Aber der "falsche" Beitrag ist auch sehr hörenswert... Danke Georg